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Altersruhesitze

Im Dokument Altern in Deutschland Band 5 (Seite 86-92)

4. Grundfragen einer alternssensiblen Stadt- und Regionalentwicklung

4.2 Place of Aging – wo man wie altert

4.2.2 Altersruhesitze

Wenn eine Geographie des Alterns die sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen aufzeigt, wie man altert, so stellt sich die Frage, ob es tatsächlich bestimmte Orte sind, die es zu emp-fehlen gilt. Die Forschungen zur Wohnortmobilität Älterer weisen hochselektive Muster aus, nach denen Ortsentscheidungen getroffen werden. Es geht an dieser Stelle nicht darum, konkrete Orte zu benennen, die Aktivitäten und Lebensqualität fördern, sondern auf einer abstrakteren Ebene die Argumentationen zu diskutieren. Oft spielen hier politische und regionalwirtschaftliche Erwägungen und Wunschvorstellungen eine größere Rolle als die Erkenntnisse der wohnökologischen Forschung. Unter dem Phänomen der Altersruhesitze wird die gezielte großflächige Ausweisung und Vermarktung von Wohnungen für Ältere verstanden. Die Gründe hierfür sind, dass einerseits die Bereitschaft Älterer zunimmt, einen gezielten Ortswechsel zu vollziehen, durch den sie ihren Lebensbedürfnisse besser gerecht werden, andererseits immer mehr Gemeinden und Regionen in der Ansiedlung älterer Bewohnergruppen eine Entwicklungschance sehen. Die Ausweisung derartiger Altersruhe-sitze richtet sich vor allem an das sogenannte dritte Alter und weist deshalb eher „anregende Umweltbezüge“ auf, während im Vergleich die „Stützung und Schutzfunktion von Umwelt“

für das vierte Alter (beispielsweise bei wohlkonzipierten Orten für an der Alzheimerkrank-heit erkrankte Ältere) charakteristisch ist (Wahl 2002).

Eines der Länder, in denen die Frage der Altersruhesitze am weitesten vorangetrieben wurde, sind die USA. Das Phänomen ist in keinem anderen Industrieland so verbreitet.

Bereits seit den 1970er Jahren wird dort das Konzept der Retirement Communities, der sogenannten Altersruhesitze, verfolgt, so dass die damit verbundenen Probleme und Chan-cen gut zu beobachten sind. Das Siedlungskonzept ist Bestandteil eines großräumigen Differenzierungsprozesses zwischen sogenanntem frostbelt und sunbelt, Arbeits- und Frei-zeitgesellschaft (lichtenBerGer 1999). Die Altersruhesitze befanden sich vorerst nur in den Bundesstaaten Arizona, Kalifornien und Florida, den sunbelt areas, inzwischen zeigen sich ähnliche Prozesse altersselektiver Ansiedlung auch in anderen Gebieten. Die US-amerika-nische Regierung fährt eine gezielte regionale Entwicklungsstrategie, indem sie solche Gemeinden und Regionen unterstützt, die als attraktive Lebensorte für ältere Menschen gelten, und viele Bundesstaaten haben ebenfalls Förderprogramme in dieser Hinsicht zur kommunalen Entwicklung aufgelegt. In diesem Zusammenhang sind Kriterien entworfen

worden, denen Kommunen entsprechen müssen, damit ihnen eine entsprechende Annehm-lichkeit (amenity) bescheinigt wird: Die Kriterien setzen sich aus den Bereichen Klima, Landschaft, Umwelt, Lebenshaltung und der sozialkulturellen Atmosphäre in der commu-nity zusammen. Die Association of Retirement Communities AARC überwacht die Stan-dards der Naturally Occurring Retirement Community. Sogenannte Age-Specific Commu-nities sind z. B. Sun City West (Arizona) und The Villages (Florida). Dabei handelt es sich oft um stark standardisierte und isolierte städtebauliche Lösungen, die zudem in ihren Ent-wicklungen unsicher sind. Sie werden auf eine recht große Spannbreite von Einkommens-klassen zugeschnitten und besitzen eine ausgesprochen lebensstilspezifische Prägung; es wird also davon ausgegangen, dass ältere Menschen ihren Wohnstandort nach dessen An-nehmlichkeiten wählen. So entstehen neue Modelle der altengerechten Stadt: Rückkehr zum Downtown Housing (ruppies, retiring urban professionals), Nachtclubs, neue Aktivi-täten.53 Der finanzielle Vorteil für die Gemeinden liegt darin, dass diese Kommunen nicht (mehr) für Schulen aufzukommen brauchen, die Kosten für spezifische Gesundheitseinrich-tungen weitgehend von privaten Versicherungsunternehmen getragen werden (lichten

-BerGer 1999).

