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1. Einleitung

1.3. ALS und systemische bakterielle Begleitinfektionen

Sehr häufig treten bei ALS-Patienten aufgrund der eingeschränkten Atemmechanik Infekte des Respirationstrakts wie z.B. Bronchitiden und Pneumonien auf (Gelanis 2001). Das häufigste respiratorische Pathogen und gleichzeitig der häufigste Pneumonieerreger beim Erwachsenen ist das gram-positive Bakterium Streptococcus pneumoniae. Bei schweren Infektionsverläufen ist es möglich, dass Bakterien wie S. pneumoniae nicht ausschließlich auf den lokalen Infektionsherd wie z.B. die Lunge beschränkt bleiben, sondern darüber hinaus auch in den Blutkreislauf

übertreten. Dieser Zustand wird als Bakteriämie bezeichnet. Persistieren und vermehren sich die Bakterien im Blut, werden sie und ihre Bestandteile auf diese Weise im gesamten Organismus und dessen Kompartimenten verteilt. Eine solche bakterielle Allgemeininfektion wird auch als systemische Infektion bezeichnet.

Unspezifische frühe Zeichen einer solchen Infektion können zunächst Fieber und allgemeine Schwäche sein. Bleibt eine systemische Infektion unbehandelt, kann dies sehr schnell zu potentiell lebensbedrohlichen Komplikationen führen. Dazu zählen vor allem die Sepsis und bei einem Durchbrechen der Blut-Hirn-Schranke die Meningitis (Shahin und Lerner 2002; Spreer et al. 2004; Bouza et al. 2005).

In der Klinik kann bei ALS Patienten mit einer Begleitinfektion, wie z.B. einer Pneumonie, eine nicht selten irreversible Verschlechterung der ALS-typischen Symptome beobachtet werden. Auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie dem Morbus Alzheimer und dem Morbus Parkinson können Infektionen die Folgen der Erkrankung verschlimmern oder das Risiko für das Auftreten der Krankheit erhöhen (Perry et al. 2003). Eine Studie an monozygoten und heterozygoten Zwillingen, bei denen ein Zwilling eine schwere Infektion durchgemacht hatte und einen Morbus Alzheimer entwickelte, ergab, dass Menschen, die keine schweren Infektionen durchgemacht hatten, eine Demenz später entwickelten und darüber hinaus länger lebten (Nee und Lippa 1999).

Warum beispielsweise eine Pneumonie bei ALS-Patienten zu einer Symptomverschlechterung führen kann, während ansonsten gesunde Menschen mit einer Pneumonie keine neurologischen Defizite entwickeln, ist bisher nicht genau geklärt. Es liegt die Vermutung nahe, das Neurone von ALS-Patienten vulnerabler auf Vorgänge reagieren, die durch bakterielle Allgemeininfektionen in Gang gesetzt werden. Bei einer manifesten bakteriellen Infektion wird in der Regel eine antibiotische Therapie durchgeführt, um eine Exazerbation der Infektion zu verhindern. Dadurch werden Erregerbestandteile systemisch freigesetzt, welche direkt oder indirekt neurotoxisch wirken können. Dabei bewirken insbesondere Antibiotika wie zum Beispiel Cephalosporine, die ihren Wirkmechanismus über eine Zerstörung der Zellwand des Bakteriums entfalten, eine quantitativ sehr viel höhere Freisetzung von Bakterienbestandteilen als z.B. Antibiotika, welche die Proteinbiosynthese inhibieren (Nau und Eiffert 2002).

Bei einer systemischen Infektion mit S. pneumoniae kommt es spontan oder durch die antibiotisch induzierte Zerstörung des Erregers unter anderem zur Freisetzung

des Proteins Pneumolysin (PLY). Dabei handelt es sich um ein Toxin, das in der Lage ist, die Epithelzellen der Blut-Hirn-Schranke und die Zellen des zentralen Nervensystems zu schädigen. Pneumolysin entfaltet seine toxische Wirkung über die Induktion eines massiven zytosolischen Calciumeinstroms. Darüber hinaus kann Pneumolysin aber auch indirekt, über eine Stimulation von Zellen des angeborenen Immunsystems, zum Neuronentod führen (Braun et al. 2002; Stringaris et al. 2002;

