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Aktivisten, Opportunisten und Funktionäre

Profilbestimmung des frühsowjetischen politischen Akteurs Die vorangegangene Schilderung der internationalistischen „Zeitfenster“ konzentrierte sich vorrangig auf institutionelles politisches Handeln „von oben“ . Das Hauptaugen-merk der vorliegenden Studie ist jedoch auf politisches Handeln an der Basis und vor Ort gerichtet . Der Fokus auf Handeln setzt die Identifizierung von Akteuren voraus . Doch wie lassen sie sich präzise eingrenzen und umreißen? Akteurszentrierte Studien, die sich mit Strömungen und Parteien innerhalb der sozialistischen Bewegung aus-einandersetzen, haben für gewöhnlich kein Problem, ihren Akteur zu benennen, wie etwa die „Aktivmitglieder“ der frühen Sozialdemokratie1 oder die „tuer“ des Jüdischen Arbeiterbunds .2 Eine ähnlich klare Beantwortung der Frage, um wessen Handeln es eigentlich geht, stößt hier jedoch zunächst auf Hindernisse .

Zum einen soll der Blick nicht auf bolschewikisches Handeln als solches gerich-tet werden, sondern lediglich auf einen bestimmten Aspekt, nämlich nur auf solches Handeln, das internationalistisch motiviert war . Folglich kann man nicht einfach von dem Bolschewiken als Subjekt und Akteur ausgehen . Zugleich war jedoch revo-lutionärer Internationalismus in der frühen Sowjetunion zumeist in politisches Han-deln im Sinne des bolschewikischen Regimes eingebettet . Also muss erst einmal der bolschewikische politische Akteur überhaupt identifiziert werden, um davon ausge-hend bestimmen zu können, wer sich warum internationalistisch engagierte . Daher wird auf den folgenden Seiten die Frage nach internationalistischem Handeln weit-gehend zurückgestellt . Stattdessen soll zunächst geklärt werden, wer der bolschewi-kische (und damit potenziell internationalistische) Akteur im revolutionären Russland und der frühen Sowjetunion gewesen ist .

Zum anderen handelt es sich bei den Bolschewiki um einen besonderen Fall in der Geschichte der sozialistischen Bewegung . In dem Zeitabschnitt, um den es hier geht, waren sie im Transformationsprozess „of a political party into a state apparatus“

begriffen .3 Die politische Bewegung, die sich nach der Februarrevolution um den

1 Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit, 52, 145 ff . 2 Wolff, Neue Welten.

3 Moshe Lewin, Lenin’s Last Struggle (Ann Arbor: University of Michigan Press, 2005), 126 .

Kern der Kaderpartei herum aufbaute, installierte sich nach ihrem Machtantritt als Träger von Staatlichkeit . Dieser Umstand erweitert die Palette der Motivationen politischen Handelns bolschewikischer Akteure: opportunistische, machtpolitische und karrieristische Motive erhielten ein ungleich stärkeres Gewicht als es bei Akteu-ren außerhalb der Staatsmacht stehender, oppositioneller Bewegungen der Fall ist .

Um in dieser komplexen Ausgangslage den revolutionären Akteur auszumachen und die Motivationen seines Handelns fassen zu können, muss zunächst der sich wandelnde Charakter der Partei der Bolschewiki und ihrer Mitgliedschaft angespro-chen werden . Davon ausgehend wird anschließend eine dreigliedrige Idealtypologie bolschewikischen Engagements – Aktivisten, Opportunisten, Funktionäre – einge-führt und erläutert, die entlang der Motivationen und Bedingungen politischen Handelns strukturiert ist . Dabei wird das Augenmerk auf Akteure unterhalb der nationalen Führungsebene gerichtet, die politisch auf Seiten des bolschewikischen Regimes standen und zu unterschiedlichem Grad in seine Strukturen eingebunden waren .

