• Keine Ergebnisse gefunden

ALLGEMEINERE VORAUSSETZUNGEN IN DER KUNST DES 5. JAHRHUNDERTS

Mit diesen Beobachtungen wird man auf einige grundlegende Bedingungen der Kunst des 5. Jahrhunderts verwiesen. Es ist aus den Bildwerken wie den schriftlichen Zeugnissen allgemein deutlich, daß in der Kunst des 5. Jahrhunderts dem Künstler eine neue Stellung zukommen mußte, die auf der prinzipiell neuen Freiheit des Ge­

staltens beruhte125 126 *. Die archaischen Kouroi — um das einfachste Beispiel zu nennen — waren geprägt von einer festen unbefragten Typik, einem seit alter Zeit vorgegebenen Schema, für das man später in Daidalos auch einen 'Gründerheros’, einen upa>To$

süp£TT)$ zu nennen wußte128. Der einzelne Künstler konnte dieses Schema besser oder

120 M.Reinhold, History of Purple as a Status Symbol in Antiquity,Coll. Latomus116 (1970) 25f. Vgl.

Aristophanes, Friede 1172ff. Über Schmuck: Aristophanes, Ekkl. 632. Wolken 332.

121 Plinius, N. H. 35, 62. Wace, ÖJh 39, 1952, 111 ff.

122 z.B. Gorgias, Hippias von Elis. 123s. o. S. 76ff.

124 Zum archaischen Künstlertums. Anm. 145.

125Wenn im folgenden einige PhänomenederArchaikund Klassik einander gegenübergestelltwerden, so geschieht das mit bewußten Vereinfachungen, um bestimmte Grundzüge zu verdeutlichen. Vor allemwerden die Tendenzen der Spätarchaik, dieauf den neuen Stil hinführen, also die Probleme des Übergangs,hier ausgeklammert. Für wichtige Anregungen in diesem Zusammenhangdankeich Chr.

Meier. Einigederhier besprochenen Fragen sind auch beiD. Metzler, Porträtund Gesellschaft (1971) behandelt, jedoch mit unzulänglichen, unscharfen Begriffen und vermengt mit ganz andersartigen Phänomenen, so daß die historischen Konturen stark verschwimmen; vgl. dazu L. Schneider, Gnomon 46, 1974, 397ff.

126N. Himmelmann-Wildschütz, ErzählungundFigur in der archaischen Kunst, AbhMainz 1967 Nr. 2, 88f. Vgl. B.Schweitzer, Xenokrates von Athen (1932) 22ff. Allgemein zum Topos des ‘Erfinders’:

u. Anm. 133.

NIKE DER MESSENIER UND NAUPAKTIER IN OLYMPIA 99 schlechter realisieren, er konnte es auch in Einzelheiten individuell abwandeln, hat es aber niemals in seinem Prinzip in Frage gestellt und verändert. Mit der ponderierten Figur des 5. Jahrhunderts wird eine grundsätzlich variablere Kompositionsweise erreicht. Durch die neue Beweglichkeit wird die Gestalt nun als Ganzes frei kom­

ponierbar — je nachdem, welches Bein man belastete, wie man Körper, Arme und Kopf auf die Verschiebung des Gewichts reagieren ließ127. Dieser sehr vielschichtige und konsequenzenreiche Wandel ist in diesem Zusammenhang dadurch von Bedeu­

tung, daß sich für den Künstler jetzt Alternativen ergaben, die nicht nur Einzel­

heiten, sondern den gesamten Aufbau der Figur betrafen, d. h. verschiedene Möglich­

keiten, die einzelnen Teile aufeinander wirken und sich zum Ganzen zusammen­

schließen zu lassen. Und da nun der Künstler bei jeder Statue relativ frei über den ganzen Aufbau entscheiden konnte128, mußte ihm als dem gestaltenden Subjekt eine grundsätzlich neue Bedeutung zukommen.

