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II. Diskriminierung in Institutionen der frühkindlichen Bildung

2.2 Behinderung

Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich an dem bereits skizzierten Behinderungs verständnis, bei dem Subjektivität, Situationsbezogenheit und Relati-vität von Behinderung erläutert wurden. Ebenso wenig wie es die Behinderung gibt, gibt es die Gruppe behinderter Kinder (im Kindergartenalter). Von daher gilt es, die vorliegenden empirischen Erkenntnisse sowohl hinsichtlich spezifischer Beeinträchti-gungen und Entwicklungserschwernisse, Krankh eitsbilder und gelingender bzw. miss-lingender Aktivitätsmöglichkeiten als auch in Bezug auf das einzelne Kind zu differenzie-ren. Kinder mit unterschiedlichsten Behinderungen ha ben das gleiche Recht auf frühe Bildungsangebote wie Kinder ohne Behinderungen. Dieses Recht impliziert jedoch nicht, dass sie diese Angebote auch an den gleichen Bildungsorten wie Kinder ohne Behinderung in Anspruch nehmen können.

Angebotsformen

Aktuell existieren für Kinder mit Behinderung unterschiedliche Angebotsformen:

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Kindertagesstätten, die im Sinne von Einzelintegrationen einzelne Kinder mit beson-deren Bedürfnissen aufnehmen;

integrative Kindertagesstätten, in denen Kinder mit und ohne Behinderung gemein-sam lernen und spielen, sowie

heilpädagogische Kindertagesstätten, in die ausschließlich Kinder mit Behinderung aufgenommen werden.

Der entscheidende Unterschied zwischen diesen Bildungseinrichtungen ist in ihrer Ausstatt ung (Personal, Professionen, Räume etc.) sowie zudem in ihrer pädagogischen Zielsetzung zu sehen (Vorbereitung auf die Schulbiografie, Erwerb individuell bedeut-samer Kompetenz en etc.). Der in der UN-Konvention zur Gleichstellung behinderter Kinder festgeschriebene Rechtsanspruch auf lebenslange, inklusive Bildung von größt-möglicher Qualität kann somit auch für den vorschulischen Bereich als nicht eingelöst betrachtet werden. Allein die Tatsache der Existenz besonderer Einrichtungen für Kinder im Vorschulbereich ist ein Merkmal insti tutioneller Diskriminierung, da bestimmten Kindern die Teilhabe an wohnortnahen und som it sozialräumlich rele-vanten Institutionen verwehrt bleibt. Im Zuge der Inklusionsdebatte lässt sich aber zunehmend sowohl eine fachliche Diskussion über die gemeinsame frühkindli che Bildung als auch in der Praxis eine aus dieser Debatte hervorgehende Öffnung von Ein richtungen für Kinder mit Behinderung erkennen (vgl. einführend Klemm 2010).

Auch bis dato heilpädagogische Einrichtungen rekonzeptionieren in wachsender Anzahl ihre inh altliche Ausrichtung, erweitern ihre Angebote auch für Kinder ohne Behinderung und tra gen somit dem Inklusionsanspruch »von der anderen Seite kom-mend« Rechnung.

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Kapitel II

Integrative/inklusive Angebotsformen

Der Anteil integrativ betreuter Kinder mit Behinderungen in Einrichtungen der Kin-der- und Jugendhilfe (ohne Einrichtungen der Schulverwaltung) lag 2007 zwischen 42,1 % in Nieder sachsen und 100 % in Thüringen (vgl. Sarimski 2012, S. 19) und wächst zunehmend. Jedoch sind Integrationsplätze in vielen Regionen immer noch nicht in ausreichender Anzahl vorh anden, wie die Erfahrung einer Fachkraft exemplarisch zeigt: »Ja zum einen, dass es immer kompliziert ist, diese Integrationsplätze für Kinder mit Behinderung zu vergeben, weil der Mangel und die Nachfrage immer so groß sind.

