• Keine Ergebnisse gefunden

als Programm der Materien

Im Dokument Topographie des Reiches Gottes (Seite 43-200)

1. Die Traditionen

In der Forschungsliteratur werden die Themenfelder Reich Gottes, Heilsge-schichte, Eschatologie und Chiliasmus häufig in einem Atemzug genannt.1 Grundsätzlich geht es um das Eingreifen Gottes in die Geschichte, um das Handeln Gottes in der Geschichte, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zu-kunft. Die genannten theologischen Begriffe sind schillernd, da damit tran-szendente und futurische Dinge beschrieben werden sollen, von denen man keine konkrete Anschauung besitzt. Die eschatologischen Vorstellungen ent-springen der menschlichen Hoffnung und werden mit konkreten religiösen Traditionen verknüpft. Es besteht diesbezüglich eine Fülle von artikulierbaren Möglichkeiten, je nach existenziellen, geschichtlichen und religiösen Erfah-rungen sowie kulturellen und sozialen Kontexten. Zudem sind prognostische Aussagen über transzendent-futurische Ereignisse fehleranfällig, sodass Hoffnungen regelmäßig enttäuscht werden und wurden. Dennoch sind die entsprechenden geschichtstheologischen und eschatologischen Vorstellungen in sich konsistent und haben vor allem eine konstitutive Bedeutung für das Handeln in der Welt.2

1.1 Die Koordinaten des Heils: Raum und Zeit

Das Heilshandeln Gottes hatte nicht nur eine transzendente, sondern auch eine immanente Komponente.3 Das bedeutete für die Erweckten, dass sich

1 Vgl. etwa Glossar in Gribben, Millenialism, xi–xiv; Wessinger, Millenialism, 717–723; Miller, Kingdom, der weitgehend die Geschichte des Chiliasmus nachzeichnet. Zu diesen Themenfel-dern gehört auch die Providenzlehre.

2 Landes, Millenarians, 1234 f.; Dies gilt imÜbrigen auch für eine „philosophische Eschatologie“

wie dem Marxismus. Die Wurzeln einer säkularen Heilsgeschichte, die etwa in der Fort-schrittsidee manifest wurde, lagen in der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte. Taubes, Escha-tologie, 125–195; Bauckham, Chiliasmus, 741 f.; Asendorf, EschaEscha-tologie, 320–322. Vgl. auch die systematisch-theologischen Zusammenhänge in Moltmann, Geburt, 123–127.

3 Der Sache nach wurde die heutige, grundlegende exegetisch-theologische Einsicht der gleich-zeitigen Gegenwärtigkeit und Zukünftigkeit des Reiches Gottes bei den Erweckten vorwegge-nommen. Das Heil ist antizipativ in der Person und Verkündigung Christi vorweggenommen, seine eschatologische Vollendung steht aber noch aus („schon jetzt“ – „noch nicht“). Vgl. Wil-ckens, Theologie, 316 f.

Gottes Handeln an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt konkretisieren ließ. Das Heil hatte einen spatialen und einen temporalen Charakter und war somit der menschlichen Erfahrung zugänglich. Im Fol-genden werden dem spatialen Aspekt das Reich Gottes und dem temporalen Aspekt die Heilsgeschichte, Eschatologie und der Chiliasmus zugeordnet.

1.1.1 Der Raum: Das Reich Gottes

Das Reich Gottes ist ein zentrales Theologoumenon des Neuen Testamentes.

Grundsätzlich geht es um das Handeln Gottes in der Welt, das durch be-stimmte Zeichen erkennbar ist.4Zu den biblischen Kennzeichen gehören etwa Heilungen, Befreiung aus dämonischen Bindungen und die Verkündigung des Evangeliums. Die neutestamentlichen Parabeln bringen in metaphorischer Sprache das Wesen und das Wachstum des Reiches Gottes zum Ausdruck.

