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Anthropologisch-biblischer Ansatz

1.5 Thematische Hinführung

1.5.2 Anthropologisch-biblischer Ansatz

In Verbum Domini, dem von Benedikt XVI. verfassten „Nachsynodalen Aposto-lischen Schreiben“ vom 30. September 2010, reflektiert der Papst die Ergebnisse der 12. Ordentlichen Bischofssynode, die vom 5. bis 23. Oktober 2008 zum Thema „über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche“18 in Rom tagte. In dieser päpstlichen Exhortatio weist Benedikt auf die „Bibel als großen Kodex für die Kultur“19 hin, wobei er hier selbstverständlich primär den

„Wert der nationalen Kultur für das Leben des Menschen“20 anspricht.

Da eine Organisationskultur – auch die der Kirche – nicht losgelöst von der nationalen Kultur gedacht werden kann, in die sie eingebettet ist und aus der heraus sie lebt, haben sich die Synodenväter für ihre kirchliche Zusammenarbeit bewusst oder unbewusst ein hohes Ziel gesetzt. Sie fordern „unter den Kultur-trägern eine angemessene Bibelkenntnis …, auch in säkularisierten Umfeldern und unter den Nichtgläubigen; in der Heiligen Schrift sind anthropologische und philosophische Werte enthalten, die die ganze Menschheit positiv beeinflusst haben.“21 Unter „Kulturträger“ müssen wohl Führungspersönlichkeiten verstan-den werverstan-den, zu verstan-denen sich die Synoverstan-denmitglieder als Vertreter des Weltepisko-pats auch selbst zuzuordnen haben. Die Kenntnis der biblischen Werte wird somit Vorausbedingung und Fundament „der Begegnung zwischen Wort Gottes und Kulturen“.22

Mit Fug und Recht darf erwähnt werden, dass wohl kein anderes Do-kument ein profunderes Bild der anthropologisch-biblischen Dimension der Kirche in der Welt – und darum geht es ja letztlich, wenn die Organisationskul-tur der Kirche fokussiert wird – zeichnet als die „Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute“. Dem ersten Hauptteil von Gaudium et spes liegt in 4 Kapiteln mit insgesamt 35 Artikeln die Berufung des Menschen, der in diese konkrete Welt hineingeboren ist, in der Kirche von heute zugrunde. Da

18 Vgl. Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini von Papst Benedikt XVI. über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche (30. September 2010), Libreria Editrice Vaticana, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Bonn 2010.

19 Ebd., 110.

20 Ebd., 109.

21 Ebd., mit vergleichenden Bezug auf Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio (14. September 1998), 80: AAS 91 (1999), 67-68.

22 Ebd., 111.

sich insbesondere diese Pastoralkonstitution nicht nur an die Kinder der Kirche, sondern an alle Menschen richtet (GS 2), nimmt ganz bewusst erst das vierte und letzte Kapitel Bezug auf die Aufgabe der Kirche in der Welt von heute.23 In der Einleitung zum eigentlichen Text der Konstitution weisen Karl Rahner und Herbert Vorgrimler darauf hin, dass die Konzilsväter ganz bewusst einer Situa-tions- oder Auffassungsanalyse zunächst eine Bewertung aus dem allgemeinen menschlichen Blickwinkel folgen lassen, die für alle Menschen akzeptabel er-scheint, bevor sie sich mit speziellen lehramtlichen Instrumentarien den mögli-chen Konsequenzen für das Leben in und mit der Kirche zuwenden. Gegen die-sen in vielen Kapiteln und Artikeln von Gaudium et spes angewandten Prozess wehrte sich so mancher Bischof, der eher eine theologische Analyse oder (zu-mindest) einen biblischen Bezugspunkt bevorzugt hätte.24

Alles, was in Raum und Zeit geschah, geschieht und geschehen wird, erlebt das Volk Gottes nicht in kirchlicher Isolation, sondern es teilt alles und jedes dieser Welt „zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit“; zugleich aber erinnern die Konzilsväter an die Verpflichtung der pilgernden Kirche, in dem Geschehenen „die wahren Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Got-tes“, alles im Glauben mit einem neuen Licht zu erhellen und „auf humane Lö-sungen hin“ zu orientieren (GS 11). Es widerspräche wohl dem Geist des Kon-zils, gewisse innerhalb der Menschheit geteilte „Ereignisse, Bedürfnisse und Wünsche“ einfach im Fragenkatalog „der Zeichen der Zeit“ negieren zu wollen.