Die Basis für Migrationsentscheidungen in ausgewiesene Altersruhesitzgemeinden bilden Angebote gesundheitsbezogener (hochqualifizierter) Dienstleistungen. Dadurch sind Ansiedlungen von mehreren Zehntausend Pensionären entstanden. Dies führt zu sehr ungleichen räumlichen Entwicklungen, denn die meisten ländlichen Räume weisen in den USA ein Defizit an Versorgungsinfrastruktur auf: Die Erreichbarkeit notwendiger Dienste ist erheblich problematischer, die medizinische Versorgung durch Ärztemangel gefährdet, und die vorhandenen Angebote sind regional nicht abgestimmt (strauB und clark 1999).

Hinzu kommt, dass spezialisierte Dienste und rehabilitative Einrichtungen nur in erheb-lichen Entfernungen zu finden sind. Altersruhesitzgemeinden können grundsätzlich eine Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung mit sich bringen, aber faktisch handelt es sich im Wesentlichen um ein Null-Summen-Spiel, weil sich die demographische Situation der Nachbargemeinden eher verschlechtert und oftmals die – sozialökonomisch schlechter gestellten – älteren Einheimischen unzureichend von den Entwicklungen profitieren (Bryden 2002). Des Weiteren zeigen sich nicht intendierte Effekte, spätere Folgekosten, Veränderungen in den sozialen und ökonomischen Strukturen (skelley 2004). Kritiker betonen auch, dass die Entwicklungen teilweise von den regionalen Strukturproblemen ab-lenken und sich die Situation der einheimischen älteren Bevölkerung teilweise verschärft.

Die immigrierende ältere Bevölkerung stellt eine eher „jüngere“, verheiratete, ökonomisch stärkere und besser gebildete Gruppe dar. Die meisten Autoren verweisen auf hohe Beschäftigungseffekte durch eine verstärkte Nachfrage nach Dienstleistungen und Gütern, die allerdings auf einem geringen Lohnniveau in vielen Sektoren (bei steigenden Lebens-haltungs- und Immobilienkosten) und auf externen Beschäftigungsverhältnissen beruhen, von denen die einheimische Bevölkerung kaum profitiert.

In den europäischen Ländern bestehen nur wenige Ansätze zu ähnlichen Ansiedlungen.

Vielmehr scheinen sich Altersruhesitze aus bisherigen Kur- oder Tourismusgemeinden zu entwickeln (z. B. das „Methusalem­Paradies“ Bad Sassendorf). Zwar gibt es auch in Deutschland Ruhestandsregionen (vgl. Abschnitt 3.1), doch die weitaus größere Dynamik lag bislang in landschaftlich und klimatisch attraktiven Gegenden vor allem des

Mittel-53 Vgl. H. morroW-Jones auf der Tagung Stadtentwicklung und Umwelt 2007.

