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Beantwortung der Forschungsfragen

Im Dokument Gewohnt ist nicht normal (Seite 54-57)

6 Zusammenfassung und Empfehlungen

6.2 Beantwortung der Forschungsfragen

1) Die Jugendlichen haben ein differenziertes Bild von Kriminalität. Sie bewerten Delikte wie Diebstahl oder Raub als kriminell und unterscheiden dies von „Scheiße bauen“. Letzteres ist auch nicht korrekt, findet aber in anderen Kontexten statt – in der Peergroup, wenn dann Dummheiten aus Spaß und aus anderen Motiven gemacht werden, nicht aber aus Geldmangel. Wer Geld hat, geht nicht klauen. Durch Marginalisierung haben ihre Eltern es schwer, und die Jugendlichen möchten ihnen nicht zusätzlich zur Last fallen. Deshalb erzählen sie ihnen nicht, was manchmal auf der Straße so abgeht, und deshalb wollen viele lieber ihr eigenes Geld machen, als es von den Eltern zu nehmen. Die demografische Zusammensetzung der Quartiere zeigt, dass die Jugendlichen in ihrer marginalisierten Position keine Ausnahme sind. (Kapitel 1, 2 und 3)

2) Der Alltag der Jugendlichen ist sehr kiezbezogen. Beide Siedlungen haben eine hohe praktische und symbolische Bedeutung. Symbolisch im Sinne eines lokalen Raumes mit Bezeichnungen wie „Graefe“ oder „Hallesches“, mit denen Jugendliche sich identifizieren.

Praktisch nutzen die Jungs den Siedlungsraum als Treffpunkt, wo sie ihre (Frei-)Zeit verbringen. Sie sind öfters in kleineren oder größeren Gruppen auf der Straße. Sie bezeichnen sich als „die Jungs“, die gemeinsame Interessen haben (z.B. den Boxsport) oder „gleich ticken“.

Am Mehringplatz ist auch das Kiffen eine gemeinsame Aktivität, zudem „chillen“, reden, rauchen und trinken – wie bei vielen anderen Jugendlichen anderswo auch. Die Jungs machen gerne „Faxen“ untereinander, in Form von Spaßkämpfen.

Die Jugendlichen fühlen sich sehr sicher in ihrer Nachbarschaft. Gleichzeitig wissen sie, dass sich manche der anderen AnwohnerInnen unsicher fühlen, auch wegen ihrer Präsenz im öffentlichen Raum. Dabei betonen diese jungen Anwohner, dass sie keinen Grund dafür sehen, dass andere vor ihnen Angst haben sollten, da sie ihren Nachbarn nichts tun. Sie sagen, dass sie auch regelwidrige Sachen machen (Drogenkonsum oder -Handel) oder Dinge, die für Außenstehende „gefährlich“ wirken (wie Spaßkämpfe oder Schlägereien unter Jugendlichen), aber dass sie dabei niemanden mit reinziehen und ihre „Scheiße“ für sich machen. Einige deuteten darauf hin, wie Jugendliche im öffentlichen Raum auch sicherheitsstiftend für die gesamte Nachbarschaft sind, weil sie ein achtsames Auge auf der Straße haben und Menschen in Not helfen.

Gleichzeitig gibt es keine Anzeichen dafür, dass sie sich mit Berlin als Ganzem identifizieren.

Das weit verbreitete Image von Berlin als Party-Stadt und kosmopolitische Metropole ist nicht ihr Bild. Für sie hat die Stadt nicht viel zu bieten. Im Gegenteil, die Ausgrenzung und Diskriminierung wird außerhalb des Kiezes teilweise verstärkt (sie erzählen von einem

„mulmigen“ Gefühl vor Außenbezirken, von konkreten Erfahrungen mit Rassismus, zum Beispiel in Spandau und Zehlendorf, obwohl sie diskursiv – wie auch der gesellschaftlich dominante Diskurs es vorgibt – Rassismus im Osten lokalisieren).

Die Jugendlichen sind mit einem Devianz-Label belastet, auch diejenigen, die angepasst sind.

Im Alltag werden sie nicht selten eindimensional problematisiert oder kriminalisiert, sodass sie sich unter Generalverdacht gestellt sehen, sei es auf der Straße im Kiez, wo die Polizei sie häufig kontrolliert, sei es in der Schule oder auf dem Weg zum Praktikum. Die Jugendlichen wissen, dass sich manche Nachbarn von ihnen gestört fühlen, etwa wenn sie auf der Straße (in den Abendstunden) zu laut sind oder sich in Treppenhäusern treffen. Dass sind Momente, bei denen Spannungen entstehen, vor allem am Mehringplatz.

Die Jugendlichen machen in vielen Alltagskontexten Rassismuserfahrungen und sprechen in den Kategorien „Deutsche“ und „Ausländer“ – wobei sie sich immer zur Gruppe der Ausländer zählen, unabhängig davon, ob sie den deutschen Pass haben oder nicht. Im Alltag sind sie die problematisierten Ausländer, auf die von verschiedenen Seiten (Polizei, Schule, Nachbarn, rechte Demonstranten) mit dem Finger gezeigt wird. Dieses Bild verinnerlichen sie teilweise selbst, bis hin zur Selbstproblematisierung. In dem Fall der rechten Demos zeigen die Jugendlichen eine große Reflexivität und niedrige Gewaltbereitschaft, trotz der Tatsache, dass sie sich diese Demos an dem Ort gefallen lassen müssen, den sie als ihr Zuhause definieren. (Kapitel 4 und 5)