Die Bischöfe des Zweiten Vatikanums sprechen ausdrücklich vom „gegenseiti-gen Dienst“ des Volkes Gottes und der Menschheit, „der es eingefügt ist“ (GS 11). Von einem Ausschluss eines bestimmten menschlichen Lebensbereichs können und wollen die Konzilsväter nicht sprechen, schon gar nicht vom Aus-schluss einer gegenseitigen Beleuchtung artverwandter Kompetenzen25, die für die effiziente und effektive Leitung einer Organisation – ob gesellschaftlich, politisch, sozial oder religiös – vonnöten sind. Somit wird die Erhellung der Kultur einer Organisation, vor allem jener der Kirche, ein „wahres Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes“ (GS 11).

„Was denkt die Kirche vom Menschen? Welche Empfehlungen erschei-nen zum Aufbau der heutigen Gesellschaft angebracht? Was ist die letzte

23 Vgl. Rahner/Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 427.

24 Vgl. ebd.

25 Im Organisationskontext werden menschliche Kompetenzen als Fähigkeiten, Talente, Skills, Know-how, Verhaltensweisen etc. definiert, die eine Organisation oder eine organisatorische Einheit morgen braucht, um ihre Mission in Zukunft erfolgreich durchführen zu können;

vgl. dazu Röttig, Gnade und Kompetenz, 89.

deutung der menschlichen Tätigkeit in der gesamten Welt?“ (LG 11) Diese Fra-gen der Synodenväter schließen kirchliche Tätigkeiten nicht aus, sondern be-antworten die Fragen kurz für die gesamte Welt, in der die Kirche ihre Sendung erfüllt: Beide stehen in einem unteilbaren und gegenseitigen Dienst (LG 11). In diesem Kontext gilt der Mensch, der Bild Gottes ist, als Mittel- und Höhepunkt in dieser Welt, in der er jedoch seine Aufgaben nur als soziales Wesen erfüllen kann.26

Die Verwundbarkeit des von Gott nach seinem Bild geschaffenen Men-schen zeugt davon, dass dieser auf der ihm vom Schöpfergott zur Verfügung gestellten Welt „vom Anfang der Geschichte an“ (GS 13) immer wieder ver-sucht war, seine eigenen Wege zu gehen. Dazu heißt es: „Der Mensch erfährt sich, wenn er in sein Herz schaut, auch zum Bösen geneigt und verstrickt in vielfältige Übel, die nicht von einem guten Schöpfer herkommen können“ (GS 13). Die Konzilsväter weisen auf die Zwiespältigkeit des Menschen hin, die ihn in einem ständigen und dramatischen Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Dunkelheit fesselt, aus dem er sich selbst nicht als Sieger hervorzuge-hen weiß. Der Herr ist der, der aus diesem menschlichervorzuge-hen Desaster herausführt, das „den Menschen selbst mindert, weil sie d.h. die Sünde ihn hindert, seine Erfüllung zu erlangen“. Diese Worte umfassen „das gesamte Leben der Men-schen, das einzelne wie das kollektive“ (GS 13), wie die Bischöfe in diesem grundlegenden Text der Pastoralkonstitution betonen.

