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4. Theoretische Grundlagen

4.2 Früherkennung und Prävention

4.2.3 Bestehende Verfahren der Früherkennung psychischer Störungen im Vorschulalter

4.2.4.4 Bestehendes präventives Potenzial im Vorschulalter

Es bleibt festzuhalten, dass durch die drei in Deutschland bestehenden institutionellen und standardisierten Angebote ein Teil der auffälligen Kinder, sowohl somatisch, pädagogisch als auch psychisch, erfasst wird. Dennoch werden durch Lücken in der Frequentierung sowie methodische Lücken (z.B. unspezifische Ansätze) auch viele dieser Kinder bis zur Einschu-lung nicht erkannt. Folglich werden die betroffenen Eltern nicht frühzeitig, noch im symptom-armen Stadium, an das Versorgungssystem verwiesen, um frühzeitig Hilfen zu initiieren, be-vor sich psychische oder psychosoziale Beeinträchtigungen manifestieren konnten.

Der Kindergarten stellt ein durch Fachkräfte begleitetes hoch frequentiertes Angebot für Kinder ab dem dritten Lebensjahr dar, auf Wunsch der Eltern auch schon vorher. Das Fach-personal, meistens Erzieherinnen, erlebt die Kinder täglich und für mehrere Stunden. Dieser enge Kontakt erlaubt es, durch Beobachtung der sozialen Interaktion der Kinder sowie den eigenen Kontakt auffälliges Verhalten zu erkennen. Dies stellt die große präventive Chance im Rahmen dieses Angebotes dar. Der Auftrag des Kindergartens ist die Betreuung, Erzie-hung und zukünftig auch Bildung der Kinder; er ist jedoch zu keinem Zeitpunkt ein Untersu-chungssetting. Entsprechend sind die dort arbeitenden Fachkräfte nicht speziell für das Er-kennen psychischer Störungen geschult oder fachlich dafür qualifiziert. Gemäß dem Arbeits-auftrag ist eine ausschließlich pädagogische Perspektive auf die Kinder und deren Probleme vorgesehen. Ab wann ein Problem abseits der Pädagogik auch psychisch bzw. psychiatrisch relevant wird, kann demnach kaum oder nur schwer eingeschätzt werden. Insofern können Krankheitsbilder dort erst erkannt werden, wenn sie die pädagogische Arbeit beeinträchtigen.

Neben diesem Problem erreicht der Kindergarten nicht alle Kinder, da zwar ein gesetzlicher Anspruch nach dem dritten Lebensjahr besteht und eine Ausweitung auch vor dem dritten Lebensjahr ab 2013 im Gespräch ist, die Annahme dieses Angebots durch die Eltern jedoch

freiwillig ist. Wie in Kapitel 4.2.3.1 dargestellt, nimmt zwar ein großer Anteil der Eltern die-ses Angebot wahr, jedoch gibt es empirische Belege, dass gerade Eltern mit Hochrisikokin-dern einen großen Teil der Nichtteilnehmenden ausmachen. Das geplante Betreuungsgeld, das Eltern erhalten sollen, die ihr Kind selbst betreuen, anstatt den Kindergarten zu frequentieren, wird die Zahl der Nichtteilnahmen voraussichtlich noch weiter ansteigen lassen. Gerade für ökonomisch schlechter gestellte Eltern wird diese neue Option attraktiv erscheinen, da nun die Möglichkeit besteht, statt Geld für die Kinderbetreuung im Rahmen des Kindergartens ausgeben zu müssen, durch eine Nichtteilnahme nicht nur finanzielle Mittel zu sparen, son-dern sogar Einnahmen zu erhalten. Da gerade ökonomisch schlechter gestellte Familien auf-grund niedriger Ressourcen eine Risikogruppe für Verhaltensauffälligkeiten darstellen, birgt der Ansatz des Betreuungsgeldes die Gefahr, die Teilnahme gerade derjenigen Kinder am Kindergarten zu verringern, die von diesem Angebot potenziell am meisten profitieren.

