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1. Einleitung

1.5. Ausblick

Ausgehend von der grundlegenden Kritik, dass das Rückfallrisiko von Gewalt- und Sexualstraftätern anhand der unstrukturiert-klinischen Methode nicht zuverlässig eingeschätzt werden kann, haben sich in den letzten vier Jahrzehnten weitere methodische Ansätze etabliert.

Dass der mit diesen neuen methodischen Ansätzen einhergehende Grad an Strukturierung sinnvoll war, wird durch eine Vielzahl von Studien gestützt, die die Überlegenheit mechanischer und im Spezifischen aktuarischer Risk-Assessment Instrumente gegenüber der unstrukturiert-klinischen Methode ausgewiesen haben (z.B. Hanson & Morton-Bourgon, 2009). Das Hinzuziehen standardisierter Risk-Assessment Instrumente wurde beispielsweise in Deutschland zur Qualitätssicherung inzwischen in die Mindestanforderungen von ‚Prognosegutachten’

aufgenommen (Boetticher et al., 2007). Wenngleich es eine breite empirische Absicherung für die Überlegenheit der mechanischen und aktuarischen Risk-Assessment Instrumente gegenüber der „freihändig“ durchgeführten Risikobeurteilung gibt, muss beachtet werden, dass auch diese Instrumente im Durchschnitt nur ‚moderate’ Trennschärfen erzielen (z.B. Hanson & Morton-Bourgon, 2009; Kroner & Mills, 2001; Langton et al., 2007; Messing & Thaller, 2013;

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Rettenberger, Matthes, Boer, & Eher, 2009). Ferner müssen die berichteten Validitätswerte vor dem Hintergrund heterogen gestalteten Studiendesigns kritisch diskutiert werden. Dazu gehört auch, dass die praktische Relevanz der für die publizierten Risikonormen zweifelhaft ist, da die wenigen, die Kalibrierung untersuchenden Studien die Übertragbarkeit der Normen auf andere Stichproben derzeit in Frage stellen. In den Zürcher Untersuchungen zum SORAG und ODARA ergibt sich bis auf eine allgemeie Überschätzung der Rückfälligkeit allerdings kein einheitliches Bild bezüglich der kategorienspezifischen Abweichungen der Rückfallraten. Während in der Stichprobe der Sexualstraftäter schon von vornherein ein grundlegender Unterschied in der Basisrate von Rückfälligkeit zwischen Entwicklungs- und Replikationsstichprobe besteht, liegt anhand des ODARA bei einer vergleichbaren Basisrate erneuter Intimpartnergewalt vor allem eine Überschätzung des Rückfälligkeit in den hohen Risikokategorien vor. Das heißt, dass es eine „zu geringe“ Rückfallrate in den höheren Risikokategorien ist, die die Trennschärfe beeinträchtigt.

Eine mögliche Erklärung für die Abweichungen könnte in der atheoretischen Konstruktionsweise liegen, durch die das Instrument kein inhaltliches Konstrukt, sondern lediglich Korrelate mit Rückfälligkeit über einen langen Beobachtungszeitraum hinweg abbildet und damit dynamische, risikoverändernde Prozesse nicht erfasst werden können. Dies scheint vor allem deshalb relevant, da es sich in beiden Zürcher Stichproben um vergleichsweise interventionsintensive Stichproben handelt. In diesem Sinne läge dann zwar keine initiale Fehlbeurteilung des Rückfallrisikos durch das Instrument vor, aber eine Unterschätzung dynamischer Prozesse, die im weiteren Verlauf den Zusammenhang zwischen Rückfallrisiko und Rückfälligkeit beeinflussen könnten. So konnten Belfrage et al. (2012) zeigen, dass die Höhe des Rückfallrisikos mit der Intensität von Interventionen korreliert und diese das Vorkommen von

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EINLEITUNG _____________________________________________________________________________________