meerraumes. Das Immobilienvermögen der Deutschen im Ausland erfuhr in den letzten Jahrzehnten hohe Steigerungsraten (scholz 2005, Breuer 2003). Der deutsche Immobilien-besitz im Ausland stieg laut einer LBS-Marktstudie von 336 000 im Jahre 1991 auf 996 000 Objekte im Jahre 2001, eine steigende Tendenz wird angenommen. Man sollte skeptisch sein, ob sich dies bewahrheitet. Der Schwerpunkt liegt auf den Balearen, auf Mallorca allein gibt es (vor allem in Küstennähe) Wohnsitze von 43 000 Deutschen (Friedrich und kaiser 2004). Der Besitz konzentriert sich auf die Altersgruppe zwischen 50 bis 70 Jahren, es han-delt sich bei etwa einem Drittel um Einpersonenhaushalte. Die Aufenthaltsdauer beträgt in der Regel drei bis sechs Monate im Jahr, nur 42 % leben dort ganzjährig, oft gibt es einen zweiten Wohnstandort in Deutschland. Entgegen üblicher Annahmen leben nur 15 % in Fincas und ländlichen Siedlungen, aber 55 % in Appartements (vor allem in den Touristen-orten Palma und Calvia) und 30 % in Reihenhäusern (kaiser 2002). Da die Siedlungen in sich sehr geschlossen sind, erfordert ihre Lebensweise nicht ein Leben in zwei Welten, son-dern stellt eine ähnliche Lebenswelt an zwei verschiedenen Orten dar. Trotzdem zeigen die Untersuchungen zu Ruhesitzwanderungen älterer Deutscher in den Mittelmeerraum auch die Probleme, die mit einer solchen Änderung des Lebensumfeldes verbunden sind. Die Altersruhesitze zeichnen sich durch hohes Engagement im unmittelbaren Lebensumfeld, aber wenig tatsächliches Unterstützungspotential vor Ort aus. Die sogenannten Mallorca-Rentner haben zu ihren Kindern guten sozialen Kontakt, aber eben nur über E-Mail und Internet. Viele Ältere gehen bei gesundheitlichen Beschwerden zurück nach Deutschland, doch insbesondere die erste Generation, Bergarbeiter aus dem Ruhrgebiet, die ihre gesam-ten Ersparnisse investiert haben, können sich dies nicht leisgesam-ten.54

In eine andere Richtung verweisen bereits seit längerem Untersuchungen, die berichten, dass innenstadtnahes Wohnen von Senioren sehr geschätzt wird, weil die infrastrukturellen Angebote dort konzentrierter vorhanden sind (stolarz et al. 1993, Bucher und kocks 1988, Veser und thrun 2006). Diese Ansicht wird auch in den letzten Jahren offensiv ver-treten. Erwartet wird eine Rückkehr Hochaltriger in die Städte und auch, dass die in die Städte zugezogenen Jüngeren stärker als bisher dort verbleiben, weil sie attraktivere Arbeits- und Lebensbedingungen vorfinden (häussermann 2006). Zwar zeigen sich in dieser Hin-sicht Tendenzen, doch quantitativ fällt bislang die Rückkehr der Suburbaniden eher gering aus. Bei einer Untersuchung in Mainzer Suburbs haben zwar ein Drittel der über 50-jäh-rigen Befragten schon einmal darüber nachgedacht, aber nur 5 % fassen dies tatsächlich ins Auge und wünschen sich zudem ruhige Innenstadtrandlagen (Glasze und Graze 2007). Die statistischen Befunde sind in dieser Hinsicht bislang ebenfalls nur vorsichtig zu bewerten.

Dass häufig ländliche Gebiete ein positives Wanderungssaldo älterer Bewohner haben, er-klären Born et al. (2004) anhand einer Befragung der Bewohner im Nordbrandenburger Landkreis Prignitz aus der Suche nach Wohneigentum, der Rückkehr an die früheren Fami-liensitze und familiäre Netze. Auch hierbei scheint es regionale Unterschiede zu geben, denn im nordwestdeutschen Ammerland schätzen die älteren Zugewanderten neben der Eigentumsbildung die Lebensqualität, die intakte Natur und die sozialen Nachbarschaften, währenddessen Verkehrs- und Freizeitmöglichkeiten von ihnen negativ beurteilt werden (Landkreis Ammerland 2008).