Weil die irdische Kirche aber als eine „mit hierarchischen Organen der Gesellschaft“ klar konstituierte „sichtbare Versammlung“ (LG 8) nicht außer-halb der Welt von gestern, heute und morgen existiert, sondern als pilgerndes Volk Gottes immer im Raum dieser Welt, aber nur in den ihr gewährten Äonen unterwegs ist, darf und kann sie sich diesem Kampf zwischen Gut und Böse nicht entzogen glauben. Bleiben die Synodalen des Konzils in diesen Aussagen auch ihrer kirchlichen Sprache treu, wird kaum geleugnet werden können, dass es sich in der Diktion der Organisationswissenschaft bei dieser „sichtbaren Ver-sammlung“ um eine (auch) von Menschen getragene Organisation und bei den

„hierarchischen Organen der Gesellschaft“ um deren Führungskräfte handelte.

Nach den Artikeln über den Menschen als Bild Gottes und der Ver-wundbarkeit dieses Bildes durch die Sünde erinnern die Konzilsväter in diesem einleitenden Kapitel der Pastoralkonstitution nicht nur an die bloße Leiblichkeit des Menschen, sondern an seine Einmaligkeit und in ihr an seine Einheit von Leib und Seele. Die vereinfachende Eingrenzung der Leiblichkeit auf den

26 Vgl. Rahner/Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 427.

nen Körper und noch zugespitzter auf die körperliche Sexualität des Menschen würden dem Artikel 14 des Konzilstextes nicht gerecht werden. Es geht letzt-endlich um die gesamte „stoffliche Welt“, die Teil des menschlichen Lebens als solches ist, „wo Gott ihn den Menschen erwartet“. Die Herleitung des Lebens von „bloß physischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen“ verwehrt dem Menschen ein In-die-Tiefe-Gehen (GS 14). In diesen Spiegel der Erkenntnis des

„Wesensstandes des Menschen“, wie dieser Artikel 14 der Pastoralkonstitution (wohl in Klammern gesetzt) überschrieben ist, kann und muss sich auch die irdische Kirche schauen: Die „stoffliche“ Seite des Lebens der Kirche „darf also der Mensch nicht geringachten“. Als getauftes Glied der Kirche verlangt seine Würde als Mensch das Gegenteil – um den Gedanken des Konzils der Bischöfe nicht nur auf die Welt, sondern synonym eben auf „die Kirche in der Welt von heute“ zu richten –, „nicht den bösen Neigungen seines Herzens“ zu dienen, sondern Gott in der „sichtbaren Versammlung“ zu verherrlichen (GS 14).

Der geheimnisvolle Leib Christi der irdischen Kirche darf und kann als geistliche Gemeinschaft aus seinem Wesen heraus nicht auf einen gesunden Leib und auf gesunde hierarchische Organe verzichten; diese machen die stets auf ihrem missionarischen Weg pilgernde Kirche sowohl nach innen als auch nach außen hin erkenntlich und sichtbar. Wenn immer und wo immer die gott-gewollte „komplexe Wirklichkeit“ der Kirche aus dem Gleichgewicht zu geraten droht, ist sie entweder mit der Illusion einer welt- und somit menschenfremden Esoterik oder aber mit der oft knallharten Versuchung eines wirtschaftlichen Utilitarismus, der ohne Gott auszukommen scheint, konfrontiert.

Es wundert nicht, dass die Konzilsväter diesem Artikel – verkürzt ge-sagt – über Leib und Seele Worte über die Vernunft des Menschen und „deren Vollendung in der Weisheit“ (GS 15) folgen lassen, geht es doch um einen Ge-danken, der dem US-amerikanischen protestantischen Pastor Reinhold Niebuhr zugesprochen wird: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“.27 Im letzten geht es in die-sem „Gelassenheitsgebet“ mit dem Blick auf die Kirche und ihre göttlich-menschliche Bedingtheit darum, das Göttliche in ihr in Demut hinzunehmen, das Menschliche immer wieder mit Mut und ohne Angst auf seine zeitliche und räumliche Gültigkeit hin zu überprüfen, „und die Weisheit, das eine vom ande-ren zu unterscheiden.“

27 https://de.wikipedia.org/wiki/Gelassenheitsgebet, abgerufen am 24.06.2015.