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Ausgewählte Briefe

Während seiner vierzigjährigen Zeit als Arzt und Naturforscher schrieb und erhielt Johann Jakob Scheuchzer Tausende von Briefen. Ein beträchtlicher Teil davon befindet sich heute in der Zentralbibliothek Zürich. Dieser Zürcher Nachlass umfasst fünf Bände mit Entwürfen und Kopien von Briefen, wel-che Swel-cheuchzer an seine über viele Länder Europas verstreuten Korresponden- ten richtete, und gut fünfzig Bände mit Briefen, die er von ihnen erhielt.1 Zwei Bände der Zentralbibliothek werden als «Lettres des Grisons» bezeich-net und drei weitere tragen die Namen bestimmter Bündner Korrespondenten (Johannes Leonhardi, Rudolf von Salis-Soglio, Rudolf von Rosenroll). Laut einem detaillierten Register erhielt Scheuchzer Briefe aus 26 verschiedenen Orten im Freistaat der Drei Bünde.2 Insgesamt dürfte die Zahl der Bündner Korrespondenten gut dreissig betragen haben.

Für die vorliegende Edition haben wir vierzig Briefe ausgewählt, die von neun Bündner Korrespondenten stammten oder an diese gerichtet waren.

Als Auswahlkriterien dient der inhaltliche Bezug zu Scheuchzers Forschungs-initiative, besonders zu seinem Einladungsbrief und Fragebogen von 1699 und zu den Bündner Alpenreisen von 1703, 1705 und 1707. Man sollte seinen Fragebogen, seine Reiseberichte und die hier wiedergegebenen Briefe in einem Zusammenhang sehen. Es sind drei Quellengattungen, die miteinander kom-munizieren und sich gegenseitig erhellen.

Da sich die Auswahl der Briefe auf die Scheuchzersche Forschungs-initiative bezieht, liegt es nahe, sie in chronologischer Folge zu präsentieren.

An erster Stelle erscheint die Korrespondenz, in welcher die Initiative zuerst Erwähnung findet; dann folgt die nächst spätere Korrespondenz; usw. Von dieser Regel machen wir nur bei den Picenino eine Ausnahme, um die Familie in einem Zug zu präsentieren; der Vater folgt hier auf den Sohn. Bei den neun Korrespondenten handelt sich um folgende Personen (der angegebene Tag ist das Datum des ersten ausgewählten Briefs):

– Antonio Picenino, angehender Arzt, Basel und Soglio, 12.03.1699 – Giacomo Picenino, Vater von Antonio, Pfarrer in Soglio, 30.10.1699

1 Übersichten bei Boscani Leoni 2009 und 2012b.

2 Rudolf Steiger: Verzeichnisse zur Scheuchzer-Korrespondenz, 1924, ZBZ Ms 348a, S.315;

inklusive zwei Orte in den Untertanenlanden, heute Provinz Sondrio.

– Hortensia Gugelberg von Moos, Autorin, Maienfeld und Chiavenna, Juni 1699

– Johannes Leonhardi, Pfarrer und Autor in Nufenen, 23.11.1699 – Andreas Gilardon, Pfarrer in Grüsch, 19.01.1700

– Rudolf von Rosenroll, Staatsmann (Vicari), Thusis, 15.02.1700 – Leonhard Marchion, Landammann, Valendas, 08.03.1700 – Otto Grass, Pfarrer, Thusis, 17.06.1703

– Rudolf von Salis-Soglio, Staatsmann (Guvernator), Soglio, 14.09.1703 Die Datierung bezieht sich bis Ende 1700 auf den julianischen Kalender. Mit Beginn des Jahres 1701 schlossen sich Zürich und andere reformierte Orte der Eidgenossenschaft dem neuen gregorianischen Kalender an, der damals dem julianischen um zehn Tage voraus war und in katholischen Gebieten schon länger benutzt wurde. Die reformierten Bündner blieben dagegen in der Regel beim alten Kalender.3 Zu den Ausnahmen gehörte Rudolf von Salis-Soglio, der seine Briefe gerne modern datierte (mit dem Vermerk «s.n.» für «stilus novus»). Insgesamt deutet der Zeitpunkt der ersten Briefe darauf hin, dass es Scheuchzer darum ging, Graubünden für seine Forschungsinitiative zu er-schliessen; sieben der neun Anfänge fanden innerhalb eines Jahres statt (von März 1699 bis März 1700). Dass es sich um ein «Projekt» handelte, zeigt sich auch an seinem Auslaufen. In den 1710er Jahren verebbten nämlich die meis-ten Bündner Briefwechsel. Von unserer Auswahl überdauerte nur derjenige mit Rudolf von Rosenroll bis in die 1720er Jahre.4

