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Ausnahmen (Freistellung) vom Verbot

Wettbewerbs- Wettbewerbs-recht

6.4 Das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen .1 Überblick

6.4.3 Ausnahmen (Freistellung) vom Verbot

Das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen gilt nicht ohne Ausnahme. Für die Frage, ob eine wettbewerbsbeschränkende Handlungsweise vom Verbot freigestellt, d.h. ausgenommen ist, sollte zunächst geprüft werden, ob die Voraussetzungen für eine Freistellung nach einer Gruppenfreistellungsverordnung (GVO) gegeben sind. Ist dies nicht der Fall, bleibt eine Freistel-lung für den individuellen Fall aufgrund der allgemeinen RegeFreistel-lung in Art. 101 Abs. 3 AEUV möglich.

a) Gruppenfreistellungsverordnungen (GVOen)

Die von der EU aufgrund der Ermächtigung in Art. 101 Abs. 3, 103 AEUV erlassenen GVOen sind in den EU-Mitgliedstaaten unmittelbar anzuwendende Rechtsnormen, binden also auch die Gerichte. Über den Verweis in § 2 Abs. 2 GWB gelten die GVOen in der jeweiligen Fassung auch für rein innerdeutsche Fälle ohne Auslandsbezug.

Compliance – Rechtliche Anforderungen an ITK-Unternehmen 45 Kartellrecht

Fällt eine Vereinbarung unter eine GVO, so ist sie vom Kartellverbot ausgenommen. Wie bei der Frage der »Spürbarkeit« wird auch bei den meisten GVOen der Marktanteil relevant. Nur unter-halb bestimmter Schwellenwerte sind danach die von der jeweiligen GVO beschriebenen Verein-barungen zwischen Unternehmen freigestellt. Die einzelnen GVOen sehen folgende Marktan-teilsgrenzen vor:

Art. 3 Vertikal-GVO (↗ VO (EU) Nr. 330/2010): Freigestellt sind vertikale Vereinbarungen grund-sätzlich bis zu einem Marktanteil von Lieferant bzw. Abnehmer von jeweils für sich max. 30%.

Art. 4 der FuE-GVO betreffend Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung (↗ VO (EU) Nr.

1217/2010): Freigestellt sind unter weiteren Voraussetzungen horizontale Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern über die gemeinsame Forschung und Entwicklung von Produkten oder Technologien bzw. die gemeinsame Verwertung der erzielten Ergebnisse, sofern der gemeinsame Marktanteil der Parteien auf den relevanten Produkt- und Technologiemärkten nicht mehr als 25% beträgt.

Art. 3 der GVO über Spezialisierungsvereinbarungen (↗ VO (EU) Nr. 1218/2010): Freigestellt sind unter weiteren Voraussetzungen horizontale Vereinbarungen, mit denen eine Partei einseitig oder gegenseitig zugunsten der anderen auf die Herstellung bestimmter Waren oder die Vorbereitung bestimmter Dienstleistungen verzichtet (»Spezialisierungsvereinbarungen«) und aus Vereinbarungen, mit denen sich die Parteien verpflichten, bestimmte Waren nur gemeinsam herzustellen oder bestimmte Dienstleistungen nur gemeinsam vorzubereiten (»gemeinsame Produktion«), wenn der gemeinsame Marktanteil nicht mehr als 20% beträgt.

Art. 3 der GVO über Technologietransfervereinbarungen (↗ VO (EU) Nr. 772/2004): Freigestellt sind horizontale Patentlizenzvereinbarungen, Know-how-Vereinbarungen, Softwarelizenzver-einbarungen und weitere TechnologietransferverSoftwarelizenzver-einbarungen, wenn die lizenzierte Technolo-gie Voraussetzung für die Produktherstellung ist und der gemeinsame Marktanteil 20% nicht überschreitet.

Die GVOen sehen jeweils Vorschriften für die Bestimmung des Marktanteils vor und Erleichte-rungen, wenn die Marktanteilsschwellen erst im Nachhinein überschritten werden.

Ausgenommen von der Freistellung sind wiederum in den GVOen benannte Kernbeschränkun-gen, sog. »Schwarze Klauseln«. Kernbeschränkungen umfassen u.a. Preis- oder Mengenabspra-chen sowie Vereinbarungen zur Aufteilung von Märkten oder Kundensegmenten. Enthält eine Vereinbarung eine solche Kernbeschränkung, scheidet eine Freistellung nach der GVO aus. Eine Freistellung nach dem allgemeinen Freistellungstatbestand des Art. 101 Abs. 3 AEUV ist in die-sem Fall zwar nicht ausgeschlossen (s. EuGH, Urt. v. 13.10.2011 ↗ Rs C-439/09 – Pierre Fabre, Rn. 57, 59). Allerdings tragen die Unternehmen dann die Beweislast für die positiven Effekte auf den Wettbewerb. Dies dürfte bei Vorliegen einer Kernbeschränkung nur selten gelingen. Nach den GVOen kann schließlich die Kommission in Einzelfällen die an sich gesetzlich gegebene Freistel-lung entziehen.