Die Kindervorsorgeuntersuchung stellt eine Anzahl kurzer standardisierter medizinischer Untersuchungen dar, welche bis zum 10. Lebensjahr verortet sind. Wo der Kindergarten die Kinder hochfrequent über einen längeren Zeitraum erlebt, sind die U-Untersuchungen ver-gleichsweise kurz und in größeren Abständen etabliert. Eine Beobachtung der sozialen Inter-aktion und der damit verbundenen Auffälligkeiten ist daher nur begrenzt in der Laborsituation der jeweiligen Untersuchung möglich. Anders als im vorangegangenen Angebot zielen die U-Untersuchungen darauf ab, Risikofaktoren für eine normative Entwicklung aufzuzeigen und die Eltern bei Bedarf über mögliche Interventionen aufzuklären und zu beraten. Die untersu-chenden Pädiater sind speziell für die Diagnose entwicklungsrelevanter Auffälligkeiten im Kindesalter geschult. Spezialisten für die Diagnose von psychischen Störungen können sie jedoch aufgrund ihres breit gefächerten Aufgabenspektrums nicht sein (unspezifische Präven-tion). Wie in Kapitel 4.2.3.2 ausführlicher dargelegt, deuten verschiedene Studien darauf hin, dass ein bedeutender Teil psychisch auffälliger Kinder nicht frühzeitig durch die Kindervor-sorgeuntersuchungen erkannt werden. Die Vermutung liegt nahe, dass dies neben den bereits angesprochenen Faktoren auch darin begründet liegt, dass die Kindervorsorgeuntersuchungen wie auch der Kindergarten freiwillige Angebote darstellen und dadurch nicht alle Kinder er-reicht werden. Wie beim Kindergarten setzen sich die Nichtteilnehmer zu einem großen Teil aus den Kindern zusammen, die der Hochrisikogruppe für psychische Störungen zuzurechnen sind.

Die Schuleingangsuntersuchung ist, zumindest in den meisten Bundesländern, das einzig verpflichtende Angebot, das alle Kinder vor der Einschulung erreicht. Sie stellt allerdings eine einmalige, auf 30 Minuten beschränkte Untersuchung dar, in der eine große Bandbreite von schulrelevanten Fähigkeiten abgefragt werden soll. Etwaige psychische Störungen und Auf-fälligkeiten sollen zwar auch abgeklärt werden, eine gezielte spezifische Methodik zur Erfas-sung gibt es jedoch nicht. Die subjektive Einschätzung der untersuchenden Ärzte ist daher oft die einzige Möglichkeit, die psychische Konstitution der Kinder zu beurteilen. Der Untersu-chungscharakter mit minimalen zeitlichen Ressourcen in einer Laborsituation erschwert wie auch bei den U-Untersuchungen zusätzlich eine Beobachtung und Einschätzung des kindli-chen Verhaltens.

Das bestehende Netz zur Prävention psychischer Auffälligkeiten beinhaltet regelmäßige ärztliche Untersuchungen (Kindervorsorgeuntersuchungen), ein hochfrequentes pädagogi-sches Betreuungsangebot zur Unterstützung des familiären Systems (Kindergarten) und eine abschließende ärztliche Einschätzung der Entwicklung und Schulfähigkeit (Schuleingangsun-tersuchung). Trotz dieses flächendeckenden Systems wird aus verschiedenen Gründen ein erheblicher Teil der von AD(H)S betroffenen Kinder nicht vor der Schulzeit erkannt. Die Vorschulzeit – eine Zeit, in der die Umweltbedingungen in der Regel noch einen geringen Nährboden für Chronifizierungstendenzen aufweisen (zumindest im Vergleich zu der Zeit nach der Einschulung), in der sich störungsbedingte problematische familiäre Interaktionen in der Regel noch nicht verfestigen konnten und in der bei Bedarf interveniert werden kann, be-vor sich psychische und/ oder psychosoziale Beeinträchtigungen entwickelt haben – ver-streicht in diesen Fällen ungenutzt. Das bestehende präventive Angebot hat demnach noch Optimierungspotenzial und -bedarf, um den Anteil früh Erkannter mit dem Ziel zu erhöhen, Betroffene und deren Eltern frühzeitig und zielgerichtet dem Hilfsangebot zuzuführen, um eine bestimmte gesundheitliche/ psychische Schädigung zu verhindern, weniger wahrschein-lich zu machen oder zu verzögern (Leppin 2004).

Die Fragestellungen dieser Studie können aufgrund der unspezifischen Ausrichtung der drei Institutionen sowie den ökonomischen und strukturierten Vorgaben nicht beantwortet werden. Durch die unspezifische Ausrichtung der Institutionen sowie der jeweiligen Metho-dik ist keine nach den gängigen Leitlinien und Klassifikationssystemen adäquate Diagnose einer AD(H)S möglich, was jedoch eine der grundlegenden Anforderungen an eine effektive Prävention darstellt (vgl. Tröster 2009). Aus diesem Grund wurde zur Beantwortung der zent-ralen Fragestellung nach der Effektivität einer Früherkennung der AD(H)S ein Modellprojekt evaluiert, das sich konkret auf psychische Störungen fokussiert und dadurch eine leitlinienna-he Diagnostik zulässt. Durch die Anbindung an das besteleitlinienna-hende System der Schuleingangsun-tersuchung werden zudem alle Kinder einer Alterskohorte erreicht (universelle Prävention), und so einer Vorselektion von potenziellen Probanden vorgebeugt. Auf das »Modellprojekt zur Früherkennung psychischer Störungen im Vorschulalter« wird im Folgenden ausführli-cher eingegangen.