In Deutschland wird die Diskussion über den besten Ort zum Altern gegenwärtig un-ter dem Aspekt aktueller und zukünftiger Bevölkerungspolitik diskutiert, d. h. als

Mög-54 Vgl. K. Friedrich auf der Tagung Stadtentwicklung und Umwelt 2007.

lichkeit die Entwicklung der Einwohnerzahlen positiv zu beeinflussen, Infrastrukturen auszulasten und wirtschaftliche Stimulanzen zu erzeugen. Einzelne Gemeinden oder Sied-lungstypen präsentieren sich als besonders alternsgerecht: Städte betonen die Vielfalt der vorhandenen Dienstleistungen, Kleinstädte die Fußläufigkeit, Überschaubarkeit und soli-den Infrastrukturen, Dörfer die Naturnähe und die Möglichkeiten einer aktiven und spor-tiven Freizeitgestaltung. Die Analyse der Geographie des Alterns zeigte, dass solche Aussagen nicht allgemein und evident getroffen werden können, auch wenn sie gern als politische Leitvorstellungen formuliert werden. Zum einen sind die räumlichen Bedin-gungen immer durch die soziale Lage gebrochen. Zum anderen sind die räumlichen Struk-turen wesentlich komplexer als solche Schlagworte vorgeben. Die Gefahr ist sehr hoch, dass unter bevölkerungspolitischen Erwägungen betriebene Ansiedlungsbemühungen weder alternssensibel noch nachhaltig sind, weil sie von sehr kurzfristigen Interessen geprägt sind und auf Rahmenbedingungen aufbauen, die sich in naher Zukunft ändern werden (vgl. Kapitel 7).

Trotz dieser Vorbehalte gegenüber Altersruhesitzen und altersbezogenen Segregationen (vgl. VaskoVics 1990) sind aus der Diskussion wichtige Schlüsse für eine alternssensible Stadt- und Regionalentwicklung zu ziehen: Dazu zählt eine bessere Berücksichtigung der regionalökonomischen Effekte, die Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit und der Sicherung des Lebensstandards einschließt. Dazu zählt auch eine erreichbare und nachfrageorientierte Infrastruktur, die Möglichkeiten des lebenslangen Lernens, soziale und gesundheitliche Unterstützungen bietet. Dies umfasst insgesamt eine bestimmte Stadt-, Quartiers- und Nachbarschaftskultur, die durch Offenheit und Kommunikation geprägt ist. Eine solche Kultur verlangt wiederum Wohnbedingungen, die technisch und sozial den veränderten Anforderungen des Alterns genügen. Diese Maßstäbe sind nicht nur aus den vorhandenen Stadt- und Regionalstrukturen heraus zu beurteilen, sondern bilden Handlungsfelder, mit denen sich Kommunen und Regionen auseinanderzusetzen haben (vgl. Kapitel 5).

4.3 Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse

Während empirisch eine Zunahme regionaler Disparitäten zu konstatieren war, wurde in den vergangenen Jahren öffentlich und wissenschaftlich über das Ziel der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse intensiv und kontrovers diskutiert.55 Die Fragestellung lautet zuge-spitzt, ob es denn angesichts der ökonomischen und demographischen Veränderungen über-haupt noch möglich sei, gleichwertige Lebensverhältnisse an jedem Ort und für alle Bevöl-kerungsgruppen gleichermaßen gewährleisten zu sollen bzw. zu können. Was bedeutet dies?

Begrifflich bezieht sich die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in erster Linie auf die Teilräume innerhalb Deutschlands, unter dem Konzept der territorialen Kohäsion, des regio-nalen Zusammenhaltes, werden Ausgleichsbestrebungen vor allem auf europäischer Ebene diskutiert. Das Ziel gleichwertiger Lebensbedingungen erweist sich deshalb als so zentral in der Stadt- und Regionalentwicklung, weil die Zunahme regionaler Unterschiede kumu-lativ verläuft. Den politischen Anspruch aufzugeben, kann zu einer drastischen Verschär-fung von ökonomischen, sozialen und demographischen Problemen führen.

55 Vgl. z. B. das sogenannte Dohnany-Papier sowie das Diskussionspapier des Präsidiums der ARL (2006), die Ausarbeitungen des BMVBW (2005) und BBR (2004).

