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aus psychologischer und theologischer Sicht

Im Dokument Macht und Ohnmacht in der Kirche (Seite 31-44)

Hans Zollner SJ

Der Missbrauch Minderjähriger erschüttert die Kirche. Wo immer heute von Kirche die Rede ist, steht unwillkürlich das Wort „Krise“

im Raum, beispielsweise bei dem seit Jahren beklagten Mitglieder-schwund oder dem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust. Mit der

„Missbrauchskrise“ stellt sich nun aber die Frage nach den struktu-rellen Bedingungen klerikalen Machtmissbrauchs, dessen Abgründe in ihrem ganzen Ausmaß erst allmählich zutage treten. Man mag sich angesichts des vielfältigen Missbrauchs amtlicher und geist-licher Macht von der Kirche abwenden, oder man erkennt in der Krise den Kairos für eine grundlegende Reform kirchlichen Lebens wie des kirchlichen Amtes. Die Erneuerung des geistlichen Amtes muss mit einer neuen Kultur des Kirche-Seins einhergehen: einer neuen Volk-Gottes-Theologie, in welcher der Platz des Priesters, sei-ne Aufgabe und Lebensform in der gemeinsam getragesei-nen Verant-wortung des gesamten Gottesvolkes neu bedacht werden.

Die derzeitige Situation ist geprägt von der Wahrnehmung, dass die Kirche und ihre amtlichen Repräsentanten – in erster Linie Kleriker – allmächtig waren oder sind, bzw. dass sie die Macht, die ihnen qua Amt übertragen wurde, unkontrolliert und eigennützig ge-braucht haben. Dies und die undurchsichtige Struktur und die nicht nachvollziehbaren Abläufe lassen viele Menschen innerhalb wie au-ßerhalb der Kirche mit dem Gefühl der Ohnmacht zurück. Deshalb wird die Forderung nach einer Abkehr von einer Kultur des Klerika-lismus laut, die einhergehen soll mit der Beteiligung von Laien und einer Verantwortungsübergabe an sie auch in bisher Klerikern vor-behaltenen Bereichen von Verwaltung und Organisation. In einigen Ländern, in denen der Missbrauchsskandal seit Jahren oder Jahrzehn-ten ein beherrschendes Thema ist, kam in den letzJahrzehn-ten drei Jahren der starke Eindruck hinzu, dass die Hierarchie in der Kirche – besonders die Bischöfe – entweder den Ernst der Lage und die Enttäuschung vie-ler engagierter Katholik(inn)en nicht verstehen oder unfähig oder

un-willig sind, konsistent und stringent die dringend gebotenen Kon-sequenzen zu ziehen. Das vorherrschende Bild ist hingegen, dass sich die Kirchenleitung auch weiterhin isoliert und in einer Wagenburg-mentalität zu „überwintern“ versucht – was wiederum als Verweige-rung gesehen wird, über Gewaltenteilung und andere Wege der teil-weisen Machtübergabe überhaupt nachzudenken.

Wenn es um Macht geht, muss mit Michel Foucault (1926–1984) daran erinnert werden: „Macht [ist] überall und kommt von überall“1– die Frage laute nicht, „wie Macht sich manifestiert, son-dern wie sie ausgeübt wird“2. Es gibt im menschlichen Leben keinen machtfreien Raum. Macht ist also nicht so sehr etwas, was man be-sitzt, sondern was manausübt. Damit stellt sich neben der Frage,wer sie besitzt, auch und vor allem die Frage,wieer oder sie diese Macht ausübt. Das gilt besonders dort, wo sie mit einer übergeordneten oder als unantastbar empfundenen Machtposition verbunden ist. Macht ausüben heißt, jenen, die sich innerhalb des jeweiligen Machtberei-ches befinden, Anweisungen geben zu können, wie sie sich zu verhal-ten bzw. was sie zu tun haben. Macht wird asymmetrisch ausgeübt:

Ein Vorgesetzter befindet „über“ einen Untergebenen. Das aber kann auf unterschiedliche Art und Weise geschehen: für alle Beteiligten för-derlich oder akzeptabel oder missbräuchlich.

