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Ausblick: Zu einer Poetik des Dialogs

Im Dokument in der Germanistik weltweit (Seite 195-200)

3.2 »Flimmerhaar«, »Flimmertier«

4. Ausblick: Zu einer Poetik des Dialogs

Obwohl in Deutschland geboren, zeichnet sich der Autor als Pendler zwischen Or-ten aus, wobei seine Dichtung (auch) sein autobiographisches Unterwegssein er-kunden soll. Zwischen Deutschland und Spanien, das ihm als Herkunftsland sei-ner Familie und »Sommerheimat« (Oliver 2007: 97) vertraut ist, werden nicht nur Verbindungsfäden meridianartig gewoben, sondern klaffen auch Leerräume und Unbestimmtheitsstellen, »ein Niemals-immer« (ebd.: 108 [Herv. im Original]), die Anlässe zu rekurrierenden Fragezeichen geben. Die zwei Orte tauchen vor allem als seelische und lyrische Topographien auf, die dem Ich so vorkommen, als wür-den sie kreisförmig von einem zum anderen und damit zum Selbst führen. Wenn der von seinen Eltern begangene Auswanderungsweg rekonstruiert werden muss, so wird darin ein Selbstfindungsprozess als zyklische Rückkehr geschildert: »die Rückkehr nach Spanien von Deutschland nach Deutschland.« (Ebd.) Das Endziel ist »ein Irgendort, der vielleicht Zukunft heißen würde« (ebd.: 101 [Herv. im Origi-nal]). Der Essay endet mit dem Bild einer Bibliothek, das auf eine andere Art von Dialog hinweisen soll. Es handelt sich um den bereits beschworenen intertextuel-len Dialog, in dem »die Unstummen« (und hier zählt Oliver eine Reihe bedeuten-der Vertreter spanischer Dichtung auf: Unamuno, Lope de Vega, Cervantes, Lorca usw.) »wohl mit sich selber reden« und in einem »heimlichen Dialog« »untereinan-der verkehren« (ebd.: 112). Bleibt dieser unstumme Dialog aber nicht etwa auf »untereinan-der Ebene eines Monologs, wenn Dichtung nur die Beschäftigung eines Kreises von Eingeweihten ist? Um dies zu vermeiden, schlägt Oliver einen in die Gegenwart gebrachten Dialog mit der Tradition vor, den er selbst durch seine intertextuelle Rezeption und Auseinandersetzung mit der Moderne in die Wege leitet.

Der Essayband endet mit dem Text und wir im bittgebet und Der Versuch, einen Brief zu schreiben, oder wie und wann ein Gedicht entsteht. Nicht umsonst wurde sie ans Ende platziert, da sie die wichtigsten Merkmale der Poetik Olivers

zusam-Interkulturell, intertextuell: wie José F.A. Oliver ein Erbe (Lorca, Benn, Celan) fortsetzt 195 menfasst und seine Kunstauffassungen auf einen Punkt bringt. Jemand hatte den Dichter um eine Rezeptur des Schreibens gebeten. Die Antwort darauf lautet: »Es gibt kein Rezept. Nur Sprache, die anrichtet. Es gibt kein Rezept, nur Wort-Takt-Uhr, die Intervalle dazwischen, zwischen den Wortschlägen und eine Sprache, die Zeit nachspurt und Spuren legt ins NachZeitige.« (Ebd.: 114-124, hier: 115)

Oliver scheint, gemäß dieser Aussage zusammen mit Benn dem absoluten Gedicht Mallarmés Rechnung zu tragen, das künstlich aus klangvollen Lauten gemacht wird und aufs Überzeitliche abzielt. Doch die ausführenden Gedanken des als Collage von Prosa- und Gedichtstücken verfassten Essays lenken die Erwä-gungen in eine andere Richtung. Zugleich ist das Gedicht, das sonst in keinem der Gedichtbände Olivers erscheint, als Synthese und Zusammenfassung seiner Ars poetica zu betrachten, die hier ihre Bestätigung erfährt. In der Dichtung schlagen sich Stille, Schweigen und Schrei nieder. Im Wort lässt sich das Ich nicht nur ver-worten, sondern auch verorten, erhält in der Kunst seine wahre Identität und sein immergeltendes Zuhause. Dieses Ich bleibt jedoch in diesem ästhetischen Elfen-beinturm nicht eingesperrt, sondern öffnet sich dem Du, der Geschichte und der Gesellschaft gegenüber, ist sogar gewillt, sich ins Du zu legen, sich aus den Quel-len der Vergangenheit zu speisen und hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken.

ein gedicht entsteht dort, wo uns die augen her-buchstabieren, unverhofft

ein gedicht entsteht dort, wo das ohr sich stille nach-wiegt. Hörstille der NOT & KUNFT ins Sprechen dennoch ein gedicht entsteht dort, wo ich im W:ort

& baren sich fortschreibt. Ich schreibe mich ins WORT und umgekehrt. Schreigestützt  die hoffnung

neu erfinden im gedicht. Ein Ich ins Du gelegt, das mich sagt im Du. (ebd: 124)

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