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6.1 Eigenverantwortung und Selbstbestimmung

6.1.5 Beim Arztbesuch

Hier soll die Rolle der Eigenverantwortung des Kindes beim Arztbesuch näher betrach-tet werden. Eigenverantwortung heißt in diesem Fall, dass das Kind in Bezug auf sich selbst und bei Entscheidungen den eigenen Körper betreffend, in Entscheidungspro-zesse involviert werden will. Dazu gehören sich selbst der eigenen Verantwortung be-wusst zu sein, im Gespräch Fragen zu stellen, sich selbstständig nötiges Hintergrund-wissen anzueignen.

Die dafür nötige Kommunikation zwischen Ärzt*in und Kind/Jugendlichem kann nicht nur durch sprachliche Hürden wie medizinischer Fachsprache oder einem Hierarchie-gefälle zwischen den Gesprächspartner*innen erschwert werden. Generell kann die Beziehung zwischen einem Kind (mit Inter*DSD) und behandelnden Ärzt*innen von vielen positiven Aspekten wie Sympathie, Empathie und Vertrauen, aber auch von ne-gativen Aspekten wie Angst, Scham oder Misstrauen beeinflusst werden, wie es bei-spielsweise in Clara Morgens Buch »Mein intersexuelles Kind« (2013) geschildert wird.

Clara Morgen schreibt aus der Perspektive einer Mutter eines intersexuellen Kindes, Franzi, über Erinnerungen und Erlebnisse in Bezug auf Inter*DSD seit Franzis Geburt.

»Als Franzi dreizehn wurde, nahmen wir wieder Kontakt zur Klinik auf. Zu Frau Dr. K., der Endokrinologin […] hatte Franzi auf Anhieb einen guten Draht. Bei den ersten Konsultationen war ich noch dabei, später dann ließ ich die beiden allein […], sie [Die Ärztin] war immer freundlich und einfühlsam, aber nie distanzlos.« (Morgen 2013:37).

Das Zitat zeigt, dass eine harmonische Beziehung zwischen Ärzt*in und Kind bei In-ter*DSD eine entscheidende Rolle spielen kann.

In den Interviews, die ich geführt habe, hat mich dementsprechend die Meinung der Kinder und Jugendlichen dazu interessiert, wie sie ihre Beziehung zu ihren Ärzt*innen sehen. Ein wesentlicher Aspekt ist die Frage, ob die Kinder und Jugendlichen die Erklä-rungen ihrer Ärzt*innen verstehen und ob sie die Möglichkeit haben, Fragen zu stellen.

Toni, Kay, Sascha und Mika gehen hierauf sehr präzise ein, während Kim sich nur wenig dazu äußert. Bei allen ist jedoch stets die Möglichkeit da, den Ärzt*innen Fragen zu stellen und sie auch abseits eines Termins zum Beispiel telefonisch zu erreichen.

Toni weiß, dass für sie die Möglichkeit besteht, bei ihrer Ärztin und auch im Kranken-haus Fragen zu stellen. Dies nutzt sie laut eigenen Aussagen »manchmal, aber ganz

selten« (Toni. 106:106). Sie hebt an anderer Stelle noch einmal hervor, dass sie bei ihren Ärzt*innen Fragen stellen kann, um zu erfahren was passiert und dass sie das Recht hat, etwas abzulehnen.

». Aber ich weiß, dass ich nein sagen kann, das möchte ich nicht.« (Toni. 129:129).

Kay berichtet, dass sie, sofern sie Fragen hat, diese stellt und ihre Ärztin ihr die Fragen beantwortet. Jedoch geht aus ihren Antworten hervor, dass sie zwar um die Möglich-keit des Fragens weiß und dies auch gelegentlich nutzt, aber das nicht ständig und bei jedem Arztbesuch tut.

»Ich stelle Fragen. Sie sagt mir Sachen. Aber eigentlich habe ich schon ein paar Fra-gen gehabt. Oder? Nee, oder? Oder doch? Muss ich mal überleFra-gen.« (Kay. 91:91).

Sascha nutzt die Termine bei ihrer Ärztin sogar über den eigentlichen Sinn der In-ter*DSD-Sprechstunde hinaus. Sie ist sehr zufrieden mit der Art und Weise, wie sie mit ihrer Ärztin kommunizieren kann und dass sie so die Möglichkeit hat, ihr Wissen zu vergrößern.

»Ja, sie erklärt immer alles für mich und fragt auch, ob ich das verstanden habe. Ich bin ja nicht blöd. Und seit sie weiß, dass ich Tierärztin werden will, erklärt sie das auch schwerer und fragt mich ab.« (Sascha. 43:43).

Mika ist mit ihrer Ärztin ebenfalls zufrieden. Bei den Terminen wird ihr alles erklärt und die Ärztin spricht Mika direkt an und bezieht sie in Entscheidungsfragen mit ein. Da Mika bei den Arztterminen von ihrer Mutter oder Mutter und Vater begleitet wird, werden manche Sachen auch mit den Eltern besprochen bzw. ihnen erklärt, so dass sie es für Mika verständlich wiedergeben können.

