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Der Abschnitt besteht aus drei Teilen, in denen Hegel sich mit den empirischen Wissenschaften auseinandersetzt. In der Hegelfor-schung bleibt der Abschnitt weitgehend unberücksichtigt, weil sein Inhalt aus naturwissenschaftlicher Perspektive als veraltet gilt.

Dieses Schicksal teilt Hegel in dieser Beziehung mit vielen anderen Philosophen seit Aristoteles, deren Interesse nicht nur der Philoso-phie, sondern auch den empirischen Wissenschaften galt. Ob das in diesem Zusammenhang gern geäusserte Verdikt, dieses oder jenes sei nur noch von historischem Interesse, ansonsten aber nicht mehr relevant, berechtigt ist, sollte jedoch kritisch beurteilt werden. Was aus der Perspektive der empirischen Wissenschaften überholt und daher irrelevant ist, kann aus philosophischer Perspektive durchaus von bleibender Bedeutung sein. Hegels Anspruch war ja nicht, einen Beitrag zu den empirischen Wissenschaften zu liefern, sondern Gestalten des Geistes zu betrachten.

Der Abschnitt über die beobachtende Vernunft behandelt zu-nächst Themen aus den Naturwissenschaften (a. Beobachtung der Natur), dann aus der Psychologie (b. Die Beobachtung des Selbst-bewusstseins in seiner Reinheit und seiner Beziehung auf äussere Wirklichkeit; logische und psychologische Gesetze) und schliesslich aus der Medizin (c. Beobachtung der Beziehung des Selbstbewusst-seins auf seine unmittelbare Wirklichkeit; Physiognomik und Schädellehre).

Werfen wir einen Blick auf den ersten Satz des Abschnitts über die Beobachtung der Natur.

Wenn das gedankenlose Bewusstsein das Beobachten und Er-fahren als die Quelle der Wahrheit ausspricht, so mögen wohl seine Worte so lauten, als ob es allein um ein Schmecken, Rie-chen, Fühlen, Hören und Sehen zu tun sei; es vergisst in dem Eifer, womit es das Schmecken, Riechen usf. empfiehlt, zu sagen, dass es in der Tat auch ebenso wesentlich den Gegenstand dieses Empfindens sich schon bestimmt hat und diese Bestimmung ihm wenigstens soviel gilt als Jenes Empfinden. Es wird auch

sogleich eingestehen, dass es ihm nicht so überhaupt nur ums Wahrnehmen zu tun sei, und [wird] z.B. die Wahrnehmung, dass dies Federmesser neben dieser Tabaksdose liegt, nicht für eine Beobachtung gelten lassen. Das Wahrgenommene soll we-nigstens die Bedeutung einesAllgemeinen, nicht einessinnlichen Diesenhaben. (PhG 187-188)

Beobachtung und empirische Forschung werden hier in keiner Weise devalviert, sondern in den Kontext einer Theorie der Er-kenntnis gestellt. Zu meinen, dass Beobachten und Erfahren «die Quelle der Wahrheit» (Hervorhebung WR) seien, ist eine Gestalt des «gedankenlosen Bewusstseins», also jener Stufe des sinnlichen Diesen – und genau dies spricht Hegel am Schluss des Abschnitts an: «Das Wahrgenommene soll wenigstens die Bedeutung eines All-gemeinen, nicht eines sinnlichen Diesen haben.» Beobachtungen als blosse sinnliche Wahrnehmungen besitzen keinen wissenschaft-lichen Wahrheitsgehalt und sind so irrelevant wie der Satz, dass

«dass dies Federmesser neben dieser Tabaksdose liegt» (PhG 188) - für Hegel ist dies keine wissenschaftliche Beobachtung, denn wis-senschaftliche Beobachtung geht auf das Allgemeine. Und nicht von ungefähr erscheint hier wieder der Begriff des Gesetzes, dessen Wahrheit die Beobachtung allerdings nicht an und für sich selbst zu erfahren vermag:

Dem beobachtenden Bewusstsein ist die Wahrheit des Gesetzes in der Erfahrung als in der Weise, dass sinnliches Sein für es ist;

nicht an und für sich selbst. (PhG 192)

Wie wird nun das, was dem beobachtenden Bewusstsein in der Erfahrung nur «für es» ist, «an und für sich selbst»? Wie gelangt Beobachtung über das gedankenlose Sammeln von empirischen Da-ten zum Begriff? Hegels überraschende Antwort: Das Bewusstsein als Vernunft agiert instinktiv!

Der Vernunftinstinkt dieses Bewusstseins geht, weil das Gesetz zugleich an sich Begriff ist, notwendig, aber ohne zu wissen, dass er dies will, selbst darauf, das Gesetz und seine Momente zum Begriffe zu reinigen. (PhG 194)

Leitend in diesem Prozess der wissenschaftlichen Beobachtung ist der Instinkt, und zwar der «Vernunftinstinkt», der im Gesetz das Vernünftige, den Begriff erfasst, das heisst, die empirischen Daten zum Begriff «reinigt». Er will dies, ohne zu wissen, dass er will -weil er ja Instinkt ist. Die Wahrheit dessen, was Beobachtung und Experiment vermögen, ergibt sich als das Resultat eines Prozesses der Reinigung, einer Reinigung, die das Gesetz als «reines Gesetz», also befreit von allem Sinnlichen, erscheinen lässt und mithin als einfachen Begriff:

Als die Wahrheit dieses versuchenden Bewusstseins sehen wir das reine Gesetz, welches sich vom sinnlichen Sein befreit; wir sehen es alsBegriff, der im sinnlichen Sein vorhanden, aber in ihm selbständig und ungebunden sich bewegt, in es versenkt frei davon undeinfacherBegriff ist. (PhG 195-196)

Dass in den Kontext einer Betrachtung der empirischen Wissen-schaften, die quantitative Methoden anwendet, auch die Thematisie-rung der Zahl und der Mathematik gehört, liegt auf der Hand. Die Zahl gehört zum Äusseren des organischen Ganzen. Sie wird als

«ruhende» Bestimmtheit der «ruhenden» Allgemeinheit. Ruhend, weil sie von der wirklichen Bewegung absieht und abstrahiert - Be-wegung und Beziehung sind «erloschen».

Denn die Zahl ist eben die gänzlich ruhende, tote und gleich-gültige Bestimmtheit, an welcher alle Bewegung und Beziehung erloschen ist und welche die Brücke zu dem Lebendigen der Triebe, der Lebensart und dem sonstigen sinnlichen Dasein abgebrochen hat. (PhG 217)

Des Weiteren impliziert diese phänomenologische Beschreibung der Zahl zweierlei: Erstens ist die Reinigung der Beobachtung von allem Sinnlichen keine Abstraktion, die nur die Quantität betrachtet.

Die Zahl ist nicht der Begriff. Und zweitens wird in dieser Perspek-tive das Sinnliche, insofern es den Inbegriff des Lebendigen dar-stellt, gewissermassen nobilitiert. Der Begriff ist nicht auf Zahlen angewiesen, aber ohne Sinnlichkeit ist er nicht zu erreichen, auch wenn er sich vom Sinnlichen reinigen muss, um Begriff zu werden.

B. Die Verwirklichung des vernünftigen