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1. Einleitung

1.3. Somatoforme Störungen

1.3.8. Kognitives Modell zur Ätiologie und Pathogenese somatoformer Störungen

1.3.8.3. Aufrechterhaltende Faktoren

Mehrere Studien beschreiben, dass für die Entwicklung somatoformer Beschwerden vor allem die individuelle Bewertung und der Umgang damit ausschlaggebend sind.295 In dem kognitiv-behavioristischen Modell von Deary und Kollegen wird beschrieben, dass die spezifischen kognitiven Prozesse wie Sensibilisierung, Aufmerksamkeit, Attribution, sowie weitere spezifische Aspekte der Krankheitswahrnehmung und des Krankheitsverhalten der somatoformen Patienten in Studien schwierig isoliert zu betrachten sind und miteinander zu interagieren scheinen.270 Zu den aufrechterhaltenden Faktoren lassen sich zudem auch noch eine soziale Komponente sowie eine mögliche iatrogene Fixierung zählen.

Sensibilisierung

Die kognitiv-behaviorale Theorie beschreibt eine erhöhte Sensibilisierung auf bestimmte Stimuli aufgrund früherer Erfahrung.270 Das bedeutet im Fall der körperlich unerklärten Symptome, dass normale Körperempfindungen der Patienten z.B. als Schmerz missinterpretiert werden. Zusätzlich zu den beschriebenen genetisch individuell ausgeprägten Schmerzpfaden276 kann die Schmerzempfindung in Folge einer Langzeitpotenzierung im spinalen nozizeptiven System sensibilisiert werden, obwohl das ursprüngliche Schmerzereignis nicht mehr vorhanden ist.296 Die Autoren nehmen an, dass nicht nur akute Schmerzereignisse, sondern auch eine erhöhte Aufmerksamkeit auf die Beschwerden, sowie Depressionen, Angst und Stress diese Schwelle senken können.

Ein wichtiges biologisches Korrelat wird in der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) gesehen. Akuter Stress wirkt sich hier auf das hormonelle System aus, welches in der HPP-Achse eine Kaskade mit vermehrter Ausschüttung von Cortisol auslöst. Man nimmt an, dass bei lange anhaltendem Stress eine Art Überlastungssituation dieses Systems eintritt und der Cortisolspiegel abfällt, was in die Trias

„Schmerz, Abgeschlagenheit und Stresssensitivität“ münden könnte.270,297

44 Aufmerksamkeit, Attribution und Krankheitsverhalten

Rief und Barsky beschreiben als ersten Schritt eine Entstehung von Körperempfindungen durch multifaktorielle Faktoren wie eine generelle Übererregbarkeit, chronische Stressoren mit der erwähnten Beeinflussung der HPA-Achse und erhöhte Aufmerksamkeit.298 Im weiteren kognitiven Wahrnehmungsprozess werden auch physiologische oder harmlose Dysfunktionen so betrachtet, als seien sie pathologisch und potentiell gefährlich. Patienten mit einer somatoformen Störung scheinen also ihre Körperfunktionen intensiver wahrzunehmen, ängstlicher darauf zu reagieren und diese als Zeichen einer ernsthaften Krankheit anzusehen.

Durch eine mangelnde Erklärung der Ärzte über die Genese der Symptome wird diese Fehlinterpretation zusätzlich aufrechterhalten.270 Dies mündet häufig in einer anhaltenden Verunsicherung der Patienten, die sich bei den Ärzten rückversichern möchten270 und demnach übermäßig häufig Haus- und Fachärzte aufsuchen („Doctor-Shopping“).217 Diese selektive Aufmerksamkeit und Fokussierung auf die körperlichen Symptome („Bodychecking“) und die darauf folgende attributive und katastrophisierende Fehlbewertung kann zu einem Teufelskreis führen, der im Sinne einer „somatosensorische Verstärkung“299 unter anderem zu einer erhöhten Aktivität des autonomen Nervensystems führt, was die Symptome wiederum verstärken kann. Dieses Gefangensein der Patienten in einem sich selbsterhaltende Kreislauf wird von Deary und Kollegen als zentrales Schlüsselmerkmal für medizinisch unerklärte körperliche Beschwerden beschrieben.270 Das dysfunktionale Krankheitsverhalten der somatoformen Patienten trägt somit einen wichtigen Teil zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Beschwerden bei.236

