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Wie haben sich die Menschen im Altertum die Erde vorgestellt? Pauschal läßt sich diese Frage für die griechisch-römische Antike nicht beantworten1. Plutarch hat einmal sehr knapp einige unterschiedliche Konzeptionen von der Erdgestalt aufgezählt, die angeblich von frühen griechischen Philosophen vertreten worden seien: Thales, die Stoiker und die ihnen folgenden Gelehrten meinten, daß die Erde eine Sphäre sei, Anaximander halte sie für säulenförmig, Anaximenes glaube, sie ähnele einem Tisch, Leukipp, sie ähnele einer Pauke, Demokrit sage, sie sei in der Breite einem Diskus ähnlich, in der Mitte jedoch hohl2. Über die relative Lage von Erde und Wasser bemerkte Aristoteles, manche meinten, die Erde liege höher als das Wasser. Dies sei die älteste Auffassung, die Thales von Milet zugeschrieben werde - die Erde befinde sich dieser Vorstellung zufolge in Ruhe, wobei sie wie Holz oder etwas ähnliches auf dem Wasser schwimme3.

Die mögliche Vielfalt antiker Konzeptionen von der Erdgestalt ist damit nur angedeutet.

Schon für die frühe Zeit sind dabei unterschiedliche Begründungs- und

Argumentationszusammenhänge anzunehmen. Aristoteles hat in einer aufschlußreichen Bemerkung auf einen grundsätzlichen Interessenunterschied zwischen theologischen und naturphilosophischen Autoren hingewiesen, der konzeptionell nicht ohne Folgen sei: Die Alten, so bemerkte er, die die "göttlichen Dinge" erforschten, wollten Anfänge und Ursprünge von Land und Meer angeben, um damit die Erde als würdigsten und ersten Teil des

Universums hervorzuheben. Dagegen nähmen wissenschaftlich Gebildetere eine allmähliche

1 Edward H. Bunbury, A History of Ancient Geography among the Greeks and Romans from the Earliest Ages till the Fall of the Roman Empire, 2 Bde., London 1879; H. F. Tozer, A History of Ancient Geography, Cambridge 1897; Hugo Berger, Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde der Griechen, 2. verb. u. erg. Aufl.

Leipzig 1903; F. Gisinger, 'Geographie', in: Pauly-Wissowa, Suppl.-Bd. 4 (1924) Sp. 521-685; Wilhelm Kubitschek, 'Erdmessung', in: Pauly-Wissowa, Suppl.-Bd. 6 (1935) Sp. 31-54; Wanda Wolska-Conus, 'Geographie', in: Reallexikon für Antike und Christentum 10 (1978) S. 155-222.

2 <Plutarch> Plutarchi Cheronei de Placitis Philosophorum libri A Guilelmo Budeo latini facti, Paris: Jehan Petit, 18. März 1505 <Ex.: GÖ SUB, kl. 8 Auct. cl. gr. V 3545>, fol. b8v: "De figura terrae. Thales et stoici:

eorumque studiosi globosam terram. Anaximander columnarem. Anaximenes mensae similem. Leucippus tympani. Democritus latitudine disco assimilem: in medio autem cavam." Daß derartige Zitate nicht als direkte Quelle für die vorsokratischen Konzeptionen gelten können, betont D. R. Dicks, Early Greek Astronomy to Aristotle, London 1970, S. 39-42 hin; vgl. Wesley M. Stevens, The figure of the earth in Isidore's 'De natura rerum', in: Isis 71 (1980) S. 268-277, hier S. 269, Anm. 4.

3 Aristoteles, De caelo 2, 13 (294 a 28-31): "Quidam super aquam iacere dicunt. Hanc enim sententiam vetustissimam accepimus, quam Thaletem Milesium dixisse ferunt, terram, inquam, ideo quiescere, quod perinde atque lignum aut quippiam tale, natet." (Opera omnia, Bd. 2, Paris 1850, Nachdr. Hildesheim 1973, S. 404;

Aristotle, VI: On the Heavens, übers. v. W. K. C. Guthrie, Cambridge/Mass. 1986 (The Loeb Classical Library 338), S. 224)

Entwicklung und ein fortschreitendes Austrocknen der ursprünglich von Wasser bedeckten Erde an4.