Rückfälligkeit höchstwahrscheinlich mediieren. Allerdings steht noch weitgehend infrage, welche durch Interventionen veränderbare Merkmale tatsächlich mit Rückfälligkeit zusammenhängen (vgl. Quinsey et al., 2006). Zu dieser Skepsis geben auch die Befunde der vorgestellten Zürcher Studie zum DyRiAS Anlass sowie eine Übersichtsarbeit zum dynamischen Risk-Assessment Instrument STABLE-2007 (Hanson et al., 2007), die zusammenfassend beschreibt, dass der Gewinn der Erhebung dynamischer Risikomerkmale zur Bestimmung rückfallrelevanter Veränderungen noch nicht aufgezeigt werden konnte (Eher, Matthes, &

Rettenberger, 2012). Sollten dynamische Risikomerkmale das Ergebnis eines Risk-Assessments zu Beginn des Beobachtungszeitraum in gewisser Weise von den tatsächlichen Rückfalldaten am Ende des Beobachtungszeitraumes „entkoppeln“, ist es plausibel anzunehmen, dass die Kriteriumsvalidität dieser Risk-Assessment Instrumente in Abhängigkeit der Intensität der Interventionen variiert und daher weder die Instrumente für eine Anwendung bei Therapiepopulationen im Verlauf noch die Therapiepopulationen für die Überprüfung der Validität geeignet sind. Vor diesem Hintergrund wäre eine Erweiterung der bestehenden ODARA- und SORAG-Risikomodelle um dynamische Risikomerkmale, wie es schon anhand des STABLE-2007 vorgeschlagen wurde, zu überdenken. Der STABLE-2007 wird mit seinen dynamischen Risikomerkmale, die sich auf die ‚kriminogenen Bedürfnisse’ gemäß RNR-Prinzip beziehen, als Ergänzung zum Static-99 angewendet und stellt damit eine Ergänzung zum ausschließlich statischen Risk-Assessment dar.

Eine weitere Erklärung für die unzureichende Kriteriumsvalidität könnte darin liegen, dass die konkreten Risikomerkmale, die sich in den kanadischen Stichproben mit Rückfälligkeit als zusammenhängend erwiesen, nicht im gleichen Ausmaß zur Risikobeurteilung im Kanton Zürich geeignet sind und wie im Beispiel des ODARA zu einer geringen Spezifität des Instrumentes und

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damit Überschätzung des Risikos führen. Während die Rückfallrate in der niedrigsten Kategorie des ODARA in der Zürcher Stichprobe bei 0% liegt, steigt sie bis zur höchsten Kategorie nur auf 45% an. Das heißt, weniger als die Hälfte der Täter der ‚Hochrisiko’-Kategorie werden rückfällig und die über das ODARA erfassten Merkmale sind für diese Kategorie offensichtlich zu unspezifisch. Bis jetzt ist es noch unklar, ob ein valideres Modell anhand einer Adaption oder Erweiterung des ODARA um andere Riskomerkmale zu ermöglichen wäre oder nicht eher die Erarbeitung mehrstufiger Risk-Assessment Strategien notwendig wäre, bei denen zunächst eine grundlegende Risikodisposition im Rahmen eines Screenings zur Triage ermittelt werden und darauffolgend bei als ‚Hochrisiko’-Tätern eingeschätzten Personen eine vertiefte Abklärung unter Einbezug spezifischerer Merkmale erfolgen könnte. Ein erster Vorschlag diesbezüglich wurde von den Autoren des ODARA vorgebracht, indem im Anschluss des ODARA bei Erreichen eines spezifischen Grenzwertes der Domestic Violence Risk Appraisal Guide (DVRAG; Hilton, Harris, & Rice, 2010) angewendet werden soll, der zum einen eine spezifischere Gewichtung der ODARA Items und zum anderen den Einbezug der Psychopathy Checklist – einer Checkliste zur Erfassung des Konstrukts der Psychopathie gemäß Hare (2003) – vorsieht. Allerdings liegt noch keine einzige peer-reviewed publizierte Replikationsstudie vor, die die Eignung des mehrstufigen ODARA/DVRAG Risk-Assessment Systems bestätigen würde.

Prospektive Studien zur Erfassung dynamischer Prozesse sowie spezifische Analysen innerhalb von Hochrisikopopulationen sollten Gegenstand zukünftiger Studien zur Optimierung der Risk-Assessment Strategien im Kanton Zürich sein.

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CURRENT OBSTACLES IN REPLICATING RISK ASSESSMENT FINDINGS _____________________________________________________________________________________