In der Beurteilung der Gleichwertigkeit von Lebensräumen ist stets zu berücksichtigen, dass der Gleichheitssatz auf eine bestimmte politische Ebene bzw. einen Adressaten bezo-gen werden muss. Im föderal geprägten Deutschland stellt der Ausgleich zwischen den Regionen traditionell nicht nur eine Umverteilung zwischen Zentrum und Peripherie dar, sondern besaß stets wirtschaftsstrukturelle und politische Implikationen.56 Anders als oft diskutiert, spielt der Grundsatz gleichwertiger Lebensbedingungen verfassungsmäßig im Verhältnis zu den bürgerlichen Grundrechten und auch den wohlfahrtsstaatlichen Implika-tionen nur eine untergeordnete Rolle. Im Grundgesetz gibt es keine expliziten Regelungen zur Verteilung oder Förderung auf der regionalen Ebene. Stattdessen handelt es sich beim Grundsatz der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in erster Linie um eine Kompetenz-vorschrift, deren Intention es war, die Kompetenzen des Bundes beispielsweise in Bezug auf sogenannte Gemeinschaftsaufgaben zu regeln.57 Wenn dieser Grundsatz faktisch durch die Gemeinschaftsaufgaben in seiner Reichweite ausgedehnt und inhaltlich erweitert wurde, folgt daraus nicht normativ, dass nun eine Pflicht des Staates und erst recht kein subjektives Recht abgeleitet werden kann. Zudem ist der Tatbestand der Gleichwertigkeit nicht juri-stisch definiert, und vorhandene Urteilssprechungen bringen die Notwendigkeit staatlichen Handelns nur mit einer immensen Schieflage regionaler Lebensverhältnisse in Verbindung, die gegenwärtig nicht gegeben und nicht zu erwarten ist. Trotz konstitutionell unsicherer Legitimation wird Gleichwertigkeit durch die Gemeinschaftsausgaben, den Länderfinanz-ausgleich und den Solidarpakt unterstützt, faktisch erfolgt auch eine räumliche Umvertei-lung in den sozialen Sicherungssystemen wie der Renten-, Kranken- und Sozialversiche-rung.58 Doch bei aller Faktizität kann ein Legitimationsproblem konstatiert werden.

Gegenwärtig wird die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen und der territorialen Kohäsion – nicht nur aus wirtschaftsliberaler Sicht – in Frage gestellt. Selbst in der Gesetz-gebung zur Raumordnung, die sich diesem Grundsatz im Besonderen verpflichtet sah, ist er in der Priorität anderen Zielsetzungen (z. B. Nachhaltigkeit) gewichen (Barlösius 2006). Es geht dabei nicht nur um finanzielle Mittel, sondern um grundsätzliche Fragen räumlicher Politik. Die Diskussion über die Neudefinition des Ziels der gleichwertigen Lebensbedin-gungen erfolgt sowohl angesichts knapper Ressourcen, aber auch neuer Legitimitätsanfor-derungen und unklarer Instrumente (BloteVoGel 2006). Dabei setzt sich die Auffassung durch, dass der Staat im Sinne regionaler Gerechtigkeit sowohl differenzierend als auch ausgleichend tätig werden muss. Dies reicht über die traditionelle Raumordnung hinaus.

Ein weiterer Aspekt berührt die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, gleichwertige Lebens-bedingungen zu postulieren, oder ob die Herausforderung vielmehr darin besteht, regionale Unterschiede nicht zu nivellieren, sondern als spezifische Merkmale („regionale Eigen-heiten“) zu betonen. Weiterreichend zielt ein nicht unbedeutender Teil der Diskussion dahin, dass anstelle des Grundsatzes der Gleichwertigkeit besser heterogene regionale Entwick-lungen unterstützt werden, die vor allen im Ziel der wirtschaftlichen Förderung bestimmter Wachstumskerne Niederschlag fanden. Dies führt zu einer zunehmenden kommunalen und regionalen Konkurrenz, die von den einen als Wettbewerb begrüßt, von denen anderen als

56 Das betraf frühere Förderungen, wie die Berlinförderung, die Zonenrandförderung und die Industrialisierung Bayerns, ebenso wie gegenwärtig die regionalen Folgen aus dem agrarischen und industriellen Strukturwandel sowie dem Transformationsprozess.

57 Im Einzelnen fallen darunter die Gemeinschaftsaufgaben der Agrarstruktur, der Wirtschaftsförderung und des Hochschulbaues.