Die mittelalterlichen Gelehrten haben die antiken Diskussionen über die Gestalt der Erde wohl nicht von vornherein in einer derartigen konzeptionellen und methodischen Vielfalt wahrgenommen. Sie stützten sich in naturphilosophischen Fragen anfangs auf wenige, vor allem spätantike Texte, neben den Kirchenvätern und den Schultexten zu den 'artes liberales' wurde später vor allem Aristoteles studiert. Die im folgenden Kapitel untersuchten Quellen sollen demgemäß kein umfassendes Bild antiker Vorstellungen von der Gestalt der Erde liefern. Sie wurden exemplarisch ausgewählt, weil an ihnen einige Problemzusammenhänge deutlich werden, die für die sich im Mittelalter entwickelnde konzeptionelle Diskussion von grundlegender Bedeutung sind. Die Inhalte dieser Quellen wurden von mittelalterlichen Gelehrten in jeweils unterschiedlicher Weise und zu verschiedenen Zeiten rezipiert. Der selektive Rezeptionsprozeß, die Veränderung der Fragehorizonte, die fortschreitende Differenzierung und die spezifische Originalität mittelalterlicher Konzeptionen von der Erdgestalt wird vor diesem Hintergrund deutlicher zu erkennen sein.

4 Vgl. das vollständige Zitat unten Kap. I/2, Anm. 32.

1. Der Traum des Scipio

Angenommen, ein römischer Literat des ersten vorchristlichen Jahrhunderts hätte die Erde im Ganzen und von außen dargestellt - was hätte er geschrieben? Um uns dem Bild eines gelehrten Lateiners von der Erde anzunähern, können wir mit einem einzigartigen Text beginnen. Im 'Traum des Scipio', einem Bruchstück aus seinem umfangreichen, nur zum Teil erhaltenen Werk 'De re publica', hat Cicero den Kosmos und die Erde dargestellt. Cicero beschreibt darin, wie der jüngere Scipio im Traum in den Himmel aufstieg und dem alten Scipio Africanus, seinem Adoptivgroßvater, und seinem Vater Paulus begegnete. Von ihrem Treffpunkt aus, einem "erhabenen Ort im flammenden Kreis der Milchstraße", zeigten die beiden Alten ihm die Sterne, die Planetensphären und die Erde. Seiner faszinierenden Perspektive wegen ist dieser Text zum Klassiker geworden. Den Gelehrten des lateinischen Mittelalters wurde er zusammen mit dem kosmologisch-kosmographischen Kommentar des Macrobius bekannt1.

Zu Besuch bei dem alten Masinissa, dem König von Numibien, der seiner Familie

freundschaftlich verbunden war so berichtete Scipio der Jüngere einem Kreis von Freunden -, fiel er nach langer Reise und nach intensiver Unterhaltung in einen Schlaf-, tiefer als

gewöhnlich. Da begegnete ihm im Traum an einem hohen, sternenbesäten, strahlenden und hellen Ort Africanus, der ältere Scipio, sein Adoptivgroßvater und Besieger Hannibals.

Erschrocken und überwältigt von dieser Begegnung - denn Africanus sagte ihm sogleich die Zerstörung Karthagos und die Diktatur voraus -, fragte der Jüngere den Älteren, ob er, Africanus, und all die anderen, die man doch längst für tot gehalten habe, denn noch am Leben seien. Africanus antwortete, es sei gerade umgekehrt: "Ja freilich, die leben, welche aus den Fesseln des Körpers gleich wie aus einem Kerker entflohen sind - Euer sogenanntes Leben aber ist der Tod"2. Und er zeigte dem jüngeren Scipio wie zum Beweis seinen Vater Paulus, der eben auf ihn zutrat.