Durch diese Einschränkung verbleiben zwei Akteursgruppen zunächst außerhalb der Betrachtung . Zum einen ist es die bolschewikische Führungsriege . Mit der Ent-scheidung zugunsten der „rank and file“ und zuungunsten der Parteiführung sollen weder die Erfahrungen von „unten“ gegenüber denen von „oben“ aufgewertet,4 noch der Gegensatz zwischen Basis und Führung ausgespielt werden .5 Diese Entscheidung ist vielmehr ein Schritt weg von einer Ideen- und in Richtung einer Gesellschaftsge-schichte, die zudem die Peripherie gegenüber dem Zentrum tendenziell stärker in den Fokus rückt . Es ist bereits durch zahlreiche ideengeschichtliche Studien dargelegt worden, dass Denken und Handeln der bolschewikischen Eliten bekanntlich tief von Internationalismus geprägt waren .6 Dagegen ist über diejenigen wenig bekannt, die die „von oben“ vorgegebenen politischen Linien unmittelbar durchsetzten und auch abseits der Hauptstädte wirkten . Für die Zeit vor 1917 spricht Robert McKean von der „revolutionary sub-élite“, die vor Ort bolschewikische Parteipolitik gemacht habe, ohne bloß Erfüllungsgehilfe der exilierten intellektuellen Parteielite gewesen zu sein .7 Eine Geschichte vergleichbarer kommunistischer Akteure unterhalb der

Führungs-4 Siehe für die Kritik entsprechender Tendenzen in der Alltags- und Mikrogeschichte:

Welskopp, „Die Sozialgeschichte der Väter“, 183 .

5 Siehe die entsprechenden Debatten in der britischen Arbeiterbewegungsforschung um

„militante“ Partei- und Gewerkschaftsbasis und „opportunistische“ Führung: Jonathan Zeitlin, „‘Rank and Filism’ in British Labour History: A Critique“, International Review of Social History 34, Nr .  1 (1989): 42–61, sowie die Beiträge von Richard Price und James E . Cronin im gleichen Heft .

6 Siehe Kap . 2 .1 .

7 McKean, St Petersburg Between the Revolutions, XIV .

ebene für die frühe Sowjetunion steht, im Gegensatz zu detaillierten Studien über die Führung, noch weitgehend aus .

Zum anderen verbleiben hier zunächst diejenigen außerhalb der Betrachtung, die jenseits der Partei- und Sympathisantenkreise als „Massen“ in internationalistische Praktiken involviert oder als Betrachter und Konsumenten internationalistischen Inhalten ausgesetzt waren .8 Ihre Rolle und Perspektive wird im Laufe der folgenden Kapitel immer wieder zur Sprache kommen .9 Vorrangig soll es jedoch um diejenigen Akteure gehen, die im Sinne des Regimes aktiv politisch handelten und damit als Scharniere und Multiplikatoren zwischen der Parteielite und den „Massen“ fungierten . Der kommunistische Akteur: In, mit oder außerhalb der Partei?

Um das Subjekt bolschewikischen Handelns auszumachen, muss der Blick zunächst auf die Partei gerichtet werden – eine Institution, in der man dieses Subjekt auf den ersten Blick verorten würde . Dabei muss dieses Subjekt-Partei-Verhältnis präzisiert, temporalisiert und gegebenenfalls revidiert werden . Denn zum einen wandelte sich sowohl der Charakter als auch (qualitativ wie quantitativ) die Mitgliedschaft der Partei im Untersuchungszeitraums massiv . Auch muss die Sinnfälligkeit des Kriteri-ums der Parteimitgliedschaft auf der Suche nach dem kommunistischen Akteur hinterfragt werden – denn zum einen war Mitgliedschaft keineswegs deckungsgleich mit aktivem Engagement (welches wiederum ganz unterschiedlich motiviert sein konnte), und zum anderen fand regime- und revolutionsbejahendes politisches Han-deln nicht ausschließlich in den Reihen der Partei statt .