58 Im Hinblick auf die regionale Abstimmung der Daseinsvorsorge bestehen dagegen im Sozialrecht wenige Möglichkeiten der Regulierung. Vgl. U. Becker auf der Tagung Stadtentwicklung und Umwelt 2007.

nicht nachhaltig kritisiert wird. Angesichts der bestehenden städtischen und regionalen Pro-blemlagen ist eine abstrakt geführte Diskussion um Gleichheit und Eigenheit, Wettbewerb und Staat zu vermeiden. In der Stadt- und Regionalentwicklung geht es in diesem Zusam-menhang ohnehin eher um die Stabilisierung von Abwärtsspiralen und nicht um das Errei-chen von Ausgleichszielen.

Auf dem Prüfstand einer Politik der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen steht auch deren Effektivität. Als Argument dient gewöhnlich, dass, obwohl die Ausgleichspolitik finanzielle Anstrengungen in besonders strukturschwachen und vom Strukturwandel betrof-fenen Regionen unternimmt, negative Entwicklungen sich nur bedingt umkehren, oft nur abfedern lassen. Es gibt allerdings auch gelungene Beispiele, dass sich regionale Entwick-lungen umkehren (z. B. die Wiederentdeckung des Landes, die Renaissance der Innenstädte durch hochqualifizierte Arbeitskräfte). So nimmt beispielsweise in den vergangenen Jahren in agrarisch strukturierten Regionen die Nachfrage nach Fläche – z. B. zum Zweck des Anbaus von sogenannten Energiepflanzen – zu und ist tendentiell sogar eine Übernutzung von Flächen zu beobachten.59 Diese Entwicklungen sind nur bedingt prädiktabel. In der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion spielt der demographische Faktor eine große Rolle.

So wird hinterfragt, ob Investitionen nachhaltig eingesetzt werden, wenn ohnehin weitere Schrumpfungen erfolgen. Kommunal- wie Landespolitik stehen z. B. vor der Herausforde-rung, in Gebieten mit einem hohen Anteil älterer Bevölkerungsgruppen die Versorgung für diese Zielgruppen zu gewährleisten, andererseits aber davon auszugehen, dass einige Ge-biete mittelfristig dünner besiedelt sein werden. Dabei ergibt sich eine Reihe von strittigen Punkten:

– Als gegensätzliche Konsequenzen lassen sich als Ziele formulieren, dass entweder ein Leerzug schrumpfender Gebiete hingenommen bzw. aktiv befördert oder versucht wird, tragfähige Strukturen im demographischen Wandel aufzubauen. Es ist nicht absehbar, dass flächendeckende Wüstungen in näherer Zukunft entstehen, dass sich aber die ge-sellschaftlichen Strukturen vor Ort in demographischer und soziokultureller Hinsicht deutlich verändern. Zu bedenken ist zudem, dass beträchtliche volkswirtschaftliche und individuelle Werte in den Regionen geschaffen wurden, denn Unternehmen, Staat und private Haushalte haben in erheblichem Umfang investiert und Vermögen geschaffen.

– Unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten ist fraglich, ob einer allgemeinen demogra-phischen Entwicklung durch gezielte regionale Ansiedlungspolitiken „entgegengewirkt“

werden kann. Dann müssten auch die Lasten gesamtgesellschaftlich verteilt werden.

Regionale Förderungen sollten deshalb nicht die demographische Konkurrenz bestär-ken, d. h. den Kampf um Einwohnerzahlen befördern.

– Besonders dringlich stellt sich die Frage, wie eine Neuorganisation von Infrastrukturlei-stungen erfolgen kann, die langfristig zu stabilen Versorgungssituationen führt. Nicht ausreichend sind allein raumordnungspolitische Maßnahmen der Konzentration, viel-mehr wird es notwendig sein, die Strukturen vor Ort viel-mehr zu stärken und damit lebens-fähige Bedingungen zu erhalten.