Dort, wo Macht missbraucht wird, fühlen sich die Betroffenen ohnmächtig. Ohnmacht ist das Gefühl von Hilflosigkeit und man-gelnden Einflussmöglichkeiten im Verhältnis zu eigenen Wünschen und Vorstellungen und geht normalerweise mit Angst, Wut und Frustration einher. Wenn die Ohnmachtserfahrung extreme Formen annimmt, kann dies zu einem Trauma führen, das im ICD-103 als

„belastendes Ereignis oder Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Aus-maß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“,

1 M. Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 1983, 94.

2 M. Foucault, Subjekt und Macht, in: M. Foucault, Analytik der Macht, hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange, Frankfurt a. M. 2005, 240–263, hier: 251.

3 Abkürzung für die aktuell gültige zehnte Revision derInternational Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, des wichtigsten, weltweit anerkannten Klassifikationssystems für medizinische Diagnosen, hg. von der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization [WHO]).

definiert wird. Viele Betroffene von sexuellem Missbrauch in der Kirche wurden durch ihre leidvollen Erfahrungen zutiefst ohnmäch-tig und traumatisiert zurückgelassen.

1 Macht und sexualisierte Gewalt

Wie drückt sich sexualisierte Gewalt aus? In einem bestimmten Ver-halten; sie wird in eine objektive Tat umgesetzt, die spürbar und sichtbar ist. Aber das ist nicht das Einzige. Man kann bestimmte Dinge nicht messen, weil sie nur als subjektiv Erlebtes wahrgenom-men, dargestellt und bewertet werden können. Im Zusammenhang mit unserem Thema der sexualisierten Gewalt heißt das auch, dass bestimmte Erfahrungstiefen nie ergründet werden können. Wie stark ist der Schmerz? Wie tief ist eine Verwundung? Wie schwer wiegen auf einer Seele die Enttäuschung, die Entfremdung und der Verlust der Vertrauensfähigkeit? Das kann nicht objektiv gemessen werden. Jeder Mensch erlebt das unterschiedlich, und hier wirken kulturelle und kontextuelle Faktoren mit auf das Erleben ein. Wie mit einem Mädchen in einem afrikanischen Land, in ihrem Stamm und ihrem Clan umgegangen wird, wenn sie 12 oder 13 Jahre alt ist und ihre erste Menstruation gehabt hat, wenn sie dann verheiratet wird, obwohl staatliche Gesetze und die UN-Kinderrechtskonventi-on, die dieser Staat unterschrieben hat, besagen, dass eine Heirat erst ab 18 möglich ist, dann sieht man, wie auch jenseits von Gesetzen und offiziellen Normen Kinder oder Jugendliche – in diesem Fall ge-rade in die Pubertät hineinkommende Minderjährige – tatsächlich behandelt werden. Auf der anderen Seite gibt es unaufgebbare Krite-rien für das, was als sexualisierte Gewalt betrachtet wird, die unab-hängig vom Kontext gelten und die jeder vernünftige Mensch auch innerhalb einer bestimmten Kultur versteht: Die Vergewaltigung eines fünfjährigen Jungen ist sexualisierte Gewalt in jedem Land und unter jedem Umstand.

In unseren Breiten haben viele den Eindruck, dass über Sexualität

„frei“ und „ungezwungen“ gesprochen werden kann. Die „sexuelle Befreiung“ seit dem Ende der 1960er-Jahre hat zweifellos dazu bei-getragen, dass der offensichtlich repressive Umgang mit Sexualität und die Scheu vor dem Zeigen von Intimität abgelegt wurden. Ob Sexualität und das, was an Energie, Macht, Bedeutung und

Unbän-digkeit in ihr liegt, damit besser ins Leben von Individuen sowie ins Gesamt einer Gesellschaft bzw. der Menschheitsfamilie integriert werden konnte, erscheint angesichts des enormen weltweiten Porno-grafiekonsums und der horrenden (Fall-)Zahlen in Bezug auf den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen4höchst zweifelhaft.

