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Beispiele rechtlicher Bedeutung subjektiver Auffassungen

Subjektive Vorstellungen und Deutungen im objektiven Recht

I. Der objektive Charakter der Rechtsordnung und Beispiele einer rechtlichen Relevanz von Selbstauffassungen

2. Beispiele rechtlicher Bedeutung subjektiver Auffassungen

Und doch liegen die Dinge nicht so einfach. Es lassen sich leicht Beispiele fin-den, wo die rechtliche Entscheidung der scheinbar paradoxen Maxime folgt, sich abendländischen und in einem generell weniger forcierten Individualismus, s. 77 Kawashima, aaO. Die Bedeutung von Individualitätsvorstellungen und den damit verbundenen Formen der Selbstdurchsetzung erweist sich somit auch in der Frage der Konfliktaustragung. Die vorherr-schende rechtswissenschaftliche richterzentrierte Sichtweise trifft aber auch in westlichen Indu-striegesellschaften die tatsächlich praktizierte Art der Geschäftsabwicklung und der Konfliktlösung nicht genau, s. St. Macauly, American Sociological Review 28 (1963), 55 ff.; vgl. noch aus ethno-logischer Sicht R. Redfield-. Primitive Law, in: P. Bohannan (ed.): Law and Warfare, 1975, 3 ff. - In jüngster Zeit hat unter dem Stichwort der „Konfliktmittlung" der Versuch, zu einvernehmlichen Lösungen von Konflikten zu kommen, in der Verwaltungswissenschaft wie in der Ver-waltungsrechtswissenschaft neue Aufmerksamkeit gefunden, s. W Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hg.): Konfliktbewältigung durch Verhandlungen, 2 Bde., 1990.

2 Trotz der eben (Fn. 1) angedeuteten Modifikationen ist klar zu sehen, daß die Einrichtung von Positionen mit monopolisierter Entscheidungsgewalt über das, was für Recht gilt, ein wesent-liches, wenn nicht das Kriterium dafür ist, daß vernünftigerweise von einer Äccfcordnung ge-sprochen wird - und nicht nur von Brauch, Sitte und ähnlichem, vgl. aus ethnologischer Sicht /?

Bohannan-, The Differing Realms of the Law, in: ders. (ed.), Law (Fn. 1), 43 ff.; ders.: Law and Legal Institutions, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, 1968, vol. 9, 73 ff.; histo-risch stellte sich das beispielsweise im Prinzip der authentischen Interpretation im Codex Justinia-nus dar: Si quid vero, ut supra dictum est, ambiguum fuerit visum, hoc ad imperiale culmen per iudices referatur et ex auctoritate Augusta manifestetur, cui soli concessum est, leges et condere et interpretari (1,17,2,21); rechtstheoretisch ist das in H. L.A. Harts „sekundären" Normen, die im Zusammenspiel mit den primären Normen erst eine Rechtsordnung entstehen lassen, ausge-drückt, s. H. L.A. Hart-. The Concept of Law, 1961, bes. 46 ff., 77 ff.

3 H. Keben-, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, 2 f.; die Kelsensche Formulierung wurde nur um einige zeitgenössische Ausdrücke geändert.

Der objektive Charakter der Rechtsordnung 3

an den Deutungsleistungen und Selbstauffassungen der Regelungsunterworfenen zu orientieren, oder wo dies zumindest gefordert wird. Gerade in jüngerer Zeit mußte man die Erfahrung machen, daß das Beispiel des terroristischen Mordes, das von Kelsen offenbar in der Absicht größtmöglicher Uberzeugungskraft ge-wählt wurde, so zwingend nicht ist. Die terroristischen Aktionen und die Ausein-andersetzungen in den und um die sich darauf beziehenden Strafverfahren haben deutlich gemacht, daß die rechtliche Be- und Verarbeitung solcher unter dezi-dierten politischen Selbstdefinitionen begangener Taten in mindestens drei Hinsichten problematisch ist.