Die Russländische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Rossijskaja social-demokratičeskaja rabočaja partija, RSDRP), deren intellektuelle Führer sich aufgrund der Repressionen des zarischen Regimes zumeist im westeuropäischen Exil aufhielten, spaltete sich auf dem Parteitag von 1903 in der Frage über den Parteicharakter in

„Menschewiki“ („Minderheitler“) und „Bolschewiki“ („Mehrheitler“) .10 Letztere favorisierten eine Partei von Berufsrevolutionären gegenüber einer nach außen hin 8 Vgl . die Feststellung von Hans-Henning Schröder, wonach nur eine kleine Minderheit der

Arbeiter in aktive politische Arbeit involviert gewesen sei; wenn auch fast alle Arbeiter über Teilnahme an Demonstrationen, Versammlungen u .ä . an politische Praktiken ange-bunden gewesen seien, so sei diese Teilnahme oberflächlich und oft erzwungen gewesen:

Schröder, Arbeiterschaft, Wirtschaftsführung und Parteibürokratie, 263 . Zur politischen Expropriation der sowjetischen Arbeiter bis Anfang der 1920er-Jahre siehe Pirani, The Russian Revolution in Retreat.

9 Siehe v .a . Kap . 5 .2 .

10 Darüber hinaus existierten innerhalb der russländischen Sozialdemokratie diverse ethni-sche Flügel, am bedeutendsten der Allgemeine Jüdiethni-sche Arbeiter-Bund (kurz: „Bund“), der über weite Strecken Teil der RSDRP gewesen ist . Siehe klassisch: Henry J . Tobias,

offenen Massenpartei . In Russland selbst war die RSDRP im Untergrund tätig, die Organisationen vor Ort vollzogen die von der Exilführung proklamierte Spaltung oftmals nicht mit .11 Die Sozialdemokraten – Menschewiki wie Bolschewiki – waren im Zarenreich weit davon entfernt, eine Massenpartei zu sein, doch waren sie keines-falls eine reine Intellektuellenbewegung .12 Schon 1969 lenkte David Lane in seiner Sozialgeschichte der Vorkriegs-Sozialdemokratie die Aufmerksamkeit auf die Partei-basis, die sich von einigen Tausend Mitgliedern am Anfang des Jahrhunderts hin zu jeweils ca . 40 .000 Bolschewiki und Menschewiki im Jahr 1907 entwickelte . Davon waren, so Lanes Schätzung, ca . 12 .000 aktive Revolutionäre, die sich an politischer Untergrundarbeit beteiligten . Sozial waren beide RSDRP-Fraktionen breit aufgestellt, und wenn auch die Führungsebene verstärkt aus Vertretern höherer Gesellschafts-schichten bestand, war die Parteibasis sozial durchmischt und hatte auch einen sig-nifikanten Arbeiter- und Bauernanteil .13

Die Revolution von 1905 und der mit ihr verbundene Aktivitätsschub revoluti-onärer Organisationen brachten für die Sozialdemokratie einen Mitgliederzuwachs mit sich . Das Scheitern der Revolution und die in Folge einsetzenden verstärkten Repressionen ab 1907 ließen die Parteireihen jedoch lichter werden; Anfang 1917 verfügten die Bolschewiki über 23 .600 Mitglieder .14 Dies änderte sich jedoch schlag-artig, als die Februarrevolution mit einem Schlag die Entstehung einer vielfältigen legalen Parteienlandschaft ermöglichte . Alle aus der Halb- und Illegalität tretenden The Jewish Bund in Russia from Its Origins to 1905 (Stanford: Stanford University Press, 1972); sowie zuletzt: Wolff, Neue Welten.

11 So erfuhr etwa der Bundist Hersch Mendel von der Spaltung erst 1913 (!) im Pariser Exil: Frank Wolff, „Heimat und Freiheit bei den Bundisten Vladimir Medem und Hersch Mendel“, in Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich, hg . von Julia Herzberg und Christoph Schmidt (Köln: Böhlau, 2007), 301 . In Baku und Minsk etwa kooperierten Bolschewiki und Menschewiki auf regionaler Ebene sogar bis tief in das Jahr 1917 hinein: Ronald Grigor Suny, The Baku Commune 1917–1918. Class and Nationality in the Russian Revolution (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1972);

Solskij, 1917 god.