Ähnlich die Entwicklung des Nike-Bildes. Hier wird deutlich, welcher Unterschied zwischen der individuellen Konzeption etwa der Figur des Paionios und 'Erfindungen’

archaischer Zeit besteht, auf die deren Künstler ebenfalls sehr stolz gewesen sein mochten. Der erste Bildhauer, der Nike mit Flügeln dargestellt hat, soll Archermos von Chios gewesen sein129. Seine Figur schloß sich eng an einen bereits ausgebildeten Typus an, den Knielauf, der mehr ein einprägsames Zeichen als eine organische Wiedergabe der Flugbewegung war und in dieser Punktion bereits vorher ähnliche Figuren von anderer Bedeutung, etwa Gorgonen, charakterisiert hatte130. Die Tradi­

tion ist also in dem Werk des Archermos sehr stark gewesen. Bedenkt man dazu die Gesetze typischer Darstellung von Handlungen und Bewegungen in der archaischen Kunst, nach denen eine solche eilende Gestalt kaum wesentlich anders aussehen konnte als der tatsächlich realisierte Typus, so wird die starke Bindung künstlerischer Imagination in jener Zeit noch deutlicher131. Gewiß war es ursprünglich ein bedeu­

tender Schritt gewesen, als der Knielauf sich zu einem einigermaßen festen Typus bildete. Aber was damals entstand, war ein tradierbares, für die Folgezeit vorge­

gebenes Schema, das zwar wiederum in Einzelheiten geändert, d. h. der Absicht nach verbessert werden konnte, als Ganzes jedoch in archaischer Zeit nicht in Frage gestellt

127 Esist dabeigrundsätzlichirrelevant, daß in der neuen Kompositionsweise bald gewisse Schemata bevorzugt wurden: Im Prinzipwardie Freiheit unangetastet; wer sich anVorgeprägtes anschloß, tates aus freier Wahl; und Polyklets Kanon wareine persönlicheSelbstbeschränkung, die für andere nicht verbindlich war (vgl.unten S.105).

128 Diese Feststellungwird nicht dadurch beeinträchtigt, daß selbstverständlich auch damals gewisse Grenzen unangetastetblieben: daß die klassischponderierte Gestaltallgemeine Geltung hatte, daß die Figurnicht den Tiefenraum aufschloß etc. Diese Begrenzungenliegen auf einer anderen Ebeneund lassen der individuellen Gestaltung sehr viel mehr Raumals die Typologie derarchaischenZeit.

129 Schol.Aristophanes, Vögel 573. Dazujetzt C. Isler-Kerenyi, Nike (1969) 77ff. 114ff.

130 E.Schmidt in MünchenerArchäologische Studiendem Andenken A. Furtwänglers gewidmet (1909) 249ff. Isler-Kerenyi a. O. passim.

131 Das Kapitel zu diesenProblemen beiSchmidt a. O. 370ff. istzwar veraltet,aber mutatis mutandis immer noch lesenswert.

7*

100 TONIO HÖLSCHER

wurde132. Ähnlich sind Feststellungen von gleichzeitigen EOpf)notTcc in anderen Be­

reichen des Lebens zu verstehen, etwa die 'Findung’ der Musik, des Ackerbaus, der Schrift133: als ursprüngliche Stiftung und Konstituierung des seither bestehenden menschlichen Lebens. Seit dem 5. Jahrhundert sind Nikefiguren keinem derart ver­

pflichtenden Schema mehr verhaftet; es wurden aus dem Problem der organischen Flugbewegung sehr verschiedene Lösungen entwickelt, deren grundsätzlich indivi­

duellerer Charakter schon bei den Beispielen des Strengen Stils134 offensichtlich und dann bei der Paionios-Nike besonders stark ausgeprägt ist135. Schöpfungen wie die des Paionios oder gar das Kentaurenbild des Zeuxis waren im Grund unwiederholbar, zumindest für anspruchsvolle Künstler136. Wer sie nachahmte, war Epigone, wer mit ihnen konkurrieren wollte, mußte eine neue, ebenbürtige Idee entwickeln137. Auf die Nike des Paionios folgt in diesem Sinn das Akroter über dem Ostgiebel des Asklepios-Tempels von Epidauros: eine Nike, deren Flügel nun im Vergleich zum Körper sehr viel mächtiger sind, so daß sie allein den Leib wie bei einem Vogel zu tragen scheinen138. Universelle Geltung in dem strengen Sinn wie ein archaischer Typus konnte eine solche Bildidee in dieser Zeit um so weniger gewinnen, je eigen­

williger ihre Konzeption war.

