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4. DISKUSSION

4.2.1 Belastung

Für Erwitte-Schmerlecke konnte eine Cariesbelastung von 2,2% bestimmt werden; dieser Wert ist als äußerst geringgradig zu beschreiben.

Die Erforschung nordchinesischer Skelete, welche der Neolithik zugeordnet werden konnten, ergab, dass 5,7% der Zähne eine Caries aufweisen. Dieses Ergebnis wurde von Meng et al.

(2011) mit den Ernährungsgewohnheiten der damaligen Zeit in Verbindung gebracht. Lukacs (1992) kommt zu der Erkenntnis, dass die Häufigkeit cariöser Läsionen - welche für die von ihm untersuchten Zähne aus der Bronzezeit in Harappa mit 6,8% angegeben wird - mit der Entwicklung der Nahrungsversorgung korreliert. So formuliert er, dass sowohl die steigenden Speichermöglichkeiten für Nahrung, die bessere, regelmäßige Versorgung als auch die aufwendigere Zubereitung als Gründe für die Häufung cariöser Veränderungen angenommen werden können. Diese Aussage bezieht sich logisch auf die Ätiologie der Caries als demineralisierende Zahnhartsubstanzerkrankung: Hellwig et al. (2013) führen die Frequenz der Kohlenhydratzufuhr als wichtigen Faktor für die Entstehung der Caries an. Regelmäßiger Zugang zu (kohlenhydratreicher) Nahrung führt zwangsläufig zur sukzessiv fortschreitenden Demineralisierung der Zahnhartsubstanz. Folgt man diesem Gedanken, ist zu vermuten, dass eine Agrarkultur den Anstieg der Carieshäufigkeit begünstigte.

Tatsächlich zeigt sich ein solches Bild auch in der Literatur: Esclassan et al. (2009) wiesen einer französischen Population des 12.-14. Jahrhunderts eine Cariesfrequenz von 17,5% nach. Die paläopathologische Analyse kroatischer Skelete aus dem 18. Jahrhundert ergab eine entsprechend hohe Cariesintensität an den Molaren des Oberkiefers und des Unterkiefers (26,6% beziehungsweise 28,1%). Somit litt hier sogar jeder vierte Molar unter cariösen Destruktionen, die Mundhygiene wird als mangelhaft angenommen (Malčić et al. 2011). Diese Werte liegen allesamt höher als jene, die im Rahmen dieser Arbeit ermittelt werden konnten.

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Ein möglicher Grund für die niedrigere Cariesbelastung liegt in der Methodik - manche der erwähnten Studien zählen die intravitalen Verluste in toto zu den cariösen Läsionen, da von einem Zahnverlust durch Caries ausgegangen wird. In dieser Arbeit wurden nur die tatsächlich vorliegenden cariösen Veränderungen zu den Krankheitshäufigkeiten gezählt, da auch andere Gründe für den Zahnverlust denkbar sind; die starke parodontale Schädigung vieler Alveolen oder der Verlust durch Traumata - insbesondere im Frontzahnbereich - sind als weitere Ursachen für den intravitalen Zahnverlust anzunehmen.

Weiterhin ist die Carieshäufigkeit abhängig von der Epoche, in welcher die untersuchten Gruppen bestattet wurden. Lagen bei Meng und Lukacs niedrige Frequenzen von 5,7% und 6,8% vor, verdreifacht sich diese Zahl bei der Betrachtung jüngerer Populationen, welche agrarkulturelle Prägungen aufweisen. Im Kontext dieser Untersuchungen sind die Skeletfunde aus Erwitte-Schmerlecke als die ältesten einzustufen und weisen vermutlich aufgrund einer wenig cariogenen Ernährung diesen niedrigen Wert auf. In Verbindung mit den starken abrasiven Veränderungen kann so auf eine kohlenhydratarme, proteinreiche Ernährung der Bevölkerung geschlossen werden. Schultz (1982) und Lendeckel (1990) beschreiben die Abrasion als Ursache für das geringe Auftreten von Fissurencaries, da das occlusale Relief mit feinen Fissuren schlicht nicht mehr vorhanden ist. Alt (1987) ist gegenteiliger Auffassung - die vertikale Abrasion führt zum Verlust der Kontaktpunkte. Somit kommt es seiner Meinung nach zum Hängenbleiben von Nahrungsresten in den vergrößerten approximalen Lücken; die Cariesbildung wird begünstigt. Dieser Effekt ist abhängig von der Cariogenität der verfügbaren Nahrung sowie der Dauer und Häufigkeit der Impaktierung. Zusätzlich muss der Speichel als modulierender Faktor bedacht werden (Rost 1953): Eine Remineralisation entmineralisierter Zahnhartsubstanz ist nur über ein elektrolytführendes Lösungsmittel möglich; die genauen Inhaltsstoffe des Speichels sowie deren Funktionen sind Bestandteil der aktuellen Forschung (Ahmadi-Motamayel et al. 2013; Dogra et al. 2013; Hegde et al. 2013; Guo und Shi 2013).

