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Basis für politische und gesellschaftliche Transformation

4 Ökosysteme, Landnutzung und Biodiversität

4.1 Ökosysteme und planetare Grenzen

4.1.4 Basis für politische und gesellschaftliche Transformation

Das Konzept der planetaren Grenzen zeigt zahlreiche Handlungsoptionen auf, ohne konkrete Maßnahmen zur politischen Umsetzung zu definieren. Es bezog sich ur-sprünglich ausschließlich auf globale Maßstäbe und berücksichtigte nicht, dass einige Prozesse eine große zeitliche und räumliche Heterogenität aufweisen. Das aktualisierte Konzept bezieht nun auch regionale Auswirkungen ein und ermöglicht damit die Be-urteilung auf gesellschaftlich adäquaten Einheiten (z.B. Gemeinden, Regionen, Länder).

Im Gegensatz zu den SDGs beschränkt sich das Konzept der planetaren Grenzen auf rein naturwissenschaftliche Einschätzungen, ohne sozioökonomische oder politische Empfehlungen zu formulieren. Auch rein soziologische oder historische Entwick-lungen finden wenig Berücksichtigung, was wahrscheinlich der Komplexität dieser Interaktionen geschuldet ist. Dennoch kann das Rahmenwerk einen wertvollen Bei-trag dazu leisten, Entscheidungsträgerinnen und -trägern Optionen für eine ökolo-gisch nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung aufzuzeigen.

Die aufgezählten planetaren Grenzen können dabei nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Am Beispiel der chemischen Verschmutzung sollen Interaktionen mit anderen Kontrollvariablen der planetaren Grenzen illustriert werden (siehe Fallbeispiel 4.1.1).

Fallbeispiel 4.1.1 zeigt auf, dass politische Entscheidungsträgerinnen und -träger durchaus auf wissenschaftliche Befunde in Zusammenhang mit den planetaren Grenzen reagiert haben. Bei den Zwei-Grad-Klimaschutzbemühungen des Pariser Klima-abkommens wurde die Einhaltung planetarer Grenzen von der internationalen Klimapolitik bereits als Ziel übernommen. Auch das Hauptgutachten des Wissen-schaftlichen Beirats der Deutschen Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) basiert im Wesentlichen auf dem Konzept der planetaren Grenzen.

Fallbeispiel 4.1.1: Ökosystemare Zusammenhänge am Beispiel Pestizide (u.a. nach Zaller 2018)

In unserer Umwelt sind wir mit einer Vielzahl von synthetischen, also von Menschen hergestellten Chemikalien konfrontiert. Eine Sonderrolle nehmen dabei die Pflanzenschutzmittel (Pestizide) ein.

Sie werden in der konventionellen Landwirtschaft verwendet und in einem Ausmaß wie keine andere Stoffgruppe offen in die Umwelt ausgebracht. Pestizide, zu denen Herbizide, Bakterizide, Fungizide, Insektizide, Akarizide oder andere Untergruppen gehören, werden zwar in erster Linie gegen landwirt-schaftliche Schaderreger eingesetzt, beeinflussen unbeabsichtigt aber auch sogenannte Nichtziel-organismen, die in Agroökosystemen oder in deren Nachbarschaft leben.

Je nach Anwendungstechnik (Feldspritze, Flugzeug, Helikopter) können Pestizide auch in benach-barte Areale abdriften oder ausgeschwemmt werden. Die Exposition der Umwelt gegenüber Pflanzen-schutzmitteln und ihren Wirkstoffen ist somit nicht nur auf die tatsächlich behandelte Fläche be-grenzt, sondern betrifft letztendlich die gesamte Biosphäre. Neben diesen räumlichen Aspekten sind auch zeitliche zu berücksichtigen. Viele Pestizide werden nämlich nicht sofort abgebaut, sondern verbleiben zum Teil längerfristig in der Umwelt, sodass regelmäßig Rückstände von Pestiziden in Böden oder Gewässern gefunden werden, deren Anwendung bereits seit Jahrzehnten verboten wurde.