Werke wie das Kentaurenbild des Zeuxis werden bei Lukian ToXiiijnaTa genannt139.

Es ist nicht sicher belegbar, daß der Terminus schon im 5. Jahrhundert für derartige

132Dem widerspricht nicht, daß in seltenenFällen,umeinenSchwarm von kleinen,meist attributiven Flügelwesen zu zeigen, auch andere Schemata ausgebildet werden. Auch diese haben denselben Zeichenhaften Charakter (Schmidta.O.277f. 378ff.) — undbeeinträchtigenim übrigen dieGeltung desKnielauftypus für Niken alsHauptfigurennie.

133 A. Kleingünther, rrpÖTOS eüpe-rrjs, Philologus Suppl.26, 1 (1934). Thraede, RhM 105, 1962, 158ff.

Ders., RACV 1191 ff. 13,1o. S. 89 Anm.78.

135 Diese Freiheitist auch dadurch nicht beeinträchtigt, daß manche 'Erfindungen’ ingewisser Weise

inder Luft* zu liegen scheinen: etwa das korinthische Kapitell,eine typische Schöpfung dieser Zeit, die durch die allgemeine Tendenz des dorischen Tempelbaus zur Vertikalisierung in bestimmten Zügen vorgezeichnet ist (H. Bauer, Korinthische Kapitelledes5. und 4.Jhs.v.Chr., AM3. Beiheft [1973] 9ff.), in der konkretenFormaber auch sehr anders hätte aussehenkönnen. AndereErfindun­ gen’ dieser Zeit, etwa dieSchattenmalerei’, sind nur ein allgemeinerRahmen, in dem der einzelne Künstler große Freiheit hatte.

136Daher die z. T.sehr eifersüchtige Wachsamkeit derKünstler, daß niemandihnenihre ‘Erfindungen’

wegnehme: z.B. der angebliche Ausspruch des Apollodoros, Zeuxis habe ihm seine Kunst gestohlen (Plinius, N.H. 35, 62).

137Dasschließt selbstverständlich nicht aus, daß einzelne Meisterwerke auch dieser Epoche eine stark prägende Krafthatten. Abergeradedie bedeutenden Künstler haben ausihren großen Vorbildern sehr individuelle Lehrengezogen, vgl. Lysippsangebliche Anlehnung an Polyklet: Cicero, Brutus 86, 296.Daß eine soeigenwillige Schöpfung wiedaskorinthische Kapitell schließlich zu soweiterGeltung gelangenkonnte,liegt offenbar daran, daß es inseinemAufbau einer allgemeinen Entwicklungstendenz der damaligen Architektur genauentsprach (o. Anm. 135) und in der Architektur ein solchesexpo­

niertes Bauglied nicht zu beliebigem Experimentieren geeignet war.

138 J. F. Crome, Die Skulpturen des Asklepiostempels von Epidauros (1951) Taf. 11. K. Schefold, Die Griechenund ihre Nachbarn, Propyläen Kunstgeschichte I (1967) 113. Der KünstlerderAura in Kopenhagenhatdagegenversucht, mit Paionios im selben Typuszu konkurrieren: Bielefeld,AntPl 9, 1969, 57mitTaf. 37-39.

139 Lukian,Zeuxis 3.Overbeck, SQ.1663.

NIKE DER MESSENIER UND NAUPAKTIER IN OLYMPIA 101 Bildwerke verwendet wurde. Doch bezeichnen dieses und verwandte Wörter in jener Zeit mehrfach vergleichbare Kühnheiten140, so daß der Gebrauch im Bereich der Bildkunst nicht unwahrscheinlich ist. Jedenfalls trifft es den Charakter solcher Art von Kunstwerken genau.