Spannungen kennzeichnen das Wesen des Reiches Gottes: Die Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz, zwischen Gegenwärtigkeit und Zu-künftigkeit, zwischen der Realisierung durch das Handeln Gottes und des Menschen sowie zwischen zwei konkurrierenden Mächten, der Herrschaft Gottes und des Satans bzw. der Welt. In diesen Spannungsfeldern bewegen sich die unterschiedlichen Vorstellungen vom Reich Gottes.5

1.1.2 Die Zeit: Die Heilsgeschichte

Auch der Begriff Heilsgeschichte impliziert die Spannung zwischen tran-szendentem Heil und immanenter Geschichte, zwischen zeitloser Ewigkeit und vergänglicher Geschichte.6 Bereits die alt- und neutestamentlichen Schriften setzen eine Heilsgeschichte voraus, nämlich „das sinnvoll nende Nacheinander gott-menschl. Beziehungen od. die planmäßig erschei-nende Abfolge göttl. Handlungen“.7Der Begriff als selbständige dogmatische Kategorie kam erst im 19. Jahrhundert auf, doch der Sache nach war die Heilsgeschichte strukturierendes Element der Theologie seit der Alten Kirche und insbesondere im Protestantismus des 17./18. Jahrhunderts.8 Die Ge-schichte wurde als ein fortschreitender, sinnvoller Prozess verstanden.

Heilsgeschichte als die biblische Geschichte mit ihren Eckpunkten Schöpfung, Fall, Gesetz, Inkarnation, Kreuz, Auferstehung, Himmelfahrt, Pfingsten, Zeit

4 Miller, Kingdom, 1025 f.

5 Schwçbel, Reich Gottes, 209 f.

6 Koch, Heilsgeschichte, 1341.

7 Weiser, Heilsgeschichte, 1336–1339. In den neutestamentlichen Schriften ist Person und Werk Jesu Christi Mitte und Ziel der Heilsgeschichte. In ihm und durch ihn werde Gott die Welt zu ihrer Vollendung führen.

8 Vgl. Faber,Ökonomie, 1015.

der Kirche, Millenium und Eschaton wurde mit der Weltgeschichte verknüpft.

Eine heilsgeschichtliche Theologie trug somit der geschichtlichen Dimension des Glaubens Rechnung und grenzte sich von einer statischen und abstrakten Metaphysik ab.9 Je nach heilsgeschichtlicher Konzeption konnte das eine Dynamisierung des kirchlichen Lebens bedeuten, die den Gläubigen die ge-schichtliche Wirklichkeit als Raum des Handelns eröffnete. Das eigene Han-deln hatte dabei eine heilsgeschichtliche Relevanz. Man bettete sich in die Linie der biblischen Geschichte ein und platzierte sich in die Zeit zwischen Pfingsten und der Parusie Christi.10

Die christliche Heilsgeschichte läuft auf die eschatologische Vollendung der Welt hinaus. Mit der Eschatologie sind die so genannten „letzten Dinge“ ge-meint, die nach klassischer Lehrmeinung als die „vier letzten Dinge“ be-zeichnet werden: Tod, Gericht, Himmel und Hölle.11Es ist eine Unterschei-dung zwischen individueller und universaler Eschatologie zu treffen. Bei der individuellen Eschatologie geht es um das Geschick des Einzelnen (d.h. Tod, Gericht und Auferstehung), bei der universalen Eschatologie um das allge-meine Ende des alten Kosmos, das jedoch zugleich als Beginn einer neuen Welt verstanden wird. Mit der universalen Eschatologie hängt das Reich Gottes zusammen.12Wenn im Folgenden von der Eschatologie die Rede ist, dann sind damit einerseits die „letzten Geschehnisse am Ende der Zeiten, die in der biblischen Überlieferung als heilsgeschichtlich-apokalyptisches Drama ge-schildert werden“13und andererseits das Ende der Geschichteüberhaupt ge-meint. Die entscheidende Frage ist, wie man sich auf dieses Endereignis vor-zubereiten hat. In der Geschichte der Kirche wurden jeweils unterschiedliche Antworten auf diese Frage gegeben.