12 Als vorrangig solche stellt sie sich in der klassischen Darstellung von John Keep dar:

John  L .  H . Keep, The Rise of Social Democracy in Russia (Oxford: Oxford University Press, 1963) .

13 David Lane, The Roots of Russian Communism. A Social and Historical Study of Russian Social-Democracy 1898–1907 (Assen: van Gorcum, 1969), 11–15, 50–51 . Lanes Mit-gliedschaftsstatistiken berücksichtigen nicht den Bund, der sich bereits vor 1905 zu einer Massenbewegung mit über 30 .000 Mitgliedern (1903) entwickelt hatte . Siehe Tobias, The Jewish Bund, 140, 239; Wolff, Neue Welten, 19 .

14 T . H . Rigby, Communist Party Membership in the U.S.S.R., 1917–1967 (Princeton, NJ:

Princeton University Press, 1968), 59 . Diese Angabe beruht allerdings auf wenig zuverläs-sigen frühsowjetischen Schätzungen .

Parteien zogen massenhaft neue Mitglieder an, und auch die eigentlich um Kader-auslese bemühten Bolschewiki waren darin keine Ausnahme . Zunächst weitgehend von den Sozialrevolutionären und in den Städten auch von den Menschewiki in den Schatten gestellt, gewannen die Bolschewiki mit zunehmender Desintegration des politischen Systems der Provisorischen Regierung im Nachgang des „Juli-Aufstandes“

mehr und mehr Zuspruch, was sich sowohl aus zeitgenössisch erhobenen Stimmungs-bildern als auch aus Wahlergebnissen ablesen lässt .15 Aus diesem steigenden Zuspruch resultierte auch Mitgliederzuwachs: Um die Oktoberrevolution herum verfügte die Partei verschiedenen Angaben zufolge über 100 .000 bis 400 .000 Mitglieder .16

Im Gefolge der Oktoberrevolution änderte sich der Charakter der Partei und ihrer Mitgliedschaft grundlegend . Vor der Revolution verkörperten die Bolschewiki das Streben nach radikalem Gesellschaftswandel . Zwischen Februar und Oktober wurden sie zur „populistische[n] Sammelbewegung der Unzufriedenen“,17 der vor allem ihr konsequenter Ruf nach Frieden Zulauf bescherte .18 Nun waren die Bol-schewiki an der Macht, und auch wenn zunächst der Platz der Partei innerhalb des revolutionären Staatsgefüges unklar war,19 standen Parteimitglieder an den wich-tigsten Schalthebeln des neuen Sowjetstaates . Allerdings war die Partei zahlenmäßig nicht stark genug, um tatsächlich flächendeckend Machtpositionen zu besetzen, was zur Folge hatte, dass sie ihre Aufnahmekriterien noch stärker lockern musste,20 wodurch sich ihre Mitgliederzahl in den ersten zwei Revolutionsjahren verdoppel-te .21

Gerade in den Revolutions- und Bürgerkriegsjahren konnten sowohl Parteimit-gliedschaft wie auch aktives Engagement innerhalb der Partei auf unterschiedlichsten Motiven beruhen . Zunächst musste das Zentralkomitee die Kontrolle über das Land etablieren und die teilweise wildwuchsartig entstandenen Parteiorganisationen in den Provinzen unter ihre Führung bringen . Wer und warum sich vor Ort als Kom-munist bezeichnete, stellte sich dabei als sehr diffus heraus – in einem internen Bericht von Ende 1918 heißt es, es hätten sich „für Kommunisten […] auch solche gehalten, die in einer Landkommune gelebt hatten, und auch solche, die sich einfach so

bezeich-15 Allgemein: Rabinowitch, Die Sowjetmacht, 121 ff . Im Detail für Moskau: Diane Koen-ker, Moscow Workers and the 1917 Revolution (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1981), 187–227 .