Ein ebenso ins Grundsätzliche erweiterter Verhaltens- und Entscheidungsspiel­

raum wie in der Bildkunst ist im 5. Jahrhundert bekanntlich in den verschiedensten Bereichen gewonnen worden. In der attischen Tragödie wurde damals das mensch­

liche Handeln nicht mehr als eine mehr oder weniger gute Erfüllung eines feststehen­

den Kanons von Verhaltensweisen, sondern als bewußte und verantwortliche Ent­

scheidung eines Subjekts zwischen verschiedenen berechtigten Möglichkeiten begriffen141. Und in der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten wurde die Staatsordnung nun ebenfalls nicht mehr nach der Erreichung oder Verfehlung des einen feststehenden Nomos als güvopia, Sucrvopia oder ävopu'a bezeichnet, sondern es eröffneten sich nun prinzipielle Alternativen, Demokratie oder Aristokratie, bei denen bereits die Wortbildung anzeigt, wie sehr hier das Subjekt der Herrschaft, Demos oder Adel, die entscheidende Instanz ist142. Hier wird einmal mehr deutlich, wie allgemein die Ebene ist, auf der solche künstlerischen Formen mit politischen, gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Phänomenen Zusammenhängen143.

Aus diesen allgemeinen Bedingungen ist im 5. Jahrhundert offenbar die Erkenntnis entstanden, daß die künstlerische Form einem historischen Wandel unterworfen ist144.

Die archaische Vorstellung von Kunst und Künstlertum hatte dafür kaum Platz ge­

lassen145: Wenn damals Kunst im wesentlichen als eine anfängliche Stiftung der Gottheit, Athena oder Hephaist, und allenfalls einzelne Kunstfertigkeiten als ‘Erfin­

dungen’ berühmter Archegeten galten146, wenn entsprechend der Künstler als ein 140 ToXpoov ist Sokrates, der eine kühne These vorbringt (Wolken375), und Euripides, der Neuerungen in der Tragödie einführt(Frösche 951). Ein TdXpr)paveovistdas Unternehmen desTrygaios (Friede 94;

vgl. 182und362, ferner54f. für die Bedeutung des ‘Neuen’). Ebenso dieWeiberherrschaft(Ekkl. 106 und 288; vgl. 456f.: dies alles seinoch nie dagewesen). ÄhnlichLysistrate 284.

141 B. Snell, Aischylos und das Handeln im Drama, Philologus Suppl. 20, 1 (1928) 12ff. und passim.

Ders.,Philologus85, 1930, 141ff. Ders.,Dichtungund Gesellschaft (1965) 147ff. A. Dihle,Griechische Literaturgeschichte (1967) 133. Vgl. für die Bildkunst T. Hölscher, Griechische Historienbilder des 5. und4.Jhs. v. Chr. (1973) 206.

142Chr. Meier, Entstehungdes BegriffsDemokratie (1970) 7ff. Ders.,in Concordia Discors, Festschrift E. Bonjour(1968) 4 ff. Vgl.Hölscher a. O. 205f. Eskann hier nur angedeutetwerden, wie fruchtbar die von Meier aus diesen sprachlichen Beobachtungenentwickelten Begriffenomistischund ‘krati-stisch’ fürdas Verständnis der Bildkunst und ihrerallgemeinen geschichtlichenAussagen sind.

143 Vgl. o. S. 88f.

144Vgl. dazu auch B.Schweitzer, Xenokrates von Athen (1932) 22 ff. Philipp 49 ff.

145 Dazu vor allem Chr. Karusos, in Epitymbion Chr. Tsounta (1941) 535 ff.; deutsch bei G. Pfohl (Hrsg.), InschriftenderGriechen (1972) 85ff. (Zitate im folgenden nach dem griechischen Text, in Klammern nach der deutschen Ausgabe). Ferner: Schweitzer, Neue Heidelberger Jahrb.1925, 28ff.