Scipio, der sich kaum fassen konnte, erklärte unter Tränen seinem Vater, er wolle ihm schon jetzt nachfolgen, da ja doch dieses hier, wie Africanus sage, das Leben sei. Sein Vater antwortete: "So ist es nicht. Wenn der Gott, von dem dieser Tempel alles ist, was Du siehst, dich nicht aus den Fesseln deines Körpers befreit, kann dir der Zugang hierher nicht

offenstehen. Die Menschen nämlich sind unter jenem Gesetz gezeugt, daß sie jene Kugel, die

1 Die folgende Zusammenfassung folgt in freier Paraphrase und gelegentlich abweichender Übersetzung der Ausgabe von Karl Büchner, Somnium Scipionis. Quellen - Gestalt - Sinn, Wiesbaden 1976 (Hermes, Einzelschriften 36).

2 Büchner, Z. 50f: "'Immo vero' inquit 'hi vivunt qui e corporum vinclis tamquam e carcere evolaverunt, vestra vero quae dicitur vita mors est. <...>"

du in diesem Tempel in der Mitte siehst und die man Erde nennt, beschützen sollen. Es ist ihnen Geist gegeben aus jenen ewigen Feuern, die ihr Sterne und Gestirne nennt, die kugelförmig und rund mit göttlichem Geist beseelt mit wunderbarer Schnelligkeit ihren Kreisen und Bahnen folgen."3

Von ihrem Treffpunkt im Himmel aus, einem erhabenen Ort im flammenden Kreis der Milchstraße, zeigten Paulus und Africanus dem jüngeren Scipio den Himmel und die Erde.

Scipio war zutiefst beeindruckt, alles erschien ihm herrlich und wunderbar. "Da waren Himmelskörper," so berichtete er seinen Zuhörern, "die wir von hier aus nie gesehen haben, und alle waren von solcher Größe, wie wir es nie vermutet hätten. Unter ihnen war der der kleinste, der vom Himmel am weitesten entfernt und der Erde am nächsten lag, von fremdem Licht beleuchtet. Die Kugeln der Sterne übertrafen an Größe die Erde leicht. Ja, mir kam nun auf einmal die Erde selbst so klein vor, daß es mich unseres (römischen) Reiches wegen, mit dem wir fast nur einen Punkt von ihr bedeckten, bekümmerte."4

Als Scipio die Erde weiter anschaute, lenkte Africanus seinen Blick von dieser ab: "Ich bitte dich, wie lange wird dein Geist am Boden haften bleiben?"5 und erläuterte ihm die Planetensphären und deren harmonische Musik, die den Menschen unhörbar bleibe. "Das bewunderte ich," so erzählte Scipio den Freunden, "richtete aber dennoch die Augen

beständig auf die Erde."6 Da sagte Africanus: "Ich merke, daß du auch jetzt noch den Sitz und das Haus der Menschen betrachtest. Wenn es dir klein erscheint, wie es auch ist, schau immer auf dies Himmlische, jenes Menschliche verachte. Denn welche Berühmtheit kannst du im Kreis der Menschen, welchen Ruhm kannst du erreichen? Du siehst, die Erde wird nur an wenigen und eingeschränkten Stellen bewohnt, und selbst in diese, ich möchte sagen:

Flecken, wo man wohnt, sind weite Einöden eingeschlossen. Die aber, welche die Erde bewohnen, sind nicht nur derart voneinander getrennt, daß nichts von den einen zu den

3 Ebd., Z. 57-64: "'Non est ita' inquit ille. 'Nisi enim deus is, cuius hoc templum est omne quod conspicis, istis te corporis custodiis liberaverit, huc tibi aditus patere non potest. Homines enim sunt hac lege generati, qui tuerentur illum globum, quem in hoc templo medium vides, quae terra dicitur, iisque animus datus est ex illis sempiternis ignibus quae sidera et stellas vocatis, quae globosae et rotundae, divinis animatae mentibus, circos suos orbesque conficiunt celeritate mirabili. <...>"

4 Ebd., Z. 74-79: "Erant autem eae stellae quas numquam ex hoc loco vidimus, et eae magnitudines omnium quas esse numquam suspicati sumus, ex quibus erat ea minima quae ultima a caelo citima terris luce lucebat aliena; stellarum autem globi terrae magnitudinem facile vincebant. Iam vero ipsa terra ita mihi parva visa est, ut me imperii nostri, quo quasi punctum eius attingimus, paeniteret."