Zusätzlich zu diesem Hintergrund traf bereits Sauerwein (1981) die Aussage, dass der häufige Verzehr faserreicher, kauintensiver Speisen zur Anregung der Speichelbildung und einer so erhöhten Wirksamkeit des körpereigenen Schutzmechanismus führt.

Caglar, Görgülü und Kuscu stellten bei der Untersuchung byzantinischer Kinderskelete aus dem 7.-10. Jahrhundert nach Christus eine ebenfalls geringe Cariesbelastung fest. Sie kommen zu der Schlussfolgerung, dass dieses Ergebnis in Verbindung mit der - in diesem Fall sehr geringen Abrasion - auf eine Gemeinschaft von Fischern hindeutet (Caglar et al. 2016). Eine

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Betrachtung der geographischen Lage der Megalithnekropole von Schmerlecke offenbart, dass der nächste größere Flusslauf in der Nähe der ehemaligen vermuteten Siedlungsstätten circa neun bis zehn Kilometer nördlich liegt. Im Kontrast zur Studie von Caglar et al. (2016) liegen die Siedlungsareale also nicht direkt am Wasser. Dieser Umstand lässt die Vermutung zu, dass es sich bei der Population von Erwitte-Schmerlecke nicht um eine reine Fischergemeinschaft gehandelt hat. Die gelegentliche Ergänzung des Speiseplans durch den Konsum von Fisch ist indes denkbar.

Littleton und Frohlich (1993) vergleichen Skelete, welche im Großraum des arabischen Golfes geborgen wurden. Sie lassen sich unterschiedlichen Populationen mit ebenso unterschiedlichen geographischen Lebensräumen (Inselgruppen, Ost-Arabien, Oman) zuordnen und wurden auf Abrasionen, Caries, Zahnstein, Abszesse und intravitale Zahnverluste hin untersucht. Als Ergebnis dieser Untersuchung kommen die Autoren zu dem Schluss, dass es vier Muster der Zahnerkrankungen gibt, die auf verschiedene Ernährungsgewohnheiten hinweisen. Im Vergleich mit der Population von Erwitte-Schmerlecke ist insbesondere das zweite vorgestellte Muster von Interesse: Mittelschwere Abrasionen (teilweise mit Abszedierung) und Zahnsteinbefall, wenige cariöse Läsionen sowie eine niedrige Rate intravitaler Zahnverluste sprechen laut Littleton und Frohlich (1993) für das Vorherrschen einer pastoralen Tierhaltung, Fischkonsum und Landwirtschaft in der entsprechenden Population. Die in Erwitte-Schmerlecke geborgenen Zahnfunde weisen in ihrer Gesamtheit ein sehr ähnliches Erkrankungsmuster auf; daraus ergibt sich der Schluss, dass eine Form der Tierhaltung kombiniert mit einem landwirtschaftlichen Anbau stattgefunden hat.

Greth (1938) konnte einen signifikanten Unterschied zwischen der Land- und Stadtbevölkerung bei der Untersuchung römischstämmiger Skelete am Niederrhein feststellen; die Untersuchung der Caries pro Kopf ergab bei der ruralen Bevölkerung (25,0%) einen weniger als halb so hohen Wert wie für die entsprechende Stadtbevölkerung (62,8%).

Pedersen (1939) formuliert ein ähnliches pro-Kopf-Ergebnis nach der Analyse von Skeletfunden aus Grönland, welches er in ein vorkolonisatorisches (0,4%), ein stark zivilisiertes Westgrönland (86,9%) und ein wenig zivilisiertes Ostgrönland (46,6%) unterteilt. Diese Studien untermauern die These Sauerweins (1981), welche Lendeckel (1990) übernimmt: „Je ursprünglicher und naturverbundener eine Menschengruppe lebt, umso geringer ist der

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Kariesbefall.“ Demzufolge handelt es sich bei der Population von Erwitte-Schmerlecke um eine Gruppe von Menschen, die als naturverbunden beschrieben werden können.