Ob und wie es überhaupt möglich ist, über Sexualität und sexuelles Fehlverhalten oder diesbezügliche Verbrechen im öffentlichen und im familiären Diskurs zu sprechen, hängt viel von gesamtgesellschaftlichen Empfindungen und Entwicklungen ab. Immer noch gehört dieser Le-bensbereich zu dem am meisten schambehafteten in sehr vielen (Sub-) Kulturen der Welt. Auch im vermeintlich freizügigen „Westen“ ist die

#MeToo-Bewegung erst im Oktober 2017 ins Rollen gekommen, ob-wohl der sexualisierte Machtmissbrauch durch Medienmogule von Hollywood jahrzehntelang ein offenes Geheimnis war. Offensichtlich gab (und gibt) es gewaltige Widerstände, die ein Benennen, Bekämpfen und Bestrafen dieser Verbrechen verhindern können.

Meinem Eindruck nach sind viele Teile der Weltkirche in vielen Ländern des Erdenrundes noch nicht so weit, in der Öffentlichkeit über sexuelle Gewalt angemessen zu reden, weil es so tabubehaftet, schmerzlich und verstörend ist. Das hat sicherlich damit zu tun, dass sexualisierte Gewalt sehr oft mit dem Missbrauch einer Machtposi-tion verbunden ist. MachtposiMachtposi-tionen und asymmetrische Machtaus-übung können förderlich, akzeptabel oder missbräuchlich sein. Die entscheidenden Fragen sind: Wann wird die Machtposition für die eigene Bedürfnisbefriedigung ausgenutzt? Wann führt die asymme-trische Machtdynamik zwischen einem Kirchenvertreter bzw. einer Kirchenvertreterin und einem Minderjährigen oder erwachsenen Schutzbefohlenen dazu, dass Sexualität instrumentalisiert wird?

Dazu ist zu bedenken, dass die Sexualisierung dieser Art von Bezie-hung ein Verstoß gegen die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Person ist, dass es um die Übertretung von natürlichen und norma-len Grenzen im Verhältnis zweier Menschen geht und dass es sich um die Verletzung der Intim- und der Beziehungssphäre handelt.

Sexualität ist weit mehr als nur der sexuelle Akt. Sie dient vielfach dazu, auch andere tief sitzende Bedürfnisse zu befriedigen wie die

4 Die Kampagne „One in five“ des Europarats spielt schon in ihrem Namen da-rauf an, dass laut Untersuchungen durchschnittlich eines von fünf Kindern in Europa Opfer irgendeiner Form von sexueller Gewalt ist.

nach Anerkennung, Nähe und Zuwendung, aber auch nach Bestäti-gung und Dominanz. Das ist besonders fatal, wenn sich diese in se-xuellem Begehren und Agieren oft verborgenen und unbewussten Bedürfnisse nicht nur mit Machtstreben, sondern auch mit einer scheinbar unangreifbaren Machtposition verbinden.

2 Macht im kirchlichen Kontext

In der Wahrnehmung und Diskussion über die Wurzeln sexualisier-ter Gewalt durch Amtsträger in der Kirche spielt der Klerikalismus eine prominente Rolle. Viele nehmen wahr, dass Priester und Bi-schöfe direkt oder indirekt kommunizieren: „Ich repräsentiere Christus und die Kirche(und niemand anderer hier).“ – „Ich brau-che niemanden, der mir sagt, wo es lang geht.“ – „Ich kann mir neh-men, was ich will, ich verzichte eh auf so viel.“ – „Niemand darf mich kritisieren.“ – „Die Medien greifen uns an, das ist ein Zeichen, dass wir in der Nachfolge des Gekreuzigten stehen.“ – „Die da drau-ßen verstehen uns nicht.“ – „Meine Berufung ist das Dienen(in ei-ner als unumschränkt wahrgenommenen Machtposition).“ – „Ich brauche mich nicht zu rechtfertigen, ich habe ein reines Gewissen, ich kann das mit meinem Herrgott klären.“ Dies und noch mehr könnte man unter der Überschrift „Klerikalismus“ subsumieren:

ein Anspruchsdenken also, das sich allein aus dem priesterlichen oder bischöflichen Amt ergibt, als ob dies ein Grund wäre, sich höherwertig fühlen und weitreichende Ansprüche geltend machen zu können.