5 Ebd., Z. 80f: "'Quaeso', inquit Africanus, 'quousque humi defixa tua mens erit? <...>'"

6 Ebd., Z. 119: "Haec ego admirans, referebam tamen oculos ad terram identidem."

anderen gelangen kann, sondern sie stehen auch teils quer, teils ganz entgegengesetzt zu euch auf der Erde. Von denen könnt ihr sicher keinen Ruhm erwarten."7

Africanus erläuterte die Gestalt der Erde weiter: "Du siehst auch, daß die Erde wie von Gürteln umschlungen und umgeben ist, von denen zwei, wie du siehst, die am weitesten voneinander entfernt sind und auf beiden Seiten je direkt unter den Angelpunkten des

Himmels liegen, in Eis erstarrt sind. Jener mittlere aber und größte ist von der Glut der Sonne ausgedörrt. Zwei Gürtel sind bewohnbar, von denen der nach Süden zu gelegene da, auf welchem sich die befinden, die euch die Füße zukehren, euer Geschlecht nichts angeht. Der andere aber hier, nach Norden zu gelegen, den ihr bewohnt, sieh nur, zu welch geringem Teile er euch zugehört. Das ganze Land, auf dem ihr wohnt - es verengt sich an den Spitzen, wird an den Seiten breiter -, ist eine Art kleine Insel, umspült von jenem Meer, das ihr auf Erden das Atlantische, das Große oder auch den Ozean nennt und bei dem du doch siehst, wie klein er trotz seines großen Namens ist. Hat etwa aus diesen bewohnten und bekannten Ländern dein Name oder der irgendeines von uns je den Kaukasus, den du hier siehst, übersteigen oder den Ganges dort durchschwimmen können? Wer wird in den übrigen äußersten Gebieten der auf- oder untergehenden Sonne oder des Nordens oder Südens deinen Namen hören? Nimmst du diese Gebiete weg, so erkennst du in der Tat, in welcher Enge euer Ruhm sich verbreiten will."8

So und weiter sprach Africanus im Traum zum jüngeren Scipio über die kleine Ökumene und die Grenzen des irdischen Ruhms. So hat zugleich Cicero sein Bild der Erde dargestellt - ein Traumbild, das gleichwohl dem modernen Bild der Erde überraschend nahe scheint. Denn Cicero sprach von "jener Kugel" (ille globus), "die Erde genannt wird" (quae terra dicitur), anscheinend genau so, wie wir heute vom Globus sprechen. So könnte man aus moderner Sicht für unerheblich halten, daß Cicero auf dieser Kugel die Ökumene in alle vier

7 Ebd., Z. 120-128: "'Sentio' inquit 'te sedem etiam nunc hominum ac domum contemplari; quae si tibi parva ut es t ita videtur, haec celestia semper spectato, illa humana contemnito. Tu enim quam celebritatem sermonis hominum aut quam expetendam consequi gloriam potes? Vides habitari in terra raris et angustis in locis, et in ipsis quasi maculis, ubi habitatur, vastas solitudines interiectas, eosque qui incolunt terram non modo interruptos ita esse ut nihil inter ipsos ab aliis ad alios manare possit, sed partim obliquos partim transversos partim etiam adversos stare vobis. A quibus expectare gloriam certe nullam potestis. <...>'"