Mit Rudolf von Salis-Soglio und Rudolf von Rosenroll finden wir in diesem Kreis von Korrespondenten zwei Männer, die dank ihren in den Velt-liner Untertanenlanden versehenen Ämtern (Guvernorat, Vicariat) die Spitze der Bündner Politik erreichten und sehr begütert waren. Beide empfingen Scheuchzer auf seinen Alpenreisen in ihren palastartigen Residenzen, was ihn laut brieflichem Zeugnis nicht wenig beeindruckte. Auch Hortensia Gugelberg von Moos, eine geborene Salis, gehörte zum obersten Kreis der Bündner Aris-tokratie. Dass sie als Frau mit dem Zürcher Naturforscher korrespondierte, bildete aber eine Ausnahmeerscheinung. Wie andere Korrespondenzen in der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik war die Scheuchzer-Korrespondenz fast ausschliesslich männlich.5 Hortensia liess sich davon nicht abschrecken und hatte sich einen grossen Ruf als «wissbegierige» Persönlichkeit und theolo-gisch gelehrte Autorin erworben (siehe unten S.78).

3 Messerli 1995, S.43–56.

4 Steiger 1933, S.49–73.

5 Boscani Leoni, 2012b, S.148.

Tatsächlich ist es das überdurchschnittliche Bildungsinteresse, welches den Kreis der hier ausgewählten Korrespondenten in erster Linie kenn- zeichnet. Fast die Hälfte davon hatte Theologie studiert und lebte als Pfar- rer in einer reformierten Gemeinde Graubündens. Die Verbindung zum pro- testantischen Zürich mit seiner Hohen Schule und die Gemeinsamkeiten bei konfessionspolitischen Fragen schufen hier eine wichtige Grundlage für persönliche Beziehungen. Im Falle von Johannes Leonhardi, dessen brief- licher Austausch mit Scheuchzer zahlenmässig an der Spitze steht, waren auch die Konfessionspolitik und seine eigenen publizistischen Interessen von grossem Gewicht. Wie in vielen Briefen angedeutet oder vermerkt, spielte die Gegenseitigkeit von Gefälligkeiten für die Dynamik des Austauschs eine erhebliche Rolle. Als zunächst Aussenstehender und Fordernder ver-pflichtete sich Scheuchzer immer wieder ausdrücklich zu «reciprocirlichen diensten».

Zu den Handschriften

Die für die Edition benutzten Bände befinden sich in der Zentralbibliothek Zürich und ihrer Manuskript-Abteilung (Signatur: ZBZ Ms). Sie sind heute alle mit einem permanenten Link über das Internet zugänglich. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Signaturen und Internetadressen:

H 150: Briefkopien an Verschiedene (http://dx.doi.org/10.7891/ e-manuscripta-39757)

H 150a: Briefkopien an Verschiedene (http://dx.doi.org/10.7891/ e-manuscripta-16001)

H 150b: Briefkopien an Verschiedene (http://dx.doi.org/10.7891/ e-manuscripta-16002)

H 325: Briefe von Andreas Gilardon (http://dx.doi.org/10.7891/ e-manuscripta-26210); Otto Grass (http://dx.doi.org/10.7891/ e-manuscripta-26211)

H 326: Briefe von Antonio und Giacomo Picenino (http://dx.doi.org/10.7891/ e-manuscripta-37161, http://dx.doi.org/10.7891/e-manuscripta-37165);

Rudolf von Rosenroll (http://dx.doi.org/10.7891/e-manuscripta-37242) H 327: Briefe von Johannes Leonhardi (http://dx.doi.org/10.7891/ e-manuscripta-38606)

H 328: Briefe von Rudolf von Salis-Soglio (http://dx.doi.org/10.7891/ e-manuscripta-36137)

H 329: Briefe von Rudolf von Rosenroll (http://dx.doi.org/10.7891/ e-manuscripta-26223)

Zur Transkription

Angestrebt wird eine sowohl buchstabengetreue wie relativ lesbare Wiederga-be der ausgewählten Briefe. Die Transkription folgt in vielem den Regeln für das Internet-Projekt «Ad fontes».6 Hier die wichtigsten Regeln:

Besondere Buchstaben: u und v werden lautgetreu wiedergegeben, der Vokal mit u und der Konsonant mit v; der Buchstabe i erscheint vor Konsonanten und j vor Vokalen; ÿ wird ohne Punktierung als y transkribiert.