Also es ist nicht so leichtfertig, wie man einer Familie begegnet – wenn wir sechs Plät-ze haben, dann haben wir da vielleicht 20 Leute auf der Warteliste und dann können nur sechs diese Plätze haben […]. Und diese Situation finde ich außerordentlich belas-tend, immer wieder so vielen Eltern sagen zu müssen: ›Es tut mir leid, wir haben kei-nen Platz mehr‹. Weil es diesen riesengroßen Mangel an Integrationsplät zen gibt, das ist einfach ein Riesendesaster« (Albers 2011, S. 106 f.).

Die verfügbaren Daten zeigen zudem, dass Betreuungen von Kindern mit Behinderun-gen unter drei Jahren in KindertageseinrichtunBehinderun-gen nahezu nicht vorkommen. Über die Ursachen für diese Tatsache kann nur spekuliert werden: Entweder sind die Kinderta-gesstätten auf die frühe Betreuung von Kindern mit Behinderung noch weniger ausge-richtet als auf höhere Al terskohorten oder aber die Eltern geben ihre Kinder gezielt erst ab dem dritten Lebensjahr in eine Einrichtung frühkindlicher Bildung. Der gravieren-de Unterschied zu gravieren-dem wachsengravieren-den Prozentanteil von U3-Kingravieren-dern ohne Behingravieren-derung bedarf jedoch zwingend der vertieften Ana lyse, um mögliche Diskriminierungen der Kinder aufzudecken und diesen entgegenwirken zu können.

Konstruktionen von Behinderung in frühkindlichen Bildungseinrichtungen Kreuzer/Ytterhus (2011) haben in einem in der Elementar- und Inklusionspädagogik viel be achteten Sammelband mit dem eindeutigen Titel Dabeiseinistnichtalles Ergeb-nisse aus unter schiedlichen Studien zur gemeinsamen frühen Bildung von Kindern mit und ohne Behinde rung in Kindertagesstätten zusammengetragen. Als elementare Ergebnisse der einzelnen Studien lassen sich folgende Aspekte festhalten:

Der Aspekt Behinderung spielt im Kontext des Kindergartens eine eher untergeordne-te Rolle. Stattdessen verwenden Kinder zur Beschreibung Gleichaltriger eher soziale Kategorien wie die »Netten«, die »Komischen« oder die »Kranken«. Behinderung ist somit kein sinnvolles Merkmal, nach dem pädagogische Situationen in Kindergärten beschrieben werden können. Entscheidendes Auswahlkriterium für die Einschätzung bei Kindern dieses Alters ist die Frag e, ob der oder die Andere ein guter Spielpartner oder eine gute Spielpartnerin ist.

Erzieher_innen und Eltern kommt eine entscheidende Funktion bei der Gestaltung des sozia len Klimas in Kindergärten zu. Ihre Funktion als Vorbilder für gelingende oder auch ungüns tig gestaltete Beziehungen zwischen den Kindern ist in dieser Altersstufe als äußerst bedeuts am einzustufen.

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Kapitel II

Scheinakzeptanz von besonderen Merkmalen und/oder Verhaltensweisen, übertrie-bene Für sorglichkeit sowie das grundsätzliche Gewähren von Schonräumen erweisen sich für die Ge staltung gleichberechtigter Entwicklungsräume als ebenso ungünstig wie das Ignorieren von individuellen Unterstützungsbedarfen und die damit einher-gehende Nichtbewilligung von individuellen Nachteilsausgleichen.

Für gelingende Inklusion ist die Auseinandersetzung aller beteiligten Erwachsenen und Kin der mit dem Thema Beeinträchtigung und Behinderung sinnvoll. Dieser Dis-kurs muss auch negative Emotionen und Befürchtungen, Frustrationen und Ängste beinhalten dürfen und darf nicht nur ideologisch-normativ geführt werden, wenn alle Beteiligten ehrlich in den Pro zess eingebunden werden sollen (vgl. Kreuzer/Ytterhus 2011; dazu auch Schöler et al. 2005).