» Sie hat mit uns beiden [Anm. FM.: Mutter] gesprochen und erklärt. Eigentlich immer mit mir, hauptsächlich mit mir. Wenn es jetzt so Sachen waren, die ich nicht verstehe oder es um Sachen geht, die meine Eltern machen müssen, dann redet sie natürlich auch mit meinen Eltern. Sonst eigentlich sind meine Eltern Begleitpersonen, sage ich mal so.« (Mika. 35:35).

Für die jüngeren Kinder sind besonders detaillierte Fragen oder Entscheidungen im Gedächtnis geblieben, die sie während des Interviews wiedergeben. So gehen Toni und Kay weniger auf die Möglichkeit des Fragens an sich ein, sondern verbinden damit

ex-plizite Situationen, in denen sie die Möglichkeit hatten, bei ihren Ärzt*innen eine Ent-scheidung zu treffen oder eine Frage nach etwas Bestimmtem zu stellen.

Für Toni ist es aufgrund der Angst vor Spritzen wichtig, zu wissen, ob sie eine Spritze bekommen wird oder nicht. Dabei geht es jedoch, wie sie selbst einschränkt, nicht um Nadeln per so, sondern um den Vorgang des Spritzens. Blutabnahmen hingegen seien okay.

»Ich will wissen, kriege ich ne Spritze? Ich hab Angst vor Spritzen. Aber nicht vor Blut abnehmen. Nur einfach so.« (Toni. 93:93).

Kay berichtet im Interview von Entscheidungen, die sie bei einem Arztbesuch treffen konnte. Dabei argumentiert sie, warum sie sich für bzw. gegen etwas (in diesem Fall beim Zahnarzt eine bestimmte Form der Zahnbehandlung) entschieden hat. Sie gibt wieder, dass sie über die Vor- und Nachteile vorher informiert wurde und welche Ar-gumente für sie ausschlaggebend für ihre Entscheidung waren.

»Also beim Zahnarzt durfte ich sagen, ob ich Elmex Gelee wollte oder Elmex Gelee Bananenlack wollte. Da habe ich Bananenlack genommen. Erstens ist der stärker und zweitens schmeckt der lecker.« (Kay. 77:77).

Kim erzählt im Interview kaum etwas zu ihrer Beziehung zu ihrer Ärztin. Ihr Fokus liegt vor allem auf der Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit AGS und den sich daraus ergebenden Folgen für ihren Körper und ihr Leben. Ihre Informationen zu ihrer Krank-heit, den Operationsmöglichkeiten sowie den potentiellen Ergebnissen sucht sich Kim vorwiegend selbst heraus (z.B. aus dem Internet), greift aber auch auf die Beratung durch die Ärzt*innen zurück.

»Vor allem als die OP bevorstand. Da wollte ich wirklich alles wissen, was ich habe, was die Krankheit heißt, was die bei der OP machen und wie es danach weitergehen soll. Ja, ich hab da auch ne Seite gefunden, ich weiß aber nicht mehr wie die heißt.«

(Kim. 28:28).

Weil Kim vor der Operation eine sehr niedrige Compliance in Bezug auf ihre Erkran-kung zeigte und damit zusammenhängend wenig bis gar kein Interesse an einer Kom-munikation mit ihrer Ärztin hatte, sah sie die Arzttermine als eine lästige Pflicht an, der es möglichst schnell zu entkommen galt.

»Ja, ich wollte gar nicht her. Ich musste jedes Mal eine Speichelprobe hinschicken und dann werten sie aus, wie meine Hormonwerte sind. Also irgendwelche Werte, genau kann ich es gar nicht so genau sagen. Auf jeden Fall wird es regelmäßig kontrolliert.

Meine Mutter war auch mit und sie war auch nicht so begeistert davon, die hat mich auch genervt. Ich hab mich nicht so gefreut, immer herzukommen« (Kim. 8:8).

Erst als sich die Möglichkeit der Operation eröffnete, nahm Kim die dafür nötigen Arzt-besuche mit großem Enthusiasmus wahr, um bestmöglich auf die Operation vorberei-tet zu sein.

» Meine Mutter war am Anfang dagegen, weil ich noch so jung war. Aber ich wollte das und das hat sie auch gemerkt. Dass ich mich unwohl gefühlt habe. Und wenn ich mir was in den Kopf gesetzt habe.« (Kim. 34:34).

Die Eltern spielen bei allen fünf Kindern und Jugendlichen eine zentrale Rolle in der Kommunikation mit den Ärzt*innen. Ihre Anwesenheit bedeutet für die Kinder meis-tens eine Art Unterstützung und Absicherung, falls etwas passieren sollte, dass die Kin-der nicht verstehen oKin-der komplett überblicken können. Aufklärungen über Behandlun-gen werden nicht nur von den Ärzt*innen durchgeführt, sondern auch von den Eltern übernommen.