In denMaterienwar jedoch weniger die Eschatologie das Thema, sondern stärker der dynamische Prozess der irdischen Heilsgeschichte, die mit dem Begriff „Chiliasmus“ zu umschreiben ist.14Dem Chiliasmus liegen frühjüdi-sche Vorstellungen einer 1000-jährigen messianifrühjüdi-schen Heilszeit zugrunde, die ihre Fundamente in den Verheißungen eines messianischen Friedensreiches im Alten Testament haben. Im Neuen Testament ist der locus classicus des Chiliasmus in Apk 20,1–10 zu finden, wo eine 1000-jährige Herrschaft der Märtyrer mit Christus vor dem letzten Gericht beschrieben wird. Typologisch

9 Weiser, Heilsgeschichte, 1339. Auch darin grenzte sich der Pietismus theologisch von der Orthodoxie ab.

10 Mildenberger, Heilsgeschichte, 1584.

11 Gribben, Millenialism, xii.

12 Kçrtner, Die letzten Dinge, 27 f.

13 Kçrtner, Die letzten Dinge, 22.

14 Zum Folgenden siehe Landes, Millenarians, 1234 f.; Bauckham, Chiliasmus; Gribben, Evangelical Millenialism, xi–xiv; Die neuerdings in der angloamerikanischen „Millenialism“-Forschung festzustellende Verschiebung von theologischen zu kulturtheoretischen Fragen und Kategorien wird hier in dieser Arbeit nicht vollzogen, da es hier um theologische Fragestel-lungen gehen soll. Vgl. den Aufsatzband Wessinger, Millenialism.

sind Unterscheidungen in der Terminierung und der Beschaffenheit dieses Milleniums zu treffen. Der Prämillenarismus besagt, dass Christus vor dem 1000-jährigen Reich kommen werde, um das Reich aufzurichten. Damit geht ein radikaler heilsgeschichtlicher Bruch zwischen Gegenwart und Zukunft einher, da für das menschliche Mitwirken an der Heilsgeschichte wenig Raum bleibt. Der Postmillenarismus geht davon aus, dass die Parusie Christi erst nach der 1000-jährigen Heilszeit erfolgen werde. Für die menschliche Mit-wirkung an der Heilsgeschichte bleibt in der Regel ein größerer Spielraum offen. Nach der Beschaffenheit des Milleniums unterscheidet man grund-sätzlich zwischen einem „chiliasmus crassus“, der ein reales messianisches Reich auf Erden verspricht, in dem die Heiligen materielle Güter genießen und mit Christus auf Erdenüber die Ungläubigen undüber die Bösen herrschen werden. Der „chiliasmus subtilis“ geht von einem geistigen und nicht-mate-riellen Millenium aus. Christus werde vom Himmel aus durch seinen Geist und damit auch durch die Kirche herrschen. Die angloamerikanische For-schung kennt noch den so genannten Amillenarismus, der das Millenium mit einer bestimmten Epoche der Kirche gleichsetzt, meistens mit der jeweiligen Epoche, in der man lebte. Entscheidend ist, dass das Millenium nicht als eine zukünftige Heilszeit erhofft und erwartet wird. Diese Lehre hat einen kon-servativen Charakter, da das Reich Gottes mehr oder weniger mit der Insti-tution der Kirche als dem Leib Christi gleichgesetzt wird (vgl. Augustins

„Civitas Dei“). Wie beim Reich Gottes sind auch den chiliastischen Lehren grundsätzliche Spannungen inhärent, so zwischen der aktiven und passiven Rolle des Menschen bei der Herbeiführung des Milleniums, zwischen einer abrupt-gewaltsamen und einer sich irenisch evolvierenden Transition von einem Äon zum anderen, zwischen der konservativen und progressiven Funktion des Glaubens an das Millenium. Ebenso ist die Terminierung des 1000-jährigen Reiches vielgestaltig, in Bezug darauf, ob genaue oder vage Jahresangaben oder ob überhaupt irgendwelche Angaben getätigt werden.