Dazu ist zu bedenken, dass damit Bilder „mitschwingen“, die mit dem Priester-Sein an sich zusammenhängen, auch transkulturell und interreligiös. In allen größeren Kulturen gibt es Priester oder priester-ähnliche Personen und Rollen, die aufgrund ihrer spirituellen Funk-tion eine besondere Verehrung und Privilegien genießen. Das muss nicht so ausschauen, wie es in der katholischen Kirche ausschaut.

Das gibt es bei den Naturreligionen auch mit anderen Namen, For-men und Riten. Aber wenn es um die Rolle und das Amt des Priesters an sich geht, schwingen viele dieser transkulturellen Bilder, Symbole, Identifikationen und Projektionen mit. Das katholische Priesterbild hat in den vergangenen 2 000 Jahren viele Veränderungen erlebt.

Das Priesterbild von vielen, die in katholischen Milieus unserer

Breiten – genauso wie in Irland, den USA oder Australien – auf-gewachsen sind, ist gerade dabei, zusammenzubrechen. Es verändert sich, während wir darauf schauen. Dort, wo früher absolutes Ver-trauen gegenüber Priestern und der Kirche vorherrschte, greift nun abgrundtiefes Misstrauen, wenn nicht gar Verachtung um sich. Der Grund ist, dass klar vor Augen getreten ist und darüber gesprochen wird – Warum erst jetzt? Warum gerade jetzt? Darauf weiß niemand so recht eine Antwort –, dass der Zusammenhang von spiritueller, theologisch zugeschriebener und kirchenrechtlich sanktionierter Macht dazu beigetragen hat, sexualisierte Gewalt über Jahrzehnte und Jahrhunderte zu decken, zu vertuschen und zu verleugnen.

Hier ist theologisch und psychologisch zu reflektieren, wie diese un-terschiedlichen Ebenen oder Stränge zusammengewachsen sind und wie sie sich negativ oder sogar zerstörerisch verbinden konnten.

Wenn die Verbindung von Gemeindeleitung und sakramentalem Dienst dazu führt, dass der Priester allzuständig ist und er sich mehr und mehr allmächtig fühlt, dann wird offensichtlich über kurz oder lang auch die spirituelle Ebene in eine Schieflage geraten. Dann ist die Versuchung offenbar sehr groß, nicht auf Christus und seine Erlösungstat hinzuweisen, sondern sich selbst als an seiner Allmacht partizipierend darzustellen und dies auszunutzen. Das hat zweifellos in der Selbst- und in der Fremdwahrnehmung zu einer Überhöhung, zu einem Gefühl der Unantastbarkeit und zu folgender Anspruchs-haltung geführt: „Weilich Priester bin, deshalb darf ich mir nehmen, was mir passt. Nicht, weil ich Gott suchen und Christus folgen will, nicht, weil ich mehr reflektiert hätte, nicht, weil ich mehr über den Glauben nachgedacht habe, nein, sondern schlicht,weilich Priester bin, allein deshalb steht mir das zu.“

Das sind mehr oder weniger stark ausgeprägte Zeichen von narzisstischen Persönlichkeitselementen. Wichtige Fragestellungen in diesem Zusammenhang sind: Wie wird das befördert durch eine bestimmte Art der Ausbildung, durch eine bestimmte Art der Theo-logie, durch eine bestimmte Art der Organisationsstruktur? Wie aber wird dies reflektiert, und wie wird es verändert? Ich habe mich auch über Jahre gefragt, warum Menschen so besonders scharf rea-gieren, wenn es um sexuelle Gewalt durch Priester geht. Denn wenn man in die Statistiken hineinschaut, weiß man, dass 95 Prozent aller sexuellen Gewalt im familiären Kontext geschieht. Vergleichszahlen zu Schullehrern, Ärzten, Psychologen liegen nicht vor, aber aller