Interaktionsformen

Kreuzer konnte in einer eigenen qualitativen Studie, in der er umfangreiche Interaktionsbe obachtungen in Alltagssituationen von Kindergärten durchführte, grundsätzlich feststellen, dass Zurückweisung und aktive Marginalisierung von Kin-dern mit Behinderung eher selten auftreten, »Nichtbeachtung und passive Marginali-sierung treten dagegen wohl häufiger auf, bleiben aber selten« (Kreuzer 2011, S. 186).

In der Feinanalyse der Einzelitems wird jedoch deutlich, dass mehr als die Hälfte der 24 beobachteten Kinder »lange Phasen der Beobacht ung des Gruppengeschehens (12 Kinder) und der Selbstbeschäftigung (13 Kinder) sowie eine hohe Orientiertheit an Erwachsenen (11 Kinder) zeigen und im Wesentlichen in (vor)struktu rierten Gruppen-phasen stärker einbezogen sind (10 Kinder)« (Kreuzer 2011, S. 186). Da die beobachteten Kinder bereits länger als ein Jahr in der Gruppe sind und somit nicht auf positi ve, sich selbst verstärkende Gruppenprozesse allein gesetzt werden kann, scheint es hier abso-lut notwendig, pädagogisch auf die Gruppensituation einzuwirken, um den beobachte-ten Prozessen entgegenzuwirken, die für die Kinder mit Behinderung soziale Diskri-minierungen implizieren.

Andererseits kann die Situation in inklusiven Einrichtungen nicht als durchweg zufrieden stellend bezeichnet werden: Im Rahmen einer Befragung von Eltern, deren Kinder mit Behinderung integrative Kindertageseinrichtungen besuchen, gaben 55 % der Proband_innen an, dass Kinder mit Behinderung in der Einrichtung zu kurz kämen, 60 % der Eltern von Kindern mit schweren Behinderungen wünschten sich ein stärkeres Interesse der Erzieher_innen an der Integration/Inklusion ihrer Kinder in das Gruppengeschehen und 35 % der Befragten glaubten sogar, dass ihre Kinder in heilpädagogischen Einrichtungen besser aufgehoben wären (vgl. Kobelt Neuhaus 2001).

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Kapitel II

Sarimski zieht aus der aktuellen Forschungslage zu Entwicklungsverläufen von Kindern mit Behinderungen in integrativen Kindertagesstätten zwei Schlüsse:

1. » Die Voraussetzungen zur Entwicklung positiver sozialer Beziehungen behinderter Kinder zu anderen Kindern – Häufigkeit sozialer Kontakte und Bildung von

Freund schaften – sind in integrativen Gruppen günstiger als in Sondereinrichtungen.

2. J edoch besteht auch in diesem Kontext ein besonderer Hilfebedarf bei Kindern mit eingeschränkten kognitiven oder kommunikativen Fähigkeiten zur Förderung sozia ler Kompetenzen« (Sarimski 2012, S. 38).

Aus diesen Erkenntnissen lässt sich ableiten, dass frühkindliche Bildung in Sonder-institutio nen grundsätzlich als Sonder-institutionelleDiskriminierung zu bewerten ist, da sie die Kinder bez üglich wichtiger Entwicklungschancen benachteiligt. Um diese posi-tiven Effekte gemeinsa men Lernens für alle Kinder entfalten zu können, müssen die Einrichtungen jedoch mit fachl ich kompetentem Personal ausgestattet sein, das Kin-der mit besonKin-deren Bedürfnissen in Kin-der Gestaltung sozialer Beziehungen angemessen unterstützt.

Adäquate Unterstützung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen in inklusiven Settings frühkindlicher Bildung »erfordert ein grundlegendes Wissen um diese Entwicklungsproble me und spezifische Möglichkeiten der Anpassung an den Hilfe-bedarf der Kinder. Diese Mög lichkeiten reichen von der Gestaltung der Umgebung über die gezielte Anleitung zu sozialen Basisfertigkeiten bis zur Übernahme von Pfle-geaufgaben bei Kindern mit besonderen körper lichen Bedürfnissen« (Sarimski 2012, S. 127).