Ebenfalls variieren die Ansichtenüber die tatsächliche Länge des 1000-jäh-rigen Reiches. Dennoch, sofern die Hoffnung auf das Millenium geäußert wurde und wird, wird von seiner baldigen oder nicht ganz fernen Ankunft ausgegangen. Entscheidend ist, dass diese Hoffnung auf die bevorstehende Transformation der Welt aktivierende Kräfte zu menschlichen Handlungen freisetzt.15

1.2 Der Chiliasmus Philipp Jacob Speners

Speners Bedeutung für den Pietismus, insbesondere für den kirchlichen Pie-tismus, ist unbestritten. Johannes Wallmann machte mit der öffentlichen

15 Landes, Millenarians, 1235: „This apocalyptic sense of urgency transforms quiescent beliefs into a range of passions all the more intense because of the immediacy of these final cosmic transformations.“

Propagierung der „Hoffnung besserer Zeiten“ und der Einrichtung der pie-tistischen Konventikel den Beginn des Pietismus in Deutschland fest. Beides ist verbunden mit dem Namen Spener.16Spener selbst maßseiner chiliasti-schen Hoffnung große Bedeutung bei und war sich bewusst, dass er damit von der Lehre der lutherischen Orthodoxie abwich. Seine chiliastischen Auffas-sungen (wobei er diesen Begriff nicht gerne verwendete, da er in der Ortho-doxie umstritten war und ihn in die Nähe der HeteroOrtho-doxie brachte)17 verän-derten sich im Laufe seines Lebens kaum. Die „Hoffnung“ war eine der wichtigsten Kerngedanken seiner programmatischen ReformschriftPia De-sideria von 1675: „Sehen wir die heilige Schrifft an / so haben wir nicht zu zweifflen / daßGOTT noch einigen bessern zustand seiner Kirchen hier auff Erden versprochen habe.“18Was waren die Kernanliegen seiner chiliastischen Hoffnung?19Spener erwartete – auf Anregung von Johann Jacob Schütz20– vor dem Einbrechen des Endgerichts eine längere Heilszeit auf Erden. In erster Linie bedeutete dies für ihn einen besseren Zustand der Kirche. Eine bessere Kirche sollte jedoch auch die drei Stände der Gesellschaft geistlich und sittlich erneuern und daher zur Besserung der Welt beitragen. An zwei konkreten Ereignissen machte Spener diese in seinen Augen biblische Zukunftshoffnung fest: Einerseits am Fall Babylons (=der Zusammenbruch des Papsttums), andererseits an der Bekehrung des gesamten oder eines großen Teils des Ju-dentums zum Christentum. Die Reform der Kirche und das Eintreffen dieser beiden Ereignisse waren miteinander zirkulär verschränkt: Eine Besserung der Kirche – die Spenerschen Ecclesiolae in Ecclesia sollten dafür ein Vehikel sein – sollte den Fall des Papsttums und die Bekehrung der Juden beschleu-nigen. Gleichzeitig erhoffte Spener durch den bevorstehenden Fall des Papsttums und die Bekehrung der Juden eine Besserung der Kirche. Diese biblischen Verheißungen hatten also zum einen „ethisch-motivierenden Charakter“, der entsprechend zur Tat drängen sollte, zum anderen sollten sie das Vertrauen in die Pläne Gottes mit der Kirche und mit der Welt stärken.

16 Vgl. Kapitel I.3; Wallmann, Was ist Pietismus?, 18. Auch in denMaterienwurden Schriften Speners wiedergegeben: Sammlung 4 (1732) 396–402 („Soliloquia“); 11 (1733) 335–342 („Sprüche Heil. Schrift“); 19 (1734) 283–285 („Natur und Gnade“).