16 Rigby, Communist Party Membership, 60–61 .

17 Helmut Altrichter, Staat und Revolution in Sowjetrußland 1917–1922/23, 2 .  Aufl . (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1996), 203 .

18 Wade, The Russian Revolution, 206 ff . 19 Altrichter, Staat und Revolution, 14, 190 .

20 Schröder, Arbeiterschaft, Wirtschaftsführung und Parteibürokratie, 57 ff . 21 Rigby, Communist Party Membership, 69 .

nen wollten“ .22 Manche traten der Partei gar „versehentlich“ bei,23 andere wurden unter Zwang in die Partei hineingetrieben – was vom ZK zwar scharf gerügt wurde, jedoch keine Ausnahme zu sein scheint .24

Solche Rekrutierungsmodi führten dazu, dass die Mitgliedschaft der kommunis-tischen Partei schon in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution einer starken Fluktuation unterworfen war: Zwischen 1917 und 1922 traten an die 1,5 Millionen Menschen in die Partei ein, dauerhaft verblieben jedoch nur 400 .000 in ihr .25 Zugleich stand Parteimitgliedschaft mit dem Beginn der Transformation der Partei von Bewe-gung zur Staatsmacht umso weniger für „revolutionäres“ Engagement . Karrierismus entwickelte sich zum zunehmend dominierenden Motiv, sich in der Partei zu enga-gieren . Diese war nun an der Macht, und aktives Mitglied zu sein, bedeutete, an dieser Macht teilhaben zu können .

Zweifellos gab es auch weiterhin nichtkarrieristisch motiviertes Parteiengagement . Simon Pirani spricht etwa von der spezifischen Kohorte der „Bürgerkriegskommu-nisten“, die den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft als ein militärisch organisier-bares Projekt betrachteten und von einer Machbarkeitsgläubigkeit beseelt waren .26 Mit dem Ende des Bürgerkriegs setzte sich jedoch Karrierestreben als vorrangiger Zweck der Parteimitgliedschaft durch – auch, weil diese nach Kriegsende nun weni-ger Strapazen und mehr Privilegien mit sich brachte . Schließlich war die Mitgliedschaft in der KP im Bürgerkrieg noch mit gewissen Gefahren verbunden gewesen – viele Gebiete gingen von „roter“ in „weiße“ Hand über, mit gnadenloser blutiger Repres-22 Aus dem Bericht der Politabteilung der 4 . Armee, 24 .12 .1918 . Zit . nach: Anikeev,

Pere-piska Sekretariata, 1969, 5:282–283 .

23 Siehe bspw . den Fall eines Bauern, der der Partei in der Annahme, sie sei eine Art Arbeits-kommune, beigetreten war . Als Analphabet habe er mit der Parteiarbeit nichts anzufan-gen gewusst und habe daher wieder austreten wollen, die lokale Organisation habe ihn jedoch nicht gelassen und ihn stattdessen als Parteimitglied in die Rote Armee mobili-siert . RGASPI, 17/65/62, 124–125: ZK der RKP(b) an das Novouzenskij-Kreiskomitee der RKP(b), 7 .5 .1919 . Publ . in: Anikeev, Perepiska Sekretariata, 1972, 7:90–91 .

24 RGASPI, 17/65/39, 186: Brief des Sekretariats des ZK der RKP(b) an das Kosmodem‘janskij Kreiskomitee der RKP(b), 12 .2 .1919 . Publ . in: Anikeev, Perepiska Sekretariata, 1971, 6:68–69 . Siehe auch einen entsprechenden Bericht aus Perm’ von Ende 1919: A .  B . Suslov, Hrsg ., Obščestvo i vlast’. Rossijskaja provincija 1917–1985.

Permskij kraj, Bd . 1 (Perm’: Bank kul’turnoj informacii, 2008), 257 .