8 Ebd., Z. 129-143: "'<...> Cernis autem eandem terram quasi quibusdam redimitam et circumdatam cingulis, e quibus duos maxime inter se diversos et caeli verticibus ipsis ex utraque parte subnixos obriguisse pruina vides, medium autem illum et maximum solis ardore torreri. Duo sunt habitabiles, quorum australis ille, in quo qui insistunt adversa vobis urgent vestigia, nihil ad vestrum genus; hic autem alter subiectus aquiloni quem incolitis cerne quam tenui vos parte contingat. Omnis enim terra quae colitur a vobis, angustata verticibus, lateribus latior, parva quaedam insula est circumfusa illo mari quod Atlanticum quod magnum quem Oceanum appellatis in terris, qui tamen tanto nomine quam sit parvus vides. Ex his ipsis cultis notisque terris num aut tuum aut cuiusquam nostrum nomen vel Caucasum hunc quem cernis transcendere potuit vel illum Gangen tranatare?

Quis in reliquis orientis aut obeuntis solis ultimis aut aquilonis austrive partibus tuum nomen audiet? Quibus amputatis cernis profecto quantis in angustiis vestra se gloria dilatari velit. <...>'"

Himmelrichtungen begrenzte und wie "eine Art kleine Insel" (parva quaedam insula) als ringsherum vom Ozean umspült beschrieb. Die lange Zeit, die zwischen dem Traum des Scipio und dem modernen Bild der Erde ausgebreitet liegt, könnte so zusammenschnurren auf den einen Schritt vom Traum zur Wirklichkeit.

Doch die spezifische Perspektive des antiken Autors auf die Erde erschließt sich nur, wenn wir die Differenz genau beachten, die uns von seinem Denken trennt und die sich in den nachfolgenden eineinhalb Jahrtausenden konzeptionell entfaltet hat. Was wußte Cicero von der Erde, als er den 'Traum des Scipio' verfaßte, was glaubte er zu wissen? Und umgekehrt:

was war für Cicero und seine Zeitgenossen nur als Traum zu denken, was war gelehrte Spekulation?

Cicero wußte, daß die Ökumene endlich war: das bewohnte Land war im Süden von der heißen, im Norden von der kalten Zone, im Osten und im Westen vom Ozean begrenzt. Er folgte der Lehre von den fünf Zonen ("Gürtel"), die den Geographen seiner Zeit

selbstverständlich war. Zwischen der kalten nördlichen und der heißen äquatorialen lag die gemäßigte Zone, in der menschliches Leben am ehesten möglich schien. Das bewohnbare Festland, das in dieser Zone lag, reichte in die heiße und in die kalte Zone hinein und schien dann sowohl im Süden wie im Norden ebenfalls auf Ozean zu stoßen: "das ganze Land, auf dem ihr wohnt, ist eine Art kleine Insel". Cicero meinte, das feste Land verenge sich im Osten und im Westen und sei von Nord nach Süd in seiner Mitte breiter. Somit war die Ökumene ihrer "Länge" nach von Ost nach West, ihrer "Breite" nach von Nord nach Süd ausgespannt.

Sie hatte damit im Osten bei Sonnenaufgang einen Anfang, im Westen bei Sonnenuntergang ein Ende. In Indien oder Palästina hatte sie ihren Mittelpunkt.

Die Lehre von den Zonen, so wußte Cicero von den Astronomen seiner Zeit, setzte voraus, daß die Ökumene von Ost nach West und Nord nach Süd gewölbt und somit Teil einer Sphäre war. Die Menschen, bemerkte Africanus, stünden teils quer, teils

entgegengesetzt zueinander auf der Erde. Diese Bemerkung galt schon für die Bewohner der bekannten Ökumene, für Menschen in Spanien, in Palästina und im Fernen Osten

beispielsweise. Doch erwähnte Africanus ausdrücklich eine zweite Zone, die bewohnbar schien: die zweite gemäßigte Zone zwischen südlichem Wende- und Polarkreis, in welcher jene sich befänden, "die euch die Füße zukehren".