Wahrscheinlichkeit nach sind die Proportionen von Missbrauchs-tätern unter diesen nicht sehr verschieden. Die katholischen Kleriker sind nun mal die einzigen, von denen wir belastbare Zahlen haben, weil es die einzige Berufsgruppe weltweit ist, die in Bezug auf Miss-brauchstäter ein solches dezidiertes wissenschaftliches Interesse her-vorgerufen hat. Jeder Fall, den wir in den Nachrichten hören und lesen zu einem katholischen Priester, der missbraucht hat, führt zu verbaler Aggression, zu Verbitterung, Verzweiflung. Verständlicher-weise, denn die Fallhöhe für Priester ist größer als für Schullehrer, Polizeibeamte oder Sporttrainer. Der moralische und religiöse An-spruch ist fundamental anders. Wo dieser AnAn-spruch nicht eingelöst wird, ist klar, dass die Leute deutlich mehr enttäuscht sind, vor allem in jenen Gegenden und unter jenen Prämissen, in bzw. unter denen man von Priestern sowieso mehr erwartet hat – mit Blick auf das Erfüllen des moralischen Standards, den sie predigen und ein-fordern – und ein Grundvertrauen hatte, das nicht angefragt wurde.

Insofern ist der Missbrauch – und das habe ich über die Jahre gelernt –, der von Klerikern ausgeübt wird, schwerwiegender.

3 Kultur der Macht innerhalb der Kirche

Als das Treffen der Vorsitzenden der Bischofskonferenzen und der Generalober(inn)en von Februar 2019 vorbereitet wurde, war klar, dass kritisch auf die strukturellen und institutionellen Komponen-ten geschaut werden muss, die den Missbrauch und seine Ver-tuschung ermöglicht haben. Das Zauberwort, das aus der ame-rikanischen Diskussion kommt, heißtaccountability – zu Deutsch:

„Rechenschaftspflicht“.

Als versucht wurde, das Wortaccountabilityins Italienische, Spa-nische, Französische oder Portugiesische zu übersetzen, ergab sich, dass man zwar umschreiben kann, was gemeint ist, dass es aber kein äquivalentes Substantiv in einer dieser vier Sprachen gibt, das „Re-chenschaftspflicht“ im hier gebrauchten Sinn wiedergeben könnte.

Wenn ich für ein Wort, wenn ich für eine Tatsache keinen Begriff habe, was bedeutet das? Es bedeutet, dass ich nicht darüber nach-denke und nicht darüber rede. Die Kultur der Rechenschaftspflicht ist ausgeprägt im angelsächsischen Raum und zum Teil auch im deutschsprachigen Raum, sie lässt sich z. B. nicht leicht in den

ka-tholischen Ländern Italien, Spanien, Brasilien, Kongo oder Mexiko finden.

Im Blick auf Macht lautet die Frage: Wem gegenüber bin ich re-chenschaftspflichtig? Interessanterweise – und das gehört schon zu diesen Paradoxien – findet man innerhalb der katholischen Kultur der Kirche, der Kirchenorganisation und ihrer Struktur sehr leicht das Phänomen von Abschiebung von Verantwortung und Verant-wortlichkeit: „Ich bin es nicht gewesen.“ Und die „Perfektionierung“

dieses Vorgehens ist im Vatikan anzutreffen.

Man schreibt einen Brief und man erwartet eine Antwort. Nach zwei Monaten kommt sie, aber man weiß nicht, wer alles diesen Brief gesehen hat, wer da alles mitgeschrieben hat. Natürlich steht am Ende eine Unterschrift, die bestätigt, was geschrieben steht. Man kann aber sicher sein, dass das Geschriebene durch fünf andere Büros gelaufen ist, und man weiß nicht durch welche, und am Schluss übernimmt für das Geschriebene nicht wirklich jemand Verantwortung.