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b) Tatbestandliche Freistellung

Greift keine GVO ein, so kann die Wettbewerbsbeschränkung dennoch nach den allgemeinen Freistellungsvoraussetzungen gem. Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 GWB zulässig sein:

Effizienzgewinne: Zunächst ist erforderlich, dass die zu erwartenden technischen oder kauf-männischen Effizienzvorteile die Nachteile der Wettbewerbsbeschränkung spürbar überwie-gen. Effizienzgewinne sind etwa Kosteneinsparungen durch Senkung der Produktions- oder Vertriebskosten oder qualitative Effizienzgewinne durch Verbesserung des Produkt- oder Dienstleistungsangebotes. Vorteile, die unmittelbare Folgen der Wettbewerbsbeschränkungen sind (z. B. Einsparung von Marketingkosten aufgrund von Preisabsprachen), sind nicht erfasst.

Angemessene Beteiligung der Verbraucher am Effizienzgewinn: Ferner muss der Verbraucher angemessen am Effizienzgewinn partizipieren. Der Begriff »Verbraucher« ist nicht im Sinne des deutschen Rechts zu verstehen, sondern erfasst alle Nutzer der von der Vereinbarung betroffenen Waren und Dienstleistungen, also Großhändler, Einzelhändler und Endkunden sowie alle Produzenten, die die Ware als Vorprodukt benötigen. Eine »angemessene Beteili-gung« liegt vor, wenn die Vorteile die Nachteile, die durch die Wettbewerbsbeschränkung entstehen, zumindest ausgleichen (z. B. höhere Qualität bei höherem Preis).

Unerlässlichkeit der Wettbewerbsbeschränkung zur Erzielung der Effizienzgewinne: Ferner muss die Wettbewerbsbeschränkung »unerlässlich« sein zur Erzielung der Effizienzgewinne.

Dies ist der Fall, wenn ohne sie die sich aus der Vereinbarung ergebenden Effizienzgewinne beseitigt oder erheblich geschmälert würden oder die Wahrscheinlichkeit zurückgehen würde, dass sich diese Effizienzgewinne realisieren. Die Unternehmen müssen erklären, warum sich z.

B. Kostenvorteile nicht ebenso gut durch internes Wachstum und Preiswettbewerb erzielen lassen.

Keine Ausschaltung des Wettbewerbs: Eine Freistellung setzt schließlich voraus, dass durch die Vereinbarung nicht ein wesentlicher Teil des Wettbewerbs ausgeschaltet wird. Je stärker der Wettbewerb auf dem betreffenden Markt bereits geschwächt ist, desto geringer brauchen die Wettbewerbsbeschränkungen zu sein, damit man von einer »Ausschaltung des Wettbe-werbs« i.S.v. Art. 101 Abs. 3 AEUV ausgehen kann.

c) Mittelstandskartelle nach § 3 GWB

Für rein innerdeutsche Fälle sieht § 3 GWB eine besondere Freistellung für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) vor. Horizontale Vereinbarungen zwischen miteinander im Wettbewerb stehenden KMU, die eine Rationalisierung wirtschaftlicher Abläufe durch zwischenbetriebliche Zusammenarbeit zum Gegenstand haben und den Wettbewerb auf dem Markt nicht wesentlich beeinträchtigen, sind danach freigestellt. Die europarechtlichen Schwellenwerte für KMU (mind.

zwei von drei der Kriterien: max. 250 Mitarbeiter, max. 50 Mio. Euro Jahresumsatz, max. 43 Mio.

Euro Jahresbilanzsumme) sind dabei nicht ohne weiteres übertragbar. Vielmehr geht das Bun-deskartellamt von einem relativen, an der jeweiligen Marktstruktur ausgerichteten Verständnis

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der KMU aus, so dass auch ein Unternehmen mit 100 Mio. Euro Umsatz in einem Umfeld mit Umsatzmilliardären ein mittleres Unternehmen sein kann (vgl. ↗ Merkblatt vom Juli 2007 über Kooperationsmöglichkeiten für kleinere und mittlere Unternehmen, Rn. 12).