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5.1.1 Bedeutung methodischer Aspekte

Bei der Analyse der methodischen Aspekte ist an erster Stelle zu erwähnen, dass in der Literatur viele verschiedene Paradigmen verwendet wurden, welche die Vergleichbarkeit und Interpretation der Studien erheblich erschweren. Dabei ist es nicht immer eindeutig, welche Teilkomponente der ToM untersucht bzw. ob die ToM als allgemeine

Mentalisierungsfähigkeit geprüft wurde. In der Unterschiedlichkeit der Methodik ist sicherlich eine Erklärung für die inhomogenen Ergebnisse in der Literatur zu sehen. Auch Shamay-Tsoory et al. (2007) führen die differenten Verhaltensdaten auf die Verschiedenheit der Paradigmen zurück, denen für die korrekte Bearbeitung jeweils verschiedene Prozesse zugrunde liegen sollen. So erfordern laut den Autoren False-Belief-Aufgaben eher ein kognitives Verständnis für den Unterschied zwischen dem Wissen des Protagonisten und der Realität, während Ironie- und Faux-pas-Aufgaben zusätzlich ein Verständnis für den emotionalen Zustand des Protagonisten benötigen. Sie vertreten dabei die Meinung, dass es sich bei den schizophrenen Patienten nicht um eine allgemeine Beeinträchtigung der ToM, sondern um ein spezifisches Defizit der affektiven Komponente handelt. Dies konnten sie in ihrer Studie nachweisen, indem die Gruppe der Schizophreniepatienten im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant mehr Fehler nur in den affektiven ToM-Aufgaben machte. Somit zeigte sich die kognitive ToM-Fähigkeit bei der untersuchten Patientengruppe intakt. Auch in der vorliegenden Studie handelt es sich um ein kognitives ToM-Paradigma, so dass aus dem genannten Standpunkt heraus die guten Verhaltensergebnisse der untersuchten Schizophreniepatienten in dieser Eigenschaft des Paradigmas begründet sein könnten.

Daneben beinhaltet das verwendete ToM-Paradigma weitere Aspekte, welche als Begründung für die Verhaltensdaten der vorliegenden Untersuchung dienen könnten. In der Literatur besteht Kritik an mangelnder Lebensnähe der Untersuchungen in sogenannten „Offline“-Testsituationen, wie sie zumeist in den klinischen experimentellen Laborbedingungen und auch in der vorliegenden Studie bestehen (Brüne, 2005a). Hiermit können jedoch ToM-Fähigkeiten, welche für das soziale Funktionsniveau im Alltag von großer Bedeutung sind, nur bedingt geprüft werden. Laut Pickup und Frith (2001) sind Schizophreniepatienten in Offline-Teststiuationen in der Lage ToM-Aufgaben über Analogieschlüsse zu lösen. Demgegenüber haben sie in „Online“-Situationen, d.h. in konkreten sozialen Interaktionen, mehr Schwierigkeiten, weil sie hier ihr Mentalisierungsdefizit nicht kompensieren können. Auch in der vorliegenden Offline-Testsituation könnten die guten Verhaltensergebnisse in der Nutzung von Kompensationsmechanismen begründet sein, welche möglicherweise in alltäglichen Situationen nicht greifen und somit zu Defiziten in der sozialen Interaktion führen. Das soziale Funktionsniveau der Patienten wurde in dieser Studie nicht überprüft, so dass es spekulativ bleibt, von möglichen Mentalisierungsschwierigkeiten in Online-Alltagssituationen zu sprechen.

Des Weiteren ist es bezogen auf das verwendete Paradigma gut möglich, dass der Schwierigkeitsgrad der Aufgabe einen Einfluss auf das Abschneiden in den False-Belief-Aufgaben hatte. Denkbar ist, dass die Schizophreniepatienten die ToM-False-Belief-Aufgaben der

vorliegenden Studie gut lösen konnten, da es sich um eine First-Order-Belief-Aufgabe handelte („Sally denkt, dass...“). Im Vergleich hierzu untersuchen Second-Order-Belief-Aufgaben komplexere Mentalisierungsfähigkeiten und sind damit schwieriger zu lösen („Sally denkt, dass Anne denkt, dass...“; vgl. Kap 2.1.4). Das Argument des Schwierigkeitsgrades wird durch die Ergebnisse mehrerer Studien mit schizophrenen Patienten gestützt, in denen sowohl First-Order- als auch Second-Order-Belief-Aufgaben getestet wurden und unabhängig vom IQ und anderen kognitiven Defiziten Schwierigkeiten vor allem bei den ToM-Aufgaben höherer Ordnung auftraten (Frith &

Corcoran, 1996; Doody et al., 1998; Mazza et al., 2001; Pickup & Frith, 2001; Randall et al., 2003; Bosco et al., 2009). Im Gegensatz hierzu fanden nur wenige Studien, die bei Schizophrenen beide Aufgabentypen prüften, keinen signifikanten Unterschied in der Bearbeitung beider Paradigmen im Vergleich zu Gesunden (Herold et al., 2002;

Harrington et al., 2005b; für einen Überblick vergleiche Harrington et al., 2005a). In einigen Untersuchungen zeigte sich der Unterschied zwischen First-Order- und Second-Order-ToM-Aufgaben erst nachdem die kognitiven Defizite herausgerechnet wurden.

Daraus lässt sich vermuten, dass Schwierigkeiten beim Lösen der First-Order-ToM-Aufgaben möglicherweise zu einem gewissen Teil mit Defiziten in generellen kognitiven Domänen zusammenhängen, während die Schwierigkeiten bei der Bearbeitung der Second-Order-ToM-Aufgaben unabhängig von den kognitiven Fähigkeiten sind (Bozikas et al., 2011; Pentaraki et al., 2012). Die Bedeutung der Second-Order-Belief-Defizite zeigt sich in einer Studie von Roncone et al. (2002) zur Assoziation von ToM-Störungen mit dem sozialen Funktionsniveau bei schizophrenen Patienten. Die Autoren fanden, dass explizit Second-Order-ToM-Störungen den zweitgrößten prädiktiven Wert für soziale Kompetenzstörungen ausmachen. Die fehlende signifikante Korrelation von sozialen Funktionsstörungen mit First-Order-ToM-Störungen versuchten sie darin zu erklären, dass Second-Order-Aufgaben komplexere interpersonelle Beziehungen prüfen und somit einen größeren allgemeinen prädiktiven Wert für die soziale Funktionsfähigkeit besitzen. Aus den Ergebnissen folgerten sie, dass Schizophrene ein spezifisches ToM-Defizit in komplexeren sozialen Situationen besitzen könnten, während einfachere soziale Kontexte, wie die First-Order-Aufgabenstellung, besser verständlich sind. Auf dem Hintergrund dieser Befundlage ist es anzunehmen, dass das vorliegende gute Abschneiden der Schizophreniepatienten in den False-Belief-Aufgaben an der Verwendung des einfacheren First-Order-Belief-Paradigmas lag und dass sie beim Lösen von ToM-Aufgaben höherer Ordnung möglicherweise größere Schwierigkeiten gehabt hätten.