Ders., in Corolla L. Curtius (1937) 34ff. Philipp passim. N. Himmelmann, Über bildende Kunst in der homerischen Gesellschaft, AbhMainz 1969Nr. 7. Ders., Gnomon42, 1970, 290ff.

146Allgemein zumToposdes Erfinders s. o. Anm. 133. Für diearchaischeZeits. auch L. Edelstein, The Ideaof Progress inClassical Antiquity(1967) 6. E. R. Dodds, The Ancient Concept of Progress (1973) 2f.

102 TONIO HÖLSCHER

Handwerker betrachtet wurde, der seine Fähigkeit der unmittelbaren Mitwirkung der Gottheit verdankte, dann mußte die Kunst als etwas in Vollkommenheit Vorgegebe­

nes und in relativ festen Regeln Tradierbares sich der Vorstellung eines historischen Wandels weitgehend verschließen; man konnte wohl im einzelnen dies oder jenes gegenüber früheren (aber wahrscheinlich bringt man schon damit falsche temporale Kriterien ins Spiel; also eher: gegenüber anderen) Künstlern besser machen, doch der Rahmen mußte relativ konstant bleiben. Erst bei Xenophanes zeigt sich ein radikaler Wandel: »Nicht von Anfang an haben die Götter den Menschen alles gezeigt, sondern im Lauf der Zeit haben diese durch Suchen das Bessere gefunden«147. Eigenständig­

keit des Menschen gegenüber den Göttern, keine vorgegebenen Geschenke, sondern Wandel in der Zeit, und zwar nicht von göttlicher Vollkommenheit ausgehend, son­

dern aus primitiven Anfängen durch menschliches Suchen zum Besseren führend:

Damit ist die Kultur geschichtlich verstanden, wie in den Kulturentstehungslehren des späteren 5. Jahrhunderts. Die Reihe menschlicher 'Erfindungen’ (süpppccTcc) wurde jetzt in historischer Dimension gesehen148. Daß auch die Bildkunst seit dem 5. Jahrhundert im wesentlichen als menschliche Leistung betrachtet wurde, geht nicht nur aus Äußerungen von Philosophen, sondern auch aus Inschriften an Bild­

werken selbst hervor149. Schon die spätarchaische Zeit hatte — bei prinzipieller Be­

wahrung der alten Auffassung — in diese Richtung gewirkt150. Welch hohes Selbst­

bewußtsein die Künstler aus dieser Situation entwickelten, zeigt die bekannte Vasen­

inschrift des Euthymides, er habe ein Gefäß bemalt <£>$ ovSettote Eü<ppovio$151; was sich hier noch an die traditionelle Handwerkerformel eypayev anschließt, ist dann im späteren 5. Jahrhundert zu unverhüllter Selbstverherrlichung geworden.

Die Vorstellung der Geschichtlichkeit künstlerischer Formen ist deutlich ausge­

sprochen bei Platon, der das Urteil zeitgenössischer Bildhauer erwähnt, jetzt dürfe niemand mehr Bildwerke schaffen wie die, von denen Daidalos seinen Ruhm habe, wenn er nicht verlacht werden wolle152. Vielleicht hat in der Kunstbetrachtung des 5. Jahrhunderts Daidalos als Markstein einer historischen Entwicklung eine gewisse Rolle gespielt, wenn das auch nicht mit Sicherheit erkennbar ist153. Bei den Künstlern selbst jedenfalls muß die Vorstellung, entscheidend weiter gekommen zu sein als Frühere, bereits im 5. Jahrhundert ausgebildet gewesen und im Rahmen des damals

147 Xenophanes Fr. 18 (Diels-Kranz). Dazu Edelstein a. O. 3ff. Philipp49. Doddsa. O.4f.

148 Thraede, RhM 105, 1962, 165ff.

149 Karusosa. O. 564ff. 567ff. (142ff. 147ff.). Philipp24f. 67ff. Es ist deutlich, wie diese Entwicklung mit den o. S. 84 ff. geschilderten Säkularisierungstendenzen in der Funktion vonpolitischen Denk­ mälern zusammenhängt. Dabei wird (wie auch bei der Aufstellungder politischen Denkmäler als Weihgeschenke) die Gottheit zwar nicht geleugnet, abersie erscheint mehr in die Ferne gerückt;

ihre Zuständigkeitfürdie Bildkunst manifestiert sich nicht mehrso unmittelbar bei jeder konkreten künstlerischenArbeit. Daß der Fortschrittsgedanke im 5. Jh. auch bei Anerkennung der göttlichen Urheberschaft inGeltung sein kann, zeigt Dodds a.O. 7f.