17 Johann Georg Neumann warf Spener vor, einen Chiliasmus subtilissimus occultius zu vertreten.

Damit meinte er die Erwartung eines besseren und friedlichen Zustandes der Kirche vor der eigentlichen Wiederkunft Christi (=Postmillenarismus). Zudem unterschied er einen Chili-asmus crassus, subtilis und subtilissimus apertus. Spener selbst hielt solche Unterscheidungen nicht für falsch, wollte aber grundsätzlich nicht in diesen Kategorien beurteilt werden, da die Theologen der Orthodoxie in ihrer Polemik in der Regel keine Unterscheidungen vornahmen und jeglicheÄußerungen einer zukünftigen Hoffnung als Chiliasmus und damit als eine Lehre gegen die Confessio Augustana Art. 17 verurteilen würden. Vgl. Krauter-Dierolf, Eschato-logie, 268 f.

18 Spener, Pia Desideria, in Aland, Grundschriften, 172.

19 Im Folgenden die instruktiven Arbeiten Krauter-Dierolf, Eschatologie; Krauter-Dierolf, Hoffnung. Weitere Literatur zum Thema ist dort zu finden. Ebenso Wallmann, Chiliasmus.

20 Schütz war wiederum von Christian Knorr von Rosenroth beeinflusst, der wiederum seine chiliastischen Ansichten von Joseph Medeübernommen hatte. Deppermann, Schütz, 126–141.

Spener war der Überzeugung, dass diese Heilszeit unmittelbar bevorstehe.

Seine Zukunftshoffnung lässt sich als „eigentliches Movens des Spenerschen Reformprogramms“ charakterisieren.21Er war jedoch – auch aus streittakti-schen Gründen – gegenüber einer detaillierten Beschreibung der futuristreittakti-schen Ereignisse sehr zurückhaltend. Es ging ihm lediglich darum, grobe Konturen zu beschreiben. Sein Hauptaugenmerk galt der begründeten Berechtigung, sich dieser Hoffnung zu bedienen,22 die motivatorische Grundlage und Glaubensstärkung für reformerisches Handeln in der Kirche sein sollte:

„Und wie solte einer nicht dadurch zu desto mehrerm fleiß an dem wercke deß HERRN auff alle mügliche weise zu arbeiten angefrischet werden/ wo er sich gewiß außGottes wort versichert weiß/ daßder HERR seine Kirche und Zion/ so fast wüste lieget/ wieder auffbauen/ und seine lücken außbessern wolle/ und zwar daßdie zeit immer näher kommen müsse? Dann so siehet er seine arbeit nicht vergebens an/

sondern ob er etwa nicht hoffnung hat/ gleichsam selbst noch an dem bau be-schäfftigt zu seyn/ und denselben zu sehen/ hoffe er auffs wenigste/ daßer an denen steinen arbeite/ und sie bereite/ die der HERR zu seiner zeit/ wann er selbst etwa wird zur ruhe bereits gegangen seyn/ zu seinem herrlichen bau gebrauchen werde.“23 Mit dem Spenerschen Chiliasmus entwickelte sich in der Folge die Tendenz der „pietistischen Umformung der reformatorischen Eschatologie in eine innergeschichtliche Reich-Gottes-Erwartung“.24Die Naherwartung des esch-atologischen Endgerichtes in der Orthodoxie wurde somit im Pietismus durch eine diesseitige „Naherwartung besserer Zeiten“ substituiert. Eschatologische Anschauungen wurden nun auf die immanente Geschichte projiziert und das

21 Krauter-Dierolf, Eschatologie, 33 und 340; Lehmann, Cultural Turn, 21 f.: So hatte „der Glaube an die heilsgeschichtliche Zeit eine für die Gestaltung ihres Lebensüberragende Be-deutung“ und war die „heilsgeschichtliche Zeitperspektive der Maßstab, an dem sie ihr Leben ausrichteten“.