Hirst et al. 2004). Bestimmte Bestandteile anderer Bakterien können, ebenso wie Pneumolysin, proinflammatorisch als Stimulatoren des körpereigenen Immunsystems fungieren (Nau und Eiffert 2002). Zielzellen einer solchen Stimulation sind unter anderem die als Mikrogliazellen bezeichneten residenten Makrophagen des Zentralen Nervensystems. Sie gehören ebenso wie ortsständige Makrophagen in anderen Geweben und zirkulierenden Monozyten im Blut zum mononukleären Phagozytensystem. Ihre Aufgabe besteht im Schutz des ZNS-Gewebes vor eindringenden Mikroorganismen und in der Beseitigung von untergegangenem neuronalem Gewebe (Kreutzberg 1996). Zwar werden den Mikrogliazellen auch neuroprotektive Funktionen zugesprochen, jedoch können sie, wenn sie aktiviert werden, z.B. durch die Freisetzung von Tumornekrosefaktor-α (TNF-α) und Stickstoffmonoxid (NO), Neurone töten (Fordyce et al. 2005; Lotz et al. 2005). Eine solche Aktivierung erfolgt u.a. über sogenannte Toll-like Rezeptoren (TLR), die sich in der Mikrogliazellmembran befinden und von denen inzwischen mehr als 10 unterschiedliche Rezeptor-Typen bekannt sind. Am Beispiel von Maus-Mikrogliazellen und Maus-Makrophagen konnte gezeigt werden, dass die Toll-like Rezeptoren dieser Zellen durch Bakterienbestandteile aktiviert werden (Kaisho und Akira 2006). Als bakterielle TLR-Agonisten fungierten dabei unter anderem das Lipopeptid Pam3Cys (Ligand von TLR-2), die Lipopolysaccharide (LPS) gramnegativer Bakterien (TLR-4) und das Oligonukleotid CpG (TLR-9). Pneumolysin wirkte in geringen sublytischen Konzentrationen TLR-4-agonistisch (Ebert et al.

2005; Srivastava et al. 2005). Die Toll-like Rezeptoren nehmen damit eine Schlüsselrolle bei der potentiell schädigenden Wirkung von freigesetzten Bakterienbestandteilen während einer Begleitinfektion ein.

Das neurodegenerative Geschehen bei der ALS ist schon unabhängig von einer möglichen Begleitinfektion eng mit einer deutlich entzündlichen Reaktion im Nervengewebe verknüpft und wird durch zusätzliche proinflammatorische Stimuli wie Bakterienbestandteile vermutlich exazerbiert (Turner et al. 2004; Lotz et al. 2005).

Als Hinweis auf entzündliche Prozesse konnten in Rückenmark und Liquor von ALS-Patienten erhöhte Konzentrationen der Entzündungsmediatoren Interleukin 6 (IL-6) und Interleukin 1beta (IL-1β) gefunden werden (Sekizawa et al. 1998; Li et al. 2000).

Sowohl bei ALS-Patienten als auch im mSOD-1-Mausmodell findet sich eine deutliche Hochregulation der Cyclooxygenase 2, eines der Hauptenzyme des Entzündungsstoffwechsels. Das Hauptprodukt dieses Enzyms ist Prostaglandin E2, welches in erhöhten Gewebs-Konzentrationen bei ALS-Patienten auftritt (Almer et al.

2001). Daneben sind, als weiterer Hinweis auf entzündliche Prozesse, die Mikrogliazellen im Nervengewebe von ALS-Patienten bereits im Zustand ohne systemische Infektion vermehrt aktiviert. Es wird die Hypothese vertreten, dass diese Aktivierung durch Neuronenbestandteile, die bei chronisch rezidivierenden Neuronenuntergängen vermehrt freigesetzt werden, ermöglicht wird. So konnte an Hand von Primärkulturen der Maus gezeigt werden, dass deren Mikrogliazellen durch das neuronale Membranprotein Amyloid-ß aktiviert wurden. Durch kombinierte Mikrogliazellstimulation mit Amyloid-ß und den bakteriellen TLR-Agonisten LPS und Pam3Cys zeigte sich in vitro eine stärkere Mikrogliazellaktivierung als durch die alleinige Behandlung mit einer dieser 3 Substanzen (Lotz et al. 2005). Diese Beobachtung verweist auf eine vermutlich additive Wirkung von endogenen und exogenen Stimuli auf die Mikrogliazellen. So reagieren bereits aktivierte Mikrogliazellen im Nervengewebe von ALS-Patienten bei einer systemischen Infektion wahrscheinlich sehr viel empfindlicher auf Erregerbestandteile als nicht aktivierte Mikrogliazellen im Gewebe von ansonsten gesunden Menschen. In der Folge könnte es bei ALS-Patienten zu einer stärkeren Mikroglia-induzierten neuronalen Schädigung kommen. Dieses Konzept erscheint insbesondere dann von Bedeutung, wenn die Neurone von ALS-Patienten per se empfindlicher auf den Angriff von Bakterientoxinen und aktivierter Mikrogliazellen reagieren würden.