25 Jonathan R . Adelman, „The Development of the Soviet Party Apparat in the Civil War:

Center, Localities, and Nationality Areas“, Russian History 9, Nr . 1 (1982): 93 .

26 Pirani, The Russian Revolution in Retreat, 45 ff . Entgegen früherer Annahmen lässt sich dieser Machbarkeitspathos jedoch keineswegs in der Politik der Parteiführung identifizie-ren . Siehe zuletzt: Lars T . Lih, „‚Our Position is in the Highest Degree Tragic‘ . Bolshevik

‚Euphoria‘ in 1920“, in History and Revolution. Refuting Revisionism, hg . von Mike Hay-nes und Jim Wolfreys (London-New York: Verso, 2007), 118–37 .

sion gegen Kommunisten als Folge; auch konnten Parteimitglieder an die Front abkommandiert werden . In der Epoche der NÖP hingegen fielen diese Risiken weg, stattdessen brachte das Parteibuch fast schon automatisch bedeutende Privilegien mit sich .27 Bald nach Bürgerkriegsende bestand die Partei in ihrer Mehrheit aus

„workers-turned-administrators, together with soldiers-turned-administrators and administrators-turned-Bolsheviks”,28 also aus Bürokraten, wenn auch mit unter-schiedlichen sozialen Hintergründen .

Damit drohte der Partei sowohl ihre für die Selbstlegitimation notwendige Klas-senbasis als auch ihr heroischer, mit dem Bürgerkrieg verbundener Pathos abhanden zu kommen . Die Hoffnung der Parteiführung, Ersteres nach Lenins Tod durch eine massenhafte Rekrutierungskampagne innerhalb der Arbeiterschaft wiederherzustel-len (das sogenannte „Lenin-Aufgebot“), erwies sich als trügerisch, denn die neuen Parteirekruten wiesen ein niedriges Bildungsniveau auf und waren an politischen Fragen wenig interessiert .29 Was Letzteres angeht, so waren gerade die „Bürgerkriegs-kommunisten“ diejenigen, die sich unter den Bedingungen der NÖP isoliert fühlten .30 Die Entwicklung der Partei im Verlauf der NÖP analysierte Vladimir Brovkin treffend als Wandel „[f ]rom a party of tough commissars […] into a network of bureaucracies recruited from the least-educated and least prepared elements of society“ .31

Im Verlauf ihrer Entwicklung war also die frühsowjetische Kommunistische Partei nicht nur von starkem quantitativen und qualitativen Wandel ihrer Mitglied-schaft geprägt, sondern sie beherbergte auch vollkommen unterschiedliche Motiva-tionen politischen Handelns . Es macht daher wenig Sinn, den Blick auf das formale Kriterium der Parteimitgliedschaft zu verengen .

Sarah Badcock hat darauf hingewiesen, dass Parteiidentitäten in Russland zwischen Februar- und Oktoberrevolution außerhalb der Hauptstädte sehr schwach ausgeprägt waren .32 Doch auch in Petrograd standen selbst die Hauptakteure der

Oktoberre-27 Igal Halfin, Red Autobiographies. Initiating the Bolshevik Self (Seattle: Herbert J . Ellison Center for Russian, East European, and Central Asian Studies, University of Washington, 2011), 20; Pirani, The Russian Revolution in Retreat, 226 .

28 Pirani, The Russian Revolution in Retreat, 115 .

29 V . S . Tjažel’nikova, „Leninskij prizyv 1924–1925  gg . Novye ljudi, novye modeli političeskogo povedenija“, Social’naja istorija  8 (2008): 113–36; Brovkin, Russia after Lenin, 193 ff .; Schröder, Arbeiterschaft, Wirtschaftsführung und Parteibürokratie, 275 ff . 30 Pirani, The Russian Revolution in Retreat, 53; Anton V . Posadskij, „Fenomen krasnych

partizan, 1920-e–1930-e gody“, Voprosy istorii, Nr . 1 (2010): 78–91; Ol’ga N . Morozova, Dva akta dramy. Boevoe prošloe i poslevoennaja povsednevnost’ veteranov Graždanskoj vojny (Rostov-na-Donu: JuNC RAN, 2010) .