Von dieser südlich des Äquators angenommenen gemäßigten Zone hatte Africanus schroff bemerkt: sie "geht euer Geschlecht nichts an". Die Erdbewohner seien "derart voneinander getrennt, daß nichts von den einen zu den anderen gelangen kann". Diese unbekannten Räume lagen jenseits des Bereiches, den die Gelehrten aus Erfahrung kennen konnten. Die Annahme ihrer Existenz folgte allein aus gelehrter Spekulation. Dasselbe galt

für den Verlauf der Zonen insgesamt und die Beschreibung der Größe des Ozeans: ob die Zonen, wie Africanus es beschrieb, in Gestalt von Gürteln die Erde ganz umgaben, ob die Erde an beiden Polen gefroren war, ob der Ozean, der das bewohnte Festland ringsherum umschloß, klein oder riesig war, war Cicero und seinen Zeitgenossen unbekannt. Bekannt war ein nördlicher Quadrant der Erde. Eine ganze Erde war von den Zeitgenossen nur im Traum zu denken.

Daß alternative Konzeptionen verbreitet waren und die ganze Erde somit auf

verschiedene Weise vorzustellen war, ist heute nicht mehr selbstverständlich. Spekulative Elemente des alten Bildes von der Erde bleiben deshalb heute meist unerkannt. Cicero ging aus gutem Grund in seiner Darstellung der Erde nicht auf Alternativen ein. Fragen nach der Bewohnbarkeit und der Gestalt der Erde, die seine Zeitgenossen durchaus beschäftigten, hätten seine Argumentation und die Darstellung gestört. Allein die Bemerkung des Africanus, das Meer, "das Ihr das Große nennt", sei klein, deutet die Möglichkeit anderer Überlegungen über die Ausdehnung des Ozeanes an.

Da Cicero bekannte Räume und die Bereiche gelehrter Spekulation nicht deutlich unterschieden und mögliche Alternativen nicht erörtert hat, wird die Perspektivität seines Bildes von der Erde nur indirekt erkennbar. Sie zeigte sich im Gegensatz zwischen der begrenzten Ökumene und einem Himmel, der zur Beobachtung und Reflexion offen stand.

Dem Himmelbewohner Africanus schien die kleine Erde mit der noch kleineren Ökumene kaum der Erwähnung wert. Nachdem er die strahlend großen Himmelkörper ausführlich vorgestellt hatte, folgte er nur widerwillig dem Blick des jungen Scipio hinunter auf die Erde.

Er wies ihn dort vor allem auf die Grenzen der Erfahrung und der Wirkungsmöglichkeiten eines Römers hin. Auf diese Weise konnte Cicero die relative Unbedeutenheit des römischen Imperiums und die Begrenztheit irdischen Ruhmes provozierend unterstreichen.

Im 'Traum des Scipio' hat Cicero die perspektivische Begrenzung des alten Bildes von der Erde zugleich inhaltlich verarbeitet und spekulativ aufgelöst. Für einen modernen Leser wird dabei der Unterschied zwischen gesichertem Wissen und gelehrter Spekulation verwischt. Für Cicero selbst dagegen, seine Zeitgenossen und seine mittelalterlichen Leser gehörte die Grenzlinie zwischen gesichertem Wissen von der Ökumene und gelehrter Spekulation über die Gestalt der Erde zur selbstverständlichen Grundlage des Wissens und Denkens von der Welt. Diese Grenze geographischer Beschreibung, jenseits derer

konzeptionelle Vielfalt möglich, ja notwendig war, wird in den folgenden Kapiteln immer wieder aufzusuchen sein.

2. Aristoteles: Der konzentrische Kosmos und die Relation der Elemente

Grundlage des gelehrten Weltbildes der späteren Antike und des lateinischen Mittelalters war die von Aristoteles systematisch formulierte Konzeption eines sphärisch geordneten

Kosmos1. Danach umschloß die äußerste sichtbare Sphäre der Fixsterne einen durch die Planetensphären unterteilten Ätherraum, in dessen Inneren die einander sphärisch

Kosmos1. Danach umschloß die äußerste sichtbare Sphäre der Fixsterne einen durch die Planetensphären unterteilten Ätherraum, in dessen Inneren die einander sphärisch

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