Einmal wird die Anwendbarkeit des „normalen" Strafrechts in Frage gestellt, die unser Beispiel doch für so selbstverständlich hält. Nicht immer muß dies so ausdrücklich geschehen, daß die Anwendbarkeit des Strafrechts wegen des Selbst-verständnisses der Täter abgelehnt und die Heranziehung von Kriegsrecht gefor-dert wird oder daß Bankraub als Enteignung definiert wird

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. Hinter solchen Forderungen, die dem „normalen" Juristen wie Bürger - „normal" im Sinne von sich innerhalb des üblichen Toleranzbereichs der Auffassungen haltend - als ab-surd oder wenigstens überspitzt erscheinen, wird jedenfalls der Ernst der Frage deutlich, ob überhaupt und falls ja, mit welchem Recht (und das heißt auch: mit welcher Begründung) Handlungen an Maßstäben gemessen werden, welche den Akteuren völlig fremd sind

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. Die verfassungsrechtlichen, strafrechtlichen und

4 So wurde im „Groenewold-Prozeß" im Zusammenhang mit dem Ausdruck grundsätzlicher Legitimationszweifel davon gesprochen, Bankraub als „Enteignung" zu definieren. Ungeachtet der rechtlichen Qualifizierung ist die Selbstinterpretation solcher Taten real bedeutsam, vgl. dazu die Stellungnahme aus dem Blickwinkel der politischen Philosophie durch H. Lübbe, Der Spiegel Nr. 35 vom 28. 8.1978, 154 (154), der es für ein politisch folgenreiches Verkennen des Terrors hält, ihn als bloße Kriminalität zu charakterisieren. Es sei wesentlich, zu erkennen, daß das Selbstverständnis der Terroristen bei einem Banküberfall ein politisches sei. - Eine sozial- und polithistorisdie Skizze zur Entstehung politischer Kriminalität, genauer, der Differenzierung von

„politisch motivierter" und „normaler" Kriminalität im Zuge der effektiven Gewaltmonopolisie-rung durch den Staat bietet P Brückner. Politisch motivierte Kriminalität - echte Kriminalität, in:

W. de Boor (Hg.): Politisch motivierte Kriminalität - echte Kriminalität, 1978, 5 ff.

' Vermittelt über das Erfordernis der persönlichen Schuld wird jedenfalls im Strafrecht den sozialethischen Vorstellungen des Täters Rechnung getragen. Die Verhängung von Kriminalstrafe hängt ab von der Selbstinterpretation der Taten durch den Täter, wobei ein bestimmter - im ein-zelnen umstrittener - Bezug auf normativ allgemeingültige Bewertungen bestehen muß. Beson-ders fiir das Strafrecht gilt, daß es „keine bloß heteronome (den Rechtsgenossen fremd gegenüber-tretende)" Ordnung sein kann, sondern „sich aus ihrer eigenen (seil, der Rechtsgenossen) Rechts-vernunft - und zwar aller Rechtsgenossen - mitkonstituieren" muß. Es „setzt die konstitutive Teilhabe der freien und gleichen Rechtsgenossen voraus", so M. Köhler, Anmerkung zu BGH, J Z 1980, 238 (240). Grundrechtlich aus Art. 4 Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht dies in E32, 98 (108 f.) begründet: „Wer sich in einer konkreten Situation durch seine Glaubensüberzeu-gung zu einem Tun oder Unterlassen bestimmen läßt, kann mit den in der Gesellschaft herrschen-den sittlichen Anschauungen und herrschen-den auf sie begründeten Rechtspflichten in Konflikt geraten.

Verwirklicht er durch dieses Verhalten nach herkömmlicher Auslegung einen Straftatbestand, so ist im Lichte des Art. 4 Abs. 1 GG zu fragen, ob unter den besondern Umständen des Falles eine Bestrafung den Sinn staatlichen Strafens überhaupt noch erfüllen würde Ist diese Entschei-dung (seil, zur Straftat) auch objektiv nach den in der Gesellschaft allgemein herrschenden Wert-vorstellungen zu mißbilligen, so ist sie doch nicht mehr in dem Maße vorwerfbar, daß es

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rechtspolitischen Erörterungen zum Problem der sogenannten „Überzeugungstä-ter"7 zeigen, daß hier jedenfalls ein ernstliches Problem der Rechtsordnung liegt.

Die einzelnen Auffassungen zum Problem interessieren an dieser Stelle weniger.

Immerhin kann mindestens eine gewisse Relevanz der Selbstdefinitionen nicht abgestritten werden, wie sie etwa das Bundesverfassungsgericht betont, wenn es von einem „allgemeinen Wohlwollensgebot gegenüber Gewissenstätern" spricht8. Reproduziert wird diese Problematik der Gesinnungstäter auf der Ebene der Verteidigung. Sowohl die Rolle des Verteidigers von politischen Uberzeugungstä-tern überhaupt wie der Inhalt einer zulässigen Verteidigung sind, wie bekannt, heftig umstritten9.

rechtfertigt wäre, mit der schärfsten der Gesellschaft zu Gebote stehenden Waffe, dem Strafrecht, gegen den Täter vorzugehen."