Krankheitswahrnehmung

Die dysfunktionale Krankheitswahrnehmung wird in mehreren Studien als einer der zentralen Faktoren somatoformer Störungen beschrieben.71-73 Innerhalb der Krankheitswahrnehmung werden von Petrie und Weinman72 vor allem fünf zentrale Komponenten herausgehoben. Es gibt hier laut den Autoren bestimmte Muster, wie Patienten ein kognitives Modell ihrer Beschwerden bilden. Zum einen assoziieren sie bestimmte Symptome mit ihrem Befinden, die aus medizinischer Sicht möglicherweise keinen Zusammenhang erkennen lassen. Des Weiteren suchen sie wie oben beschrieben im Sinne einer Kausalattribution eine persönliche Erklärung für Ihre Symptome. Ein weiterer wichtiger Aspekt besteht darin, welche Perspektive die Patienten in Bezug auf ihre Erkrankungsdauer haben. Dieser Faktor ist eng

45 verknüpft mit dem Gefühl der persönlichen Kontrolle der Beschwerden und dem erwarteten Behandlungserfolg. Als ein weiterer wichtiger Punkt gelten die körperliche sowie die emotionale Beeinträchtigung durch die Beschwerden. Hier zeigt sich, dass Patienten mit der gleichen Erkrankung völlig unterschiedliche kognitive Konzepte haben können, die jeweils von der Wahrnehmung und der Bewertung der Patienten abhängen.

Bei Patienten mit somatoformen Störungen besteht häufig die dysfunktionale Überzeugung, dass ihre Beschwerden unkontrollierbar und langwierig sind, außerdem werden sie sowohl körperlich als auch emotional als stark beeinträchtigend erlebt.208,270 In einer Studie konnte gezeigt werden, dass somatoforme Patienten sich selbst als schwach und anfällig für Stress empfanden.300 Diese dysfunktionale Krankheitswahrnehmung führt laut zahlreichen Studien zu einer zukünftigen stärkeren körperlichen Einschränkung und einer langsamen Besserung der Beschwerden, unabhängig von der ursprünglichen Schwere der Symptomatik.72,74,75 Außerdem konnte in verschiedenen Studien gezeigt werden, dass Patienten mit einer dysfunktionalen Krankheitswahrnehmung länger arbeitsunfähig blieben und weniger am sozialen Leben teilnehmen konnten als die Patienten mit einer unauffälligen Krankheitswahrnehmung.301 In einem Review über 45 Studien zeigte sich, dass die Krankheitswahrnehmung auch einen entscheidenden Einfluss auf die psychische und physische Verfassung der Patienten hatte.302

Insgesamt scheinen viele der beschriebenen prädisponierenden Faktoren (z.B. genetische Faktoren oder frühe Kindheitserfahrungen) weniger spezifisch für die somatoformen Störungen an sich zu sein,202 wohingegen die auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren, wie das typische Krankheitsverhalten und die dysfunktionalen Krankheitsannahmen der Patienten wohl spezifischeren Einfluss haben.212,303 Daher wurden sie auch in die diagnostische Kriterien für somatoforme Störungen des neuen DSM-5 mit einbezogen, um durch diese Aspekte die Gruppe der Patienten besser erfassen zu können.82

Soziale Faktoren

Wie in den AWMF- Leitlinien202 beschrieben, scheinen auch soziale Faktoren vor allem in der Aufrechterhaltung somatoformer Symptome einen gewissen Einfluss zu haben.

Möglicherweise wird den Patienten mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung von Seiten der Ärzte und des sozialen Umfelds gegeben. Der Anspruch auf die Patientenrolle ermöglicht es auch, unangenehme Verpflichtungen zu umgehen, die Arbeitsbelastung zu reduzieren und

46 eventuell auch materielle Vorteile im Sinne einer Rentenzahlung zu erhalten. Vor allem Behandlungen, die die Passivität des Patienten unterstützen, werden als risikoreich für die Entwicklung eines sekundären Krankheitsgewinns beschrieben.202

Iatrogene Fixierung

Wie schon im Rahmen der Arzt-Patienten-Interaktion beschrieben, scheint auch die sekundäre Verstärkung durch häufige somatisch ausgerichtete ärztliche Interventionen eine wichtige Rolle in der Aufrechterhaltung somatoformer Symptome zu spielen.233 Diese mögliche iatrogene Fixierung202,260 sollte daher in der Therapie somatoformer Beschwerden besonders berücksichtigt werden.202