150 Karusos a. O. 550ff. 557ff. (115ff. 128ff.). Vgl. Philipp 25.

151ARV2 26, 1. R. Harder, in Festschrift B. Schweitzer (1954) 197.

152 Platon, Hippias Maior 282 a.B.Schweitzer, Xenokrates vonAthen (1932) 24. Philipp51.

153 Schweitzer, Xenokrates von Athen 20ff. Philipp 50 ff.

NIKE DER MESSENIEN UND NAUPAKTIER IN OLYMPIA 103 überall diskutierten Gegensatzes des ‘Neuen’ zum ‘Alten’154 begriffen worden sein.

Und zwar in verschiedener Hinsicht. Zum einen ist der grundlegende Wandel in der Kompositionsweise zwischen Archaik und 5. Jahrhundert, insbesondere die Ausbil­

dung der ponderierten Figur, nicht als unbewußte Evolution, sondern nur als be­

wußter Schritt verständlich; das Entstehen betont archaisierender Werke neben solchen im zeitgenössischen Stil ist ein zusätzliches Zeugnis für diese Bewußtheit155.

In diesem Bruch zwischen Archaik und 5. Jahrhundert hat man damals vielleicht am deutlichsten den Unterschied zwischen ‘alt’ und ‘neu’ erfahren können, wobei das

‘Neue’ ganz unmittelbar die Leistung der eigenen Generation war156. Zum anderen mußte aber auch die neue Kompositionsweise des 5. Jahrhunderts selbst mit ihrer prinzipiellen Variabilität zu der Vorstellung des Wandels und der Veränderbarkeit der Kunst führen157; nur unter dieser Voraussetzung ist die Behauptung des Parrha- sios zu verstehen, er habe die Kunst an die Grenzen ihrer Möglichkeiten geführt158.

In diesem Zusammenhang ist ein angeblicher Ausspruch des Aischylos von Bedeu­

tung159: Die alten Kunstwerke seien zwar einfach gearbeitet, würden aber für gött­

lich geachtet, die neuen dagegen seien zwar besonders kunstvoll ausgeführt, hätten aber weniger göttliches Ansehen. Damit ist zunächst ein wesentlicher Unterschied zwischen ‘alt’ und ‘neu’ bezeichnet; und zwar nicht im Sinn des eben vollzogenen Bruches mit der archaischen Kunst; denn gewiß konnte niemand den Unterschied zwischen Werken der Spätarchaik und solchen des Strengen Stils als Wandel von ‘Ein­

fachheit’ zu 'kunstvoller Ausarbeitung’ ansehen; sondern gemeint ist eine viel weiter gespannte Entwicklung von einfachen Anfängen zu der damaligen hohen Kunst­

fertigkeit. Solche Kriterien sind für heutige Ansprüche an eine Formanalyse gewiß wenig ergiebig, sie spiegeln aber wohl die Verständnisebene eines großen Teils der damaligen Öffentlichkeit wider. Vor allem sind sie sehr naheliegend für eine wertende Betrachtungsweise; denn hier werden — das ist bemerkenswert — Gewinn und Verlust der verschiedenen künstlerischen Möglichkeiten gegeneinander aufge­

wogen, indem das Urteil von der rein ästhetischen Ebene auf die der Religion ausge­

weitet wird: offenbar als Antwort auf eine allzu optimistische Beurteilung der Ent­