So wusste Toni vor ihrer Operation und dem damit verbundenen Krankenhausaufent-halt über Ablauf und Hergang der Operation Bescheid, da ihre Eltern dies über lange Zeit mit ihr besprochen hatten. Toni war zwar bei allen Gesprächen mit den Ärzt*innen dabei, jedoch manchmal, so die Mutter, »[hat sie] andere Sachen gemacht anstatt der Ärztin zuzuhören« (Toni. 122:122). Das Nichtzuhören spiegelt jedoch nicht wieder, dass Toni insgesamt kein Interesse an den Informationen gehabt hätte, sie in dem Moment allerdings ihren Fokus auf andere Dinge gelegt hat – vor dem Hintergrund, dass sie wusste, in einem für sie passenden Moment zu ihren Eltern gehen zu können.

Sascha erlebte die Gespräche mit ihrer Ärzt*in zum Teil sogar als »nervig« (Sascha.

27:27), da sie besonders in Bezug auf die Tabletteneinnahme wiederholt von ihrer Ärz-tin über die Wichtigkeit und Regelmäßigkeit der Einnahme informiert wurde. Das wie-derum führte dazu, dass Sascha aus dem Stehgreif und ohne Mühe im Interview In-formationen über AGS und die unterschiedlichen Tabletten und deren Einnahme wie-dergeben konnte. Durch das Führen ihres Tagebuchs kann Sascha exakt und präzise

mit ihrer Ärztin über Probleme oder Schwierigkeiten sprechen. Dieser Dialog findet ausschließlich zwischen der Ärztin und Sascha statt.

»Da gings mir nicht gut. Da auch nicht. Das interessiert Frau XX [Ärztin] immer am meisten, ob ich da mit meinen Tabletten hinkomme.« (Sascha. 49:49).

Mika hat bis dato keine schlechten Erfahrungen mit ihren Ärzt*innen gemacht und ist mit ihrer derzeitigen Behandlung und ihrem Arzt zufrieden. Dass es ihr wichtig ist, ein gutes Verhältnis zu ihrem Arzt zu haben, stellt sie dadurch klar, im Zweifel andere Ärzt*innen aufzusuchen.

» Wenn man etwas blöd findet, dann guckt man sich das vielleicht nochmal an. Aber wenn es immer blöd bleibt, dann geht man wahrscheinlich auch nicht mehr zu diesem Arzt.« (Mika. 37:37).

Die Möglichkeit, in Entscheidungsprozesse beim Arzt involviert zu werden und eine Entscheidung treffen zu können, ist Mika sehr wichtig – auch wenn sie sie nicht immer automatisch wahrnehmen möchte oder ohne ihre Eltern treffen möchte.

» Ja schon, es geht ja auch um mich. Da will ich ja auch ein bisschen selber mitent-scheiden.« (Mika. 33:33).

Entscheidungen in Bezug auf Inter*DSD trifft Mika in der Regel zusammen mit ihren Eltern. Dabei ist ihr die Meinung ihrer Eltern sehr wichtig, genauso wie die Einigkeit in Entscheidungsfragen. Die Entscheidungen, die dann innerhalb der Familie getroffen werden, bilden die Grundlage für das Arztgespräch. Ohne die Unterstützung ihrer El-tern oder bei einem Dissens ist sich Mika unsicher, ob sie das Gespräch mit dem Arzt genauso führen würde wie mit der Unterstützung durch die Eltern.

» Ich glaube, ich würde erstmal mit meinen Eltern darüber sprechen. Und hören, was die meinen und dann sagen, dass man dann zusammen zum Arzt geht. Wir sind ja meistens einer Meinung. Und dann kann man auch zusammen zum Arzt gehen und dem das sagen. Alleine würde ich es wahrscheinlich nicht machen.« (Mika. 39:39).

Neben der Kommunikation mit ihren Ärzt*innen stellte sich die Frage, wie die Kinder und Jugendlichen mit ihrem Wissen und den Informationen, die sie erhalten, weiter umgehen. Besonders Sascha, Mika und Kim reflektieren in den Interviews über ihr spe-zifisches Wissen, dass sie sich durch ihre Arztbesuche, ihre medizinischen Behandlun-gen von Inter*DSD und Selbstrecherche angeeignet haben. Dieses Wissen ist für alle

drei eindeutig aus der Situation heraus entstanden, dass sie eine Form von Inter*DSD haben. Sie sind sich darüber im Klaren, dass dieses Wissen, das sie besitzen nicht je-dem Menschen in der Form gegeben ist. Deshalb möchten sie ihre Erfahrungen gerne teilen, damit sich daraus für ihnen nachfolgenden Menschen mit Inter*DSD etwas in der medizinischen Behandlung verbessert. Das Interview selbst erkennen sie als ein Mittel zu diesem Zweck an, da sie hier direkt zur Sprache kommen können.

»Ich kann das gerne machen. Wenn es hilft. Dann können die forschen und etwas verbessern. Wenn man die Aussagen direkt von den Leuten hat, ist das ja auch viel besser. Deswegen mache ich das eigentlich auch gerne. Weil ich weiß, dass das ande-ren Leute auch hilft.« (Mika. 70:70).