6 Bei ethnisch-kulturell gemischten Populationen wird dieses Problem besonders virulent. In der Bundesrepublik sind entsprechende Fälle bei Gastarbeitern aufgetreten, s. sogleich unten bei und in Fn. 19. Neben solch geforderter und zum Teil auch bewährter Anpassung des Rechts im Einzelfall gibt es sogar die grundsätzliche Variation der Rechtsordnung selbst mit der ethnischen Gruppe und deren Selbstverständnis! - : in Staaten mit mehreren Rechtsordnungen, wo es ein Nebeneinander von sei's zentralstaatlichem Recht (über die ehemaligen Kolonialmächte vermit-telten europäischen Ursprungs) und partikularen Traditionsrechten, sei's von verschiedenen par-tikularen Rechten, besonders auch solchen religiöser Einfärbung, gibt. Die Anwendbarkeit ei-ner bestimmten Rechtsordnung steht hier im Zusammenhang mit dem Selbstverständnis der Betroffenen, besonders deutlich bei religiösen Rechten. Hier treten natürlich Kollisionsprobleme auf, zu deren Lösung verschiedene Kriterien herangezogen werden müssen, nicht nur das Selbstverständnis; s. zu diesem Problemkreis K. Wähler. Interreligiöses Kollisionsrecht im Bereich privatrechtlicher Rechtsbeziehungen, 1978. Uber die Beziehungen des traditionellen bodenstän-digen Rechts zu den fremden Rechtsordnungen in Afrika s. z. B. A. N. Alott, Sociologus, Neue Folge 11(1961), 115 ff.; zu Rezeptionsprozessen in Afrika s. B.-O. Bryde: The Politics and Sociology of African Legal Development, 1976.

7 Aus der Literatur: K. Peters: Überzeugungstäter und Gewissenstäter, in: FS H. Mayer, 1966, 257 ff; G. Grejfenius: Der Täter aus Uberzeugung und der Täter aus Gewissensnot, 1969;

P. Bockelmann: Zur Problematik der Sonderbehandlung von Uberzeugungsverbrechern, in: FS H. Welzel zum 70. Geburtstag, 1974, 543 ff; U. Bopp: Der Gewissenstäter und das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 1974; G. Beckstein: Der Gewissenstäter im Strafrecht und Strafprozeßrecht, Diss. jur. 1975; U. EberP. Der Überzeugungstäter in der neueren Rechtsentwicklung, 1975;

B. Schünemann: Politisch motivierte Kriminalität, in: W. de Boor (Hg.), Kriminalität (Fn.4), 50 ff. mit Darstellung der Diskussion und weiteren Nachweisen. Die deutsche Diskussion hat durch die Erfahrung staatlich organisierten Unrechts besonderen Ernst gewonnen. In der älteren Diskussion vor 1933 konnte beispielsweise Erik Wolf. Verbrechen aus Überzeugung, 1927, noch ernstlich die Frage stellen, ob eine Stellungnahme gegen Staat und Gesetz eine sittlich geforderte Position sein könne, 7. In den USA haben die Auseinandersetzungen um den Vietnam-Krieg die Diskussion wesentlich gefördert. Hauptstichwort hier ist „civil disobedience", verstanden als Un-gehorsam gegenüber einem bestimmten Gesetz aufgrund einer Verpflichtung zu politischen oder moralischen Prinzipien, und zwar ohne daß die formale Gültigkeit des Rechts bestritten würde, vgl. A. M. Bickel: The Morality of Consent, 1975, 99; /. Rawls: Eine Theorie der Gerech-tigkeit, Taschenbuchausgabe 1979, 399 ff; aus der deutschen Diskussion zuletzt M. Herdegen:

Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 1989, 192 ff. mit Nachweisen auf die aktuelle deutsche Debatte (193 Fn. 6).

8 BVerfGE 23, 127 (134); s. auch 32, 98 (bes. 108 f); vgl. weiter BayObLG, NJW 1980, 2424 f.; OLG Hamm, NJW 1980, 2425 (2425 f.).