– Die Festlegung von Mindeststandards zur Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse, wie sie vor 30 Jahren als Schwellenwerte durch die Raumordnung definiert wurden,

59 Vgl. die Ergebnisse der AG LandInnovation der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (hüttl et al. 2008).

erscheint kaum praktikabel. Dazu sind die Akteursgruppen, Problemdefinitionen, Vor-gehensweisen regional zu unterschiedlich. Mindeststandards sind nicht an allen Orten umsetzbar. Schon im Wort Gleichwertigkeit sind Abwägungen enthalten. Zurückgreifen kann man in der Formulierung von Mindeststandards auf Erfahrungen in der EU. Fest-legungen, wie sie im Bereich der Telekommunikation und des Verkehrs getroffen wur-den, sind auch auf andere Bereiche übertragbar.

– Die Überlegung, regionale Disparitäten durch eine höhere Mobilität der Menschen aus-zugleichen, ist nur eingeschränkt umsetzbar, bedenkt man z. B. die Verschuldungen bei Immobilienvermögen, die Unterstützungen durch soziale Netzwerke oder die berufliche Einbindung von Haushaltsangehörigen. Mobilitätsanforderungen, die z. B. im akade-mischen Bereich als selbstverständlich gelten, können nicht ohne Einschränkungen auf andere (niedrig qualifizierten) Berufsgruppen übertragen werden. Die Ausführungen in Abschnitt 4.2.1 zeigen zudem, dass die Mobilität älterer Menschen erheblichen Restrik-tionen unterliegt.

Beim Nachdenken über den weiteren Umgang mit der Gleichwertigkeit von Lebensbedin-gungen ist ein Blick auf die in einer Gesellschaft herrschenden Gerechtigkeitsvorstel-lungen hilfreich, auch wenn die beiden Begriffe streng auseinanderzuhalten sind.

Gemeinhin gilt Gerechtigkeit als ein hohes öffentliches Gut, das aber nur schwer konkret umsetzbar ist. Hinzu kommt, dass eine irgendwie geartete Gerechtigkeit zwischen ver-schiedenen Regionen nur subsidiär zu den dort lebenden Individuen artikuliert werden kann. Regionen stellen kein ontologisches Subjekt dar.60 Die (verfassungsgemäßen) Rechte und Freiheiten des Individuums werden durch regionale Unterschiede erst einmal nicht berührt bzw. eingeschränkt. Geht man aber einen Schritt weiter, so stellt die Chan-cengerechtigkeit durchaus ein regionales Problem dar, denn sie ist in hohem Maße von der Ausstattung der regionalen und kommunalen Infrastruktur abhängig. Sind Schulen, Ver-kehrseinrichtungen, Krankenhäuser, Telekommunikation etc. nicht vorhanden, können Chancen schlichtweg nicht wahrgenommen werden. Das gilt insbesondere für Menschen, die in ihrer Mobilität erheblich eingeschränkt sind. Die Normen der Chancengerechtigkeit sind in hohem Maße kulturell bedingt und fallen bereits im europäischen Zusammenhang

Gemeinhin gilt Gerechtigkeit als ein hohes öffentliches Gut, das aber nur schwer konkret umsetzbar ist. Hinzu kommt, dass eine irgendwie geartete Gerechtigkeit zwischen ver-schiedenen Regionen nur subsidiär zu den dort lebenden Individuen artikuliert werden kann. Regionen stellen kein ontologisches Subjekt dar.60 Die (verfassungsgemäßen) Rechte und Freiheiten des Individuums werden durch regionale Unterschiede erst einmal nicht berührt bzw. eingeschränkt. Geht man aber einen Schritt weiter, so stellt die Chan-cengerechtigkeit durchaus ein regionales Problem dar, denn sie ist in hohem Maße von der Ausstattung der regionalen und kommunalen Infrastruktur abhängig. Sind Schulen, Ver-kehrseinrichtungen, Krankenhäuser, Telekommunikation etc. nicht vorhanden, können Chancen schlichtweg nicht wahrgenommen werden. Das gilt insbesondere für Menschen, die in ihrer Mobilität erheblich eingeschränkt sind. Die Normen der Chancengerechtigkeit sind in hohem Maße kulturell bedingt und fallen bereits im europäischen Zusammenhang

Im Dokument Altern in Deutschland Band 5 (Seite 86-92)