3) Den Jugendlichen ist Arbeit und Ausbildung wichtig. Aber es fehlt ihnen an Grundvoraussetzungen bei der Jobsuche. Auch hier erfahren sie rassistische Ablehnungen. Es fehlt den Jugendlichen auch an kulturellem Kapital (wie ein Beispiel eines jungen Mannes zeigte, der zur Polizeiausbildung ging, wo er „kein Wort verstanden“ hat, obwohl er die formalen Zulassungskriterien ja erfüllt hatte). Viele Jugendliche machen die Erfahrung, dass die Schule nicht in der Lage ist, sie an Bord zu holen und zu halten, sie aber rausschmeißt, wenn sie „Scheiße“ bauen. Die Schulprobleme hängen mitunter auch damit zusammen, dass vielen der befragten Jugendlichen in der Schule vermittelt wird, dass sie es ohnehin nicht schaffen werden. Es fehlt ihnen an Menschen, die ihnen sagen „ich glaube an dich“ – an Menschen, die an ihren Talenten und Fähigkeiten anknüpfen, und sie nicht ständig problematisieren und abschreiben.

Sie vermitteln den Eindruck, dass diese Erwartung inzwischen fast auf beiden Seiten besteht:

Die Jugendlichen glauben nicht, dass sie die Schule schaffen können; die Schule als Institution passt sich nur beschränkt an neue Zeiten und neue Menschen an, bleibt viel bei Standardmodellen, um die vorgegebenen Lehrpläne umzusetzen, und die Lehrer gehen zudem davon aus, dass die Jugendlichen „unbeschulbar“ sind. Die Alltagslogik der Jugendlichen schließt nicht an die institutionelle Logik der Schule an. So droht ein Mechanismus der selbsterfüllenden Prophezeiung zu entstehen: Da die Jugendlichen als

„unbeschulbar“ gelten, werden sie in der Konsequenz durch die Reibung zwischen den Logiken „unbeschulbar“.

Unterschätzt wird dabei generell, wie groß die Erwartungen, die als Doxa relativ unterbeleuchtet bleiben, an der Übernahme der schulischen Arbeit bei den Eltern zu Hause ist, und das sogar schon vor der Einschulung und über die gesamte Schulzeit hinweg, bis zur Erlangung eines Abschlusses. Es gibt zwar Hilfsangebote der Jugendsozialarbeit. Manche Jugendliche konnten bereits erfolgreich darauf zurückgreifen (so wurden durch Einrichtungen Praktika vermittelt, oder bei Bewerbungen geholfen). Dieses Angebot reicht aber nicht aus und bleibt beschränkt, solange es gerade diejenigen, die es am nötigsten haben, nicht genügend erreicht (siehe unten, Punkt 4).

So fehlt es an sozialem Kapital: die Jugendlichen verfügen, abgesehen von den SozialarbeiterInnen bzw. Streetworkern, kaum über positiv geprägte Verbindungen zu Mainstream-Institutionen, und haben zum Beispiel keine sozialen Beziehungen zu Menschen mit Hochschulabschluss. Ihre Vorstellungen über ihre Zukunft bleiben überwiegend in den Bereichen, wo sie Menschen kennen: Polizei, Sozialassistenz, Ladenbesitzer oder Taxifahrer.

Der einzige junge Mann, der betont, studieren zu wollen, hat ebenfalls vor, einen Laden zu eröffnen. Es erscheint den Jugendlichen gar nicht als Möglichkeit, sich einen Beruf wie Zahnarzt, Informatiker, Heilpraktiker, Webdesigner oder Rechtsanwalt vorzustellen.

Zusätzlich limitiert werden ihre Ideen für die Berufswahl durch sehr beschränkte Möglichkeiten, Praktikumsplätze zu finden, die in der Praxis fast nur von sozialen Beziehungen abhängig sind. (Kapitel 3, 5 und 6)

4) Die Jugendlichen brauchen die Jugendclubs bzw. Aufenthaltsräume für sich, aber das Verhältnis in den Einrichtungen ist nicht immer konfliktfrei. Gerade zwischen den weniger angepassten Mehringplatz-Jungs und der KMA ist das Verhältnis angespannt – dafür ist aber der Kontakt zu den Outreach-Streetworkern besser. (Outreach hat aber sehr limitierte Raumkapazitäten und ist eher auf die Straßenarbeit fokussiert.)

In der Düttmann-Siedlung betonen die Jungs die Wichtigkeit des Drehpunkts, trotz eigener Hausverbotserfahrung und den damit verbundenen Konfliktfällen mit dem Personal. Die Hausverbote werden als problematisch gesehen, da aus der Perspektive der Jugendlichen die Beweislage (wer was angestellt hat) nicht immer klar ist, da Gruppen für individuelles Verhalten verantwortlich gemacht werden und da das Erteilen der Hausverbote intransparent und nicht-konsequent eingesetzt wird. Die Jugendlichen erklären Vandalismus als Reaktion auf Exklusion in den Jugendclubs. (Kapitel 5)

5) An Programmen und Freizeitmöglichkeiten wünschen sich manche der Jugendlichen mehr Sportangebote und Events (e.g. Boxen, Nachtfußball, Rap-Projekte). Vereinzelt wurde auch Anti-Aggressions-Training genannt, oder der Kontakt zu erwachsenen Personen mit ähnlichen Jugendproblemen, die Vorbildcharakter haben könnten.

Im Dokument Gewohnt ist nicht normal (Seite 54-57)