9 Dazu noch unten 2. Teil, Kap. 11, bei und in Fn. 35 ff.

Der objektive Charakter der Rechtsordnung 5 Schließlich wird die Frage der politischen Motivation von Straftaten auch im zwischenstaatlichen Auslieferungsrecht wichtig, weil herkömmlicherweise Taten, die nur gegen eine bestimmte politische Ordnung und die unter deren Selbstver-ständnis definierten Rechtsgüter gerichtet sind, von anderen Staaten nicht als Straftat anerkannt werden und weil dementsprechend die Auslieferungsvereinba-rungen zwischen den Staaten regelmäßig politische Delikte ausnehmen10. Pro-bleme entstehen insbesondere dann, wenn politische Motive zu Taten führen, die zugleich nicht spezifisch politische Tatbestände erfüllen. Ist das Kriterium einer

„politischen Straftat" allein das Selbstverständnis des Täters oder kommt es viel-mehr ausschließlich auf die objektive Qualität der Tat an, das heißt auf das ver-letzte Rechtsgut?11 Schließlich ist auch an verschiedene vermittelnde Positionen zu denken. Der Begriff des „politischen Delikts" mit seinen verschiedenen Aus-legungsmöglichkeiten12 umfaßt in nuce die grundlegende Problematik.

Speziell im Strafrecht wird der Motivation und der Tatinterpretation des Täters besondere Aufmerksamkeit gezollt. Das Problem der Gewissens- und Uberzeu-gungstäter wird mit den subtilen Mitteln der Strafrechtsdogmatik unter Ausnut-zung der verschiedenen Stufen der strafrechtlichen Zurechnung (Handlungsauf-bau) bearbeitet13. Gerade das Strafrecht zeigt auch in weniger außergewöhnlichen Fällen eine starke Berücksichtigung von Selbstinterpretationen. Es ist im Norm-bestand wie in seiner Dogmatik von sogenannten subjektiven Elementen14 durchzogen. Auf der Ebene des Tatbestandes15, der Rechtswidrigkeit und nicht zuletzt der Schuld, wird in verschiedener Weise auf Deutungsleistungen des Tä-ters abgestellt. Die Bestimmung des relativen Gewichts dieser subjektiven Inter-pretationen und Situationsdefinitionen ist eine Hauptaufgabe der Strafrechtsdog-matik. Beispielhaft sei erinnert an die strafrechtliche Bedeutung des Irrtums: Im Kern geht es dabei um die handlungsbegleitende Vorstellung des Täters, Unrecht zu tun16. Weiter sei pauschal hingewiesen auf die Diskussionen um das relative

1 0 Vgl. T. Stein, EuGRZ 1977, 59ff.

11 Die seinerzeit in der Auslieferungssache R. Pohle ergangenen einander widersprechenden Urteile des OLG Athen und des Areopag leiten sich aus der subjektiven bzw. der objektiven Aus-legung ab, s. einerseits EuGRZ 1977, 21 ff. (OLG Athen), 18 ff. (Areopag), dazu auch T. Stein, aaO. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Entscheidung zur Verfassungsbeschwerde von R. Pohle mit markigen Worten gegen eine „subjektive" Auslegung ausgesprochen, E46, 214 (221 f.): „... erscheint abwegig". - Es gibt gute Gründe gegen eine rein subjektive Fassung des Begriffs des politischen Delikts, abwegig dürfte ein solches Verständnis indes nicht sein.

1 2 Dazu T. Stein, aaO.; D. Franke: Politisches Delikt und Asylrecht, 1979; Ch. Gusy: Asyl-recht und Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland, 1980, 118 ff., jeweils m. w. N.

1 3 S. dazu m.w. N. B. Schünemann, Kriminalität (Fn.7).

Für eine Untersuchung verschiedener Sprachgebrauchsformen von „objektiv" und „sub-jektiv" in der strafrechtswissenschaftlichen Terminologie s. W Schild-, „Objektiv" und „subjektiv"

in der strafrechtswissenschaftlichen Terminologie, in: FS A. Verdross, 1980, 215 ff.

1 5 Z.B. in den sogenannten „Gesinnungsmerkmalen", dazu £. Sihmidhäuser. Gesinnungs-merkmale im Strafrecht, 1958, für eine Auflistung solcher Merkmale s. 223 ff.