Die Maßstäbe, an denen Vergehen und Verbrechen gegenüber Kindern gemessen werden, sind sehr verschieden zu dem, was Ver-stöße gegen die kirchliche Sexualmoral allgemein angeht. Gute Bei-spiele sind in diesem Zusammenhang das Thema Verhütung oder die Frage der Wiederverheiratung von Geschiedenen. Da werden in-nerkirchlich andere Standards angelegt. Sehr oft wurde in den letz-ten Jahrzehnletz-ten sehr leicht von der Vergebung gesprochen. Dies gilt aber nur für die geweihten Repräsentanten der Institution Kirche, nicht jedoch für diejenigen, die als sog. Laien nicht den kirchlichen Vorgaben in der Sexualmoral folgen. Laien erfahren oftmals viel we-niger Verständnis und Vergebung als Kleriker, obwohl jene Kleriker sich mit ihrem Verhalten durch Missbrauch weit mehr schuldig ge-macht haben als die Laien mit vergleichsweise weniger schwerwie-genden Vergehen. Es gibt gerade bei Klerikern diesen Entschuldi-gungsmechanismus, wo leicht dahingesagt wird, man müsse doch einem Missbrauchstäter vergeben können. Er habe sich moralisch zwar schuldig gemacht, aber wenn er das bekenne, dann sei es doch gut. Dann müsse man ihn doch wieder aufnehmen in die kirchliche Gemeinschaft und in den kirchlichen Dienst. Das ist natürlich in ge-wisser Weise auch richtig. Aber dies ist nur dann gerechtfertigt, wenn vorher die notwendigen Schritte messbar und nachvollziehbar unternommen wurden, um so weit als irgend möglich Gerechtigkeit zu schaffen.

Kirchlich gesprochen, in der Logik der Theologie des Sakraments der Versöhnung heißt das: Es braucht vor der Vergebung die echte Reue, ein klares Bekenntnis und den Versuch und das Bemühen um eine Wiedergutmachung. Wo dies alles fehlt, fehlen wichtige Ele-mente, dass das Sakrament der Beichte überhaupt erst gültig ist. Be-zieht man dies auf die Kirche insgesamt, muss man sich fragen: Wo gab es ein Zeugnis von einer tiefen Reue, ein klares Bekenntnis zu Schuld und eine eindeutige Wiedergutmachung? Erst dann können wir im Kontext von Missbrauch über Vergebung reden. Stattdessen wurde – und zum Teil wird auch heute noch – geleugnet und ver-leugnet und man verweigert sich der Zusammenarbeit mit den staat-lichen Stellen und mit den Medien. Man hat letztlich Angst. Die so mächtige Institution Kirche und ihre so mächtig erscheinenden Re-präsentanten fühlen sich sehr oft selbst ohnmächtig dem Staat, der Polizei, der Staatanwaltschaft und den Medien gegenüber.

4 Trauma und Ohnmacht

Viele Betroffene sagen, dass sie die sexualisierte Gewalt vor allem als Machtmissbrauch erlebt haben. Viele formulieren: „Der sexuelle Akt war schlimm, schmerzhaft, schamhaft. Was mich aber am meisten ge- und betroffen hat, war, dass ich nicht ausweichen konnte, dass der, der mich missbraucht hat, übermächtig war.“

Die tiefste Wunde war für viele der Verlust des Vertrauens, des Glaubens und einer verlässlichen Gottesbeziehung. Es muss die erste Aufgabe der Kirche sein, darauf zu achten, dass Menschen, die dazu geweiht sind und die entsprechende Machtposition erhalten haben, das Evangelium zu verkünden und Sakramente zu feiern, damit die Schwachen, die Kranken und die Verlassenen das Leben haben, das Leben von Kindern und Jugendlichen nicht schädigen und

Die tiefste Wunde war für viele der Verlust des Vertrauens, des Glaubens und einer verlässlichen Gottesbeziehung. Es muss die erste Aufgabe der Kirche sein, darauf zu achten, dass Menschen, die dazu geweiht sind und die entsprechende Machtposition erhalten haben, das Evangelium zu verkünden und Sakramente zu feiern, damit die Schwachen, die Kranken und die Verlassenen das Leben haben, das Leben von Kindern und Jugendlichen nicht schädigen und

Im Dokument Macht und Ohnmacht in der Kirche (Seite 31-44)