Gross- und Kleinschreibung: wir folgen den inkonsequenten Textvorlagen;

die Verwendung von Majuskeln deutet auf persönliche Akzente und ist nicht weniger leserfreundlich als eine normalisierte – für heutige Begriffe aber un-gewohnte – Kleinschreibung.

Unleserliche und durchgestrichene Stellen: unleserliche Stellen werden mit eckigen Klammern [...] und einer entsprechenden Fussnote angezeigt; durch-gestrichene Stellen finden sich meist in Briefentwürfen und können auf den Schreibprozess hinweisen; sofern lesbar, werden sie daher wiedergegeben [in der Vorlage durchgestrichen].

Abkürzungen und Hochstellungen: Abkürzungen in der Textvorlage werden mit eckigen Klammern [ ] ergänzt; hochgestellte Wörter und Wortteile erscheinen im normalen Zeilenformat.

Seiten- und Zeilenangaben: Seitenwechsel werden in eckigen Klammern ver-merkt [S. xy], Zeilenwechsel mit Schrägstrich / angezeigt. Beides ermöglicht ein schnelleres Auffinden bestimmter Stellen in den oft schwer lesbaren Brie-fen.7

Zu den Übersetzungen

Acht der präsentierten vierzig Briefe sind in der Gelehrtensprache Latein ver-fasst und vier in italienischer Sprache. Die Übersetzungen ins Deutsche folgen hier jeweils im Anschluss an die Originalvorlage und können bei Bedarf damit verglichen werden. Neben den nicht-deutschen Briefen gibt es in den Doku-menten zahlreiche anderssprachige Einschlüsse (auf Latein, Griechisch, Fran-zösisch, Italienisch). Sie werden meist in den Fussnoten ins Deutsche übersetzt.

Eine Ausnahme machen wir in gemischtsprachigen Briefen bei Anreden und Schlussformeln. Diese sind repetitiv und lassen sich nur behelfsmässig in ein

6 Transkriptionsregeln für das ICT-Projekt Ad fontes (2003); online: http://www.adfontes.uzh.

ch/2250.php

7 Die Regeln für diese Buchausgabe sind insgesamt stärker auf Lesbarkeit zugeschnitten als die-jenigen Regeln, welche für die digitale Gesamtausgabe (hallerNet.org) Anwendung finden.

zeitgenössisches Deutsch übertragen, die Schreiber entschieden sich ja bewusst für eine nicht-deutsche Variante. Typische Anreden und Schlussformeln aus den ausgewählten Briefen sind zum Beispiel:

– Vir reverende clarissime, fautor honorande (Hochgeehrter berühmter Herr, verehrter Gönner).

– Molto illustreed eccellentissimo signore signoreet patrone collendissimo (Dem sehr berühmten Herrn und hochverehrten Gönner).

– Excellentiae vostrae devinctissimus (Euer Hochwohlgeboren ergebenster Diener).

– Vôtre tres humble et tres obéissant serviteur (Euer demütigster und gehor-samster Diener).

Trotz der Formelhaftigkeit und der zahlreichen Wiederholungen sind die Be-zeichnungen aussagekräftig. In vielen Fällen bilden sie die mehr oder weniger hierarchische oder egalitäre, enge oder distanzierte Qualität der Beziehungen zwischen Korrespondenten ab.8

Zur Präsentation

Die Präsentation der neun ausgewählten Bündner Korrespondenten und ihrer mit Scheuchzer ausgetauschten Briefe hält sich an folgendes Format:

– Kurzbiografie mit Angabe der in diesem Zusammenhang wichtigen Daten und Literatur.

– Kurze Charakterisierung des Briefwechsels und Vorschau auf die ausgewähl-ten Briefe.

– Edition der Briefe in chronologischer Folge, wo nötig mit knappen erklären-den Fussnoten.

Die angeführte Literatur bezieht sich hauptsächlich auf besondere, manchmal an entlegenen Orten publizierte Beiträge. Allgemeine Nachschlagewerke wer-den in der Regel nicht speziell ausgewiesen.9

8 Vgl. Kühn 2011, S.165–166; Bulinsky 2012, S.178–179.

9 Es handelt sich vor allem um das Historische Lexikon der Schweiz (2002–2014) und dessen Bündner Ausgabe (Lexicon Istoric Retic 2010/2012), das historische Verzeichnis der evan-gelischen Pfarrer von Jakob Rudolf Truog (1935/1936) und das Verzeichnis der Scheuchzer- Korrespondenten von Rudolf Steiger (1933).