wicklung, wie sie später wieder bei Parrhasios durchschlägt. Die Authentizität

154 Dazu o.Anm.100.

155 Vgl.J. J. Pollitt, Art and Experience inClassicalGreece (1972) 60f., allerdings etwas unscharf.

156 Vgl. dasBewußtsein des 'Neuen’ bei Pindar: B. Snell, Dichtungund Gesellschaft (1965) 122ff.

157 Ganz ähnlichhat Chr. Meier, in R. KoseliekW.-D. Stempel (Hrsg.),Geschichte. Ereignis und Er­

zählung (1973) 251 ff., bes. 295 ff. als Bedingung für die Entstehungdergriechischen Historie, vor allem desherodoteischen Werkes, die im 5. Jh. neueFähigkeit rationalen Veränderns impolitischen Bereich angesprochen.

158 s. o. S.95 ff. Die übrigen bei Philipp 55ff. angeführten Zeugnisse scheinen mir für die Vorstel­

lung von der Geschichtlichkeit der Kunst nicht vielzu ergeben. Wichtig wäre Herodots Ansicht von der Herleitung dergriechischen Kunst aus Ägypten (Philipp 56), aber das geht aus Herodot 2, 4 nicht sicherhervor. Der Bezug der Bildkunst zur Zukunft (Philipp56ff.) liegtauf einer ganzanderen Ebene: Es gehtdabei nicht umdie Geschichtevon Kunstformen, sondern um die Wirkung bestehen­

derKunstwerke. ZuZeuxis und Parrhasios s. u.S. 107f.

159 Porphyrius, de abstin. 2, 18.

104 TONIO HÖLSCHER

dieses nur bei Porphyrios überlieferten Ausspruches mag zunächst zweifelhaft erschei­

nen. Doch bei genauerem Zusehen läßt er sich kaum als Erfindung einer gelehrten Spätzeit verstehen160. Denn gerade Bildwerke des 5. Jahrhunderts galten schon bald als höchste Verkörperungen des Göttlichen; von den Götterbildern des Phidias sagte man später, sie hätten der bisherigen Göttervorstellung neue Züge hinzuge­

fügt161. Bildwerke aus der Zeit des Aischylos mußten aus dieser Sicht wenn schon nicht als gleichrangig, so doch mindestens als Vorstufe zu solcher Höhe der Götter­

vorstellung angesehen werden, nicht jedoch als Abstieg gegenüber früheren Götter­

bildern. Eine derart zwiespältige Stellung zu der neuen Kunst des 5. Jahrhunderts ist von keiner späteren Zeit zu erwarten; sie ist am ehesten bei einem Zeitgenossen vorauszusetzen und paßt sehr gut gerade zu Aischylos, der auch sonst ein waches Auge für die Bildkunst hatte162. Möglichkeiten, wie ein solches Urteil von ihm überliefert sein könnte, gibt es durchaus — man kann etwa an Ion von Chios denken, durch den derartige Aussprüche des Aischylos wie auch anderer berühmter Männer dieser Zeit bekannt sind163. Daß die Erkenntnis der Geschichtlichkeit der Kunst in diese Zeit gehört, ist ohnehin deutlich.

Offensichtlich aber handelt es sich bei dieser Erkenntnis nicht nur um ein Problem der reflektierenden Kunstbetrachtung, sondern sie ist mit einer bestimmten Stufe des künstlerischen Schaffens selbst verbunden, ist erst möglich geworden mit der Auf­

lösung der archaischen Form. Die oben an der Nike des Paionios beobachtete Mög­

lichkeit, politische Denkmäler in ein Netz geschichtlicher Beziehungen zu bringen164, erweist sich hier als ein allgemeiner Aspekt der Kunst dieser Zeit.

Daraus ergibt sich eine Konsequenz für den archäologischen Entwicklungs­

begriff165. Dieser Begriff wird vielfach sehr gleichförmig verwendet, bildet ein allzu einheitliches, oft sogar das einzige Kriterium zur Erfassung von Kunstgeschichte.

begriff165. Dieser Begriff wird vielfach sehr gleichförmig verwendet, bildet ein allzu einheitliches, oft sogar das einzige Kriterium zur Erfassung von Kunstgeschichte.