Zu den umstrittensten derzeit verwendeten Pestiziden gehören Insektizide mit der Wirkstoffgruppe der Neonikotinoide und Herbizide mit dem Wirkstoff Glyphosat. Neonikotinoide sind systemische Insektizide, die überwiegend zur Saatgutbeizung eingesetzt werden. Da das Saatgut im Boden abge-legt wird, wurde lange keine Gefahr für Honigbienen und andere Insektenbestäuber gesehen. Inzwi-schen konnte jedoch ein Zusammenhang mit der massiven Schädigung von Honigbienen hergestellt werden. Bei der Aussaat von mit Neonikotinoiden gebeiztem Saatgut wurde pestizidhaltiger Staub kilometerweit verbreitet, was die Bienenvölker im Umkreis vernichtet hat (Pistorius et al. 2009). Mittler-weile haben zahlreiche Studien auch andere nichtletale Auswirkungen auf Wildbienen, Bodenorganis-men und aquatische Insekten belegt. Neonikotinoide werden auch für den Rückgang an Feldvögeln verantwortlich gemacht, da Insekten eine wichtige Nahrungsquelle für Vögel darstellen und Neoniko-tinoide andererseits auch das Nervensystem von Vögeln beeinträchtigen (Hallmann et al. 2014). Politisch wurde seitens der Europäischen Kommission darauf reagiert und auf Basis aller vorliegenden Informa-tionen im Mai 2018 die Anwendung von drei Neonikotinoiden im Freiland untersagt. Auch soll die Möglichkeit der Pestizidabdrift bei der Bewertung möglicher Umweltrisiken im Rahmen der Pestizid-zulassung berücksichtigt werden.

Herbizide mit dem Wirkstoff Glyphosat zählen zu den am häufigsten eingesetzten Pestiziden. Die Auf-wandmengen sind allein zwischen 1996 und 2014 weltweit um das 15-Fache angestiegen (Benbrook 2016). Glaubte man lange, dass der Wirkstoff spezifisch nur Pflanzen beeinträchtigt, mehren sich mittlerweile Befunde über vielfältige Auswirkungen auf Nichtzielorganismen (von aquatischen Algen und Bodenorganismen über Mikroorganismen im Darm von Honigbienen oder im Pansen von Rindern bis hin zu chronischen Krankheiten beim Menschen). Durch den Einsatz von Pestiziden werden blühende Beikräuter auf dem Feld vernichtet und so vielen Insekten Nahrung und Lebensraum entzo-gen, was zu einem Rückgang an Insekten führt (Sánchez-Bayo und Wyckhuys 2019). Der Rückgang an Insekten und pflanzlicher Biodiversität schlägt sich letztlich auch im Rückgang an Feldvögeln nieder (Hallmann et al. 2017). Dass die Organismen, die mit Pestiziden kontrolliert werden sollen, resistent gegenüber den eingesetzten Wirkstoffen werden können, ist ein weiteres Beispiel für die wechselseitige Beeinflussung zwischen der Integrität der Biosphäre und der Einbringung neuartiger Entitäten. Eine adäquate politische Reaktion auf diese Befunde steht noch aus.

Die Beispiele zeigen, dass die Wechselwirkungen zwischen der Einbringung neuartiger Entitäten und der Integrität der Biosphäre nicht nur rein naturwissenschaftlich abgehandelt werden können.

Nur ein transdisziplinärer Ansatz kann der Komplexität dieser Wechselwirkungen gerecht werden.

Wertvoll ist das Konzept auch, weil es Lücken in unserer Einschätzung menschlichen Handelns aufzeigt. Analysiert man einige der planetaren Grenzen näher, zeigt sich, dass eine kritische und wissenschaftliche Reflexion bereits begangener Fehler ausblieb, bevor neue Technologien etabliert wurden. Die Beispiele der neuartigen Entitäten und der atmosphärischen Aerosolbelastung legen nahe, die Ausbringung dieser Substanzen durch die Menschheit als Experimente auf globalem Maßstab zu betrachten, ohne dass eine Kontrollvariante vorgesehen wäre oder dass deren Ausgang auch nur an-nähernd abgeschätzt werden kann. Würde ein derartiger Forschungsansatz zur För-derung eingereicht werden, würde man ihn ziemlich sicher wegen unwissenschaft-licher Vorgangsweise und unverantwortlichen Handelns ablehnen.

Weil wissenschaftliche Erkenntnis nie einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, ist die verstärkte Beachtung des Vorsorgeprinzips geboten, d.h. die Vermeidung und Verringerung ökologisch bedenklicher Belastungen, auch dann, wenn die Wissens-basis noch unvollständig ist. Das UBRM-Studium sensibilisiert für diese komplexen Zusammenhänge, u.a. auch aufgrund der sehr breiten und transdisziplinären Struktur.

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4.2 Klimawandel und atmosphärische Prozesse