1 6 S. §§ 16, 17 StGB. Auf die einzelnen Arten des Irrtums ist hier nicht einzugehen; immer-hin: Im Problem des Verbotsirrtums wird in exemplarischer Klarheit die Bedeutung der subjekti-ven Handlungsinterpretation für die rechtliche Bewertung behandelt, Beispiele für (Feinsinnig-keit evozierende) „Grenzfälle im Bereich des Verbotsirrtums" etwa bei J. Baumann, FS H. Welzel,

6 Subjektive Vorstellungen und Deutungen im objektiven Recht

Gewicht der subjektiven Deutungen des Täters bei der Abgrenzung von strafba-rem Versuch und strafloser Vorbereitungshandlung17 und von Täterschaft und Teilnahme18.

Besonders deutlich werden die Vorstellungen des jeweiligen Täters dann, wenn sie sich von den üblichen unterscheiden, beispielsweise bei ethnisch-kultureller Andersartigkeit. Ein solcher Fall lag einem Beschluß des Bundesgerichtshofs zur Auslegung des Mordmerkmals „aus niedrigen Beweggründen" in §211 Abs. 2 StGB zugrunde19. In diesem im türkischen Milieu in der Bundesrepublik spielen-den Fall hatten u. a. der Vater und der Bruder einer jungen Türkin versucht, einen Türken zu töten, welcher diese geschwängert hatte, sie aber nicht hatte heiraten wollen. Ein solches Verhalten kränkt - so die Feststellungen des Gerichts - ent-sprechend türkischen Vorstellungen die Familie des Mädchens schwer. Die männlichen Angehörigen dieser Familie sind nach überkommener türkischer Sit-te bei Strafe des Verlusts ihrer Ehre verpflichSit-tet, gegen den zur Heirat nicht be-reiten Mann mit Gewalt vorzugehen. Der Bundesgerichtshof machte klar, daß für die Qualifizierung der Beweggründe der Angeklagten als „niedrig" i. S.v. §211 Abs. 2 StGB es nicht genügt, daß ihnen die Strafwidrigkeit nach deutschem wie nach türkischem Recht bekannt war. Die konkreten in ihrer Kultur wurzelnden Anschauungen und Wertvorstellungen der Täter dürften nicht außer Betracht bleiben20. Der Begriff des „niedrigen Beweggrunds" ist demnach empirisch kon-kret unter Berücksichtigung des Selbstverständnisses des Täters zu bestimmen21. Freilich darf oder muß auch die Rechtsordnung einer solchen Berücksichtigung Grenzen setzen: Die Blutrache muß nicht als allgemeines Rechtsinstitut aner-kannt werden22. Die Anforderungen der Allgemeinheit und Gleichheit der Rechtsordnung und die Rücksicht auf die besonderen Vorstellungen des jeweili-gen Täters sind sorgfältig zu balancieren - eine Feststellung, die noch häufiger zu treffen sein wird.

Aber beileibe nicht nur im Strafrecht, wo wegen der einschneidenden und die Person so schwer und unmittelbar treffenden Folgen die Berücksichtigung von Selbstdeutungen, insbesondere unter der Geltung des Schuldprinzips, am ehesten einsehbar wird, stellt das Recht in seinen Entscheidungen auf Selbstinterpretatio-nen der RegelungsunterworfeSelbstinterpretatio-nen ab. Bekannt ist der letztlich vom Bundesverfas-sungsgericht entschiedene Lumpensammler-Fall23. Die von einem Altmaterial-1974, 533 ff.; im einzelnen s. etwa E. Schlücbter. Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht, 1983. Zum Ganzen auch noch unten Kap. 17 II, 2.

1 7 Dazu auch unter gleichem Erkenntnisinteresse wie hier H. Henkel'. Recht und Individua-lität, 1978, 61 f.

1 8 Klassisch der Badewannen-Fall, RGSt 74, 84 ff.

1 9 BGH, JZ 1980, 238, s. insbes. auch die Anmerkung von M. Köhler, 238 ff.

2(1 Für die Darstellung eines ähnlichen Falles, es ging um einen Sizilianer, s. G. Holtz, M D R 1977, 809 ff.

2 1 Vgl. M. Köhler (Fn. 19): „... Anerkennen des Wertungszusammenhangs in concreto aus den eigenen normativen Bedeutungskategorien des Subjekts ..." (240).

22 M. Köhler, aaO., 240.

2 3 BVerfGE 24, 236 ff., s. hier bes. 247 ff.; siehe dazu die das Problem einer rechtlichen

Re-Der objektive Charakter der Rechtsordnung 7

händler unter Berufung auf § 1 UWG angegegriffene Altkleidersammlung eines