22 Im Allgemeinen ging Spener sowohl von einem geistlichen und unsichtbaren als auch von einem sichtbaren Reich Gottes aus. Aufgrund dieser oszillierenden Perspektive auf das Reich Gottes war er zurückhaltend bei konkreten Beschreibungen. Denn das Reich Gottes sei gemäßLk 17,20 f. nicht sichtbar, doch sei es dort sichtbar, wo der Glaube sich im Gehorsam und in der Tat äußere. In den bevorstehenden besseren Zeiten werde die Herrlichkeit des Reiches Gottes jedoch auch für die Ungläubigenäußerlich mehr und mehr sichtbar werden: „Man kan sagen/

hie an diesem ort/ an jenem ort/ ist in einem seinem theil das reich GOttes/ man kan sagen / es komme dahin/ wo man sihet/ daßdas Evangelium gepredigt wird/ und sich leute dessen ge-horsam untergeben.“ Krauter-Dierolf, Eschatologie, 273. Spener wandte sich wiederholt gegen eine Spiritualisierung der biblischen Verheißungen, die von der Orthodoxie als größ-tenteils schon erfüllt gedeutet wurden. Die Behauptung, dass die Verheißungen in der Schrift schon mehrheitlich erfüllt seien, würde Juden und Atheisten in ihrer Ablehnung des Chris-tentums bestärken, da der Augenschein erkennen lasse, dass diese Verheißungen ja noch nicht erfüllt seien. Ebd., 151 f., 163 f., 167 f.

23 Ebd., 167. Zitat aus Spener, Behauptung, 281 f. Vgl. Kunz, Eschatologie, 75: „Die Hoffnung auf eine herrlichere Erscheinung des Reiches Gottes in der zukünftigen Geschichte ist für Spener die Voraussetzung dafür, in der Gegenwart mit Eifer ,an dem reich gottes (zu) arbeiten‘.“

24 So Wallmann, Chiliasmus, 421; Sch ufele, Geschichtsbewusstsein, 42 f.

Reich Gottes als innerweltlich gedeutet, wenn auch dessen Vollendung erst durch das gerichtliche Eingreifen Gottes erfolgen sollte. Diese „Hoffnung besserer Zeiten“ schloss daher ein Gericht Gottesüber die jetzt bestehende, als verderbt angesehene Kirche mit ein. Spener vertrat keinen platten Heilsop-timismus. Dennoch unterlag seine Geschichtstheologie einer auf die Vollen-dung hinstrebenden inneren Dynamik. Die göttlichen Kräfte sollten sich in-tensivieren, denn einerseits werde sich sowohl das Böse als auch das Gute auf spürbare Weise mehren: „die boßheit der bösen mehrüberhand nimt, aber das gute sich auch stärcker zu regen anfängt“.25Beide Faktoren, Heilsoptimismus und Heilspessimismus, prägen diese chiliastische Geschichtsschau und beide Perspektiven sind konstitutiv für die geschichtstheologischen Vorstellungs-schemata der Erweckten, sodass deren düstere Klagenüber den Glaubens-abfall als auch deren exaltierte Hoffnungen auf eine Ausbreitung des Reiches Gottes als zwei Seiten derselben Medaille in Erscheinung treten.26Zugleich sei gemäßDan 12,4 mit einer progressiven Erkenntniszunahme zu rechnen. D.h.

die Geschichte wurde Träger göttlicher Offenbarungen, die prophetische Verheißungen aus der Bibel in einem neuen Licht erscheinen ließ. Durch die bereits erfolgte oder durch die unmittelbar bevorstehende Erfüllung bibli-scher Prophetien konnte die Schrift besser verstanden werden, was wiederum ihre autoritative Geltung verifizierte. Heilige Schrift und Geschichte waren durch einen hermeneutischen Zirkel miteinander verschränkt und legten einander aus.27Mit jeder erfüllten Prophetie näherte sich zudem die sehn-suchtsvoll erwartete eschatologische Vollendung der Geschichte. Neben der Schrift trat somit bei Spener die Geschichte implizit ebenso als Offenba-rungsträger auf. Für die Orthodoxie stellte Speners Dynamisierung der Schrift- und Geschichtshermeneutik folgerichtig eine Bedrohung dar, da damit die Schrift als alleiniger Offenbarungsträger implizit in Frage gestellt wurde. Zudem warf die Orthodoxie Spener vor, er messe der eigenen Zeit und der Zukunft einen höheren Erleuchtungsgrad bei als den apostolischen Zeiten.

Damit wurde seine Lehre in die Nähe des Schwärmertums gerückt.28

25 Krauter-Dierolf, Eschatologie, 22. Spener in der Predigt zum 2. Advent 1674.

26 Ebd., 23 Anm. 75. Zu dieser doppelten geschichtlichen Entwicklung vgl. ebd., 153, 159 f.

27 G bler, Auferstehungszeit, 171: „Die Bibel bestätigte den Erweckten das baldige Hereinbre-chen der Endzeit. Diese Benutzung der Bibel begründete die Auffassung von ihrer Autorität.

Denn die Zeitereignisse ihrerseits bewiesen die Wahrheit der biblischen Prophezeiungen und damit die Zuverlässigkeit der Heiligen Schriftüberhaupt.“ Gäblers Einsichten zum propheti-schen Motiv der Erweckungsbewegungen im 19. Jahrhundert lassen sich aufgrund der Ergeb-nisse dieser Arbeit ebenso auf das 18. Jahrhundertübertragen. Die historische Kritik an der Heiligen Schrift war im 19. Jahrhundert fundamentaler, dennoch kamen bereits die dogmati-schen Lehrgrundlagen des Christentums durch Deismus und Rationalismus ebenso im 18. Jahrhundert ins Wanken. Durch den Verweis auf die Geschichte wollten die Erweckten somit auch die Autorität der Schrift geltend machen. Vgl. ebenso Lehmann, Cultural Turn, 24.

28 Vgl. Krauter-Dierolf, Eschatologie, 241–248.

1.3 Die Reich-Gottes-Theologie im Hallischen Pietismus

Speners Lehre von der „Hoffnung besserer Zeiten“ wurde zu einer Art Fer-ment, aus dem heraus die hallischen Projekte erwuchsen.29Beide Herausgeber derMaterien, besonders Steinmetz, waren im Hallischen Pietismus verwur-zelt. Die theologische Ausrichtung derMaterienorientierte sich an Halle.30Im Folgenden sollen die hallischen Reformprojekte im Lichte ihrer spezifischen Reich-Gottes-Theologie kurz beleuchtet werden.31In der lutherischen Tradi-tion wurde das Reich bzw. die Herrschaft Gottes im Inwendigen des Menschen lokalisiert (nach Lk 17,21), wo ein ständiger Kampf zwischen Gott und dem Teufel um die Herrschaft stattfindet. Die christliche Existenz blieb somit stets angefochten und gefährdet. Nach außen äußerte sich das Reich Gottes sub cruce, blieb also vor den Augen der Welt verborgen und unsichtbar bzw. nur

Speners Lehre von der „Hoffnung besserer Zeiten“ wurde zu einer Art Fer-ment, aus dem heraus die hallischen Projekte erwuchsen.29Beide Herausgeber derMaterien, besonders Steinmetz, waren im Hallischen Pietismus verwur-zelt. Die theologische Ausrichtung derMaterienorientierte sich an Halle.30Im Folgenden sollen die hallischen Reformprojekte im Lichte ihrer spezifischen Reich-Gottes-Theologie kurz beleuchtet werden.31In der lutherischen Tradi-tion wurde das Reich bzw. die Herrschaft Gottes im Inwendigen des Menschen lokalisiert (nach Lk 17,21), wo ein ständiger Kampf zwischen Gott und dem Teufel um die Herrschaft stattfindet. Die christliche Existenz blieb somit stets angefochten und gefährdet. Nach außen äußerte sich das Reich Gottes sub cruce, blieb also vor den Augen der Welt verborgen und unsichtbar bzw. nur

Im Dokument Topographie des Reiches Gottes (Seite 43-200)

ÄHNLICHE DOKUMENTE