31 Brovkin, Russia after Lenin, 199 .

32 Sarah Badcock, Politics and the People in Revolutionary Russia. A Provincial History (Cambridge: Cambridge University Press, 2007), 56 ff . Vgl . die zeitgenössische

Beobach-volution, die aus bewaffneten Arbeitern gebildeten, an Stadtteile und Fabriken gebun-denen Roten Garden, zwar unter dem Einfluss, jedoch nie unter kompletter Führung der Bolschewiki .33 Davon, dass in der frühsowjetischen Gesellschaft Bedarf für Möglichkeiten kommunistischen Engagements neben und außerhalb der Partei herrschte, zeugt etwa der zunächst offiziell bestehende „Sympathisanten“-Status . Dieser gab Personen, die etwa mit bestimmten Punkten im Parteiprogramm nicht übereinstimmten (etwa mit dem militanten Atheismus), die Möglichkeit, sich trotz-dem im Sinne der Partei zu engagieren .34 Im Dezember 1919 schaffte das ZK den Sympathisantenstatus ab und ersetzte ihn mit dem Kandidatenstatus, der nur als unmittelbare Probezeit vor der Aufnahme in die Partei gedacht war .35 Das bedeutete jedoch nicht das Ende für außerparteiliches Engagement im Sinne des Regimes . Auch noch in den 1920er-Jahren gab es Parteilose, die kommunistisch agierten, ohne Mitglied zu werden .36 Für einige war dies eine bewusste Entscheidung und eine politische Geste .37 Andere bemühten sich um Aufnahme, hatten jedoch aufgrund

„falscher“ Herkunft oder interner Intrigen keinen Erfolg und engagierten sich dennoch im Sinne der Partei, jedoch außerhalb ihrer Reihen .38 Die Suche nach dem bolsche-wikischen Akteur auf die Rahmen der Parteimitgliedschaft zu verengen, hieße, all

tung: Viktor B . Šklovskij, Viktor Šklovskijs Sentimentale Reise (Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1964), 38 .

33 Zu den Roten Garden siehe: Rex A . Wade, „The Red Guards . Spontaneity and the Octo-ber Revolution“, in Revolution in Russia. Reassessments of 1917, hg . von Edith Rogovin Frankel, Jonathan Frankel und Baruch Knei-Paz (Cambridge: Cambridge University Press, 1992), v .a . 69–70 .

34 Siehe bspw . den Fall eines Bauern, der Ende 1918 zunächst Sympathisant, dann Voll-mitglied der Partei wurde, wenig später jedoch wegen seiner Religiosität ausgeschlossen wurde . Die bald darauf in die Ortschaft einrückenden „Weißen“ verhafteten ihn trotz-dem als vermeintlichen Kommunisten: T . F . Volkova, V . V . Filippova und V . A . Semenov, Hrsg ., „Dnevnye zapiski“ ust’-kulomskogo krest’janina I.S. Rassychaeva. 1902–1953 gody (Moskva: Institut antropologii i ėtnologii RAN, 1997), 38 .

35 Zu den Sympathisantengruppen und ihre Ablösung durch den Kandidatenstatus siehe:

Rigby, Communist Party Membership, 71–72 . Für das entsprechende Statut: Georg Brun-ner, Das Parteistatut der KPdSU 1903–1961, Dokumente zum Studium des Kommunis-mus 2 (Köln: Verlag Wissenschaft und Politik, 1965), 116–22 .

36 Jakov M . Šafir, Gazeta i derevnja, 2 . Aufl . (Moskva: Krasnaja nov’, 1924), 47 .

37 Simon Pirani, „The Moscow Workers’ Movement in 1921 and the Role of Non-Partyism“, Europe-Asia Studies 56, Nr . 1 (2004): 143–60; Pirani, The Russian Revolution in Retreat, 90 ff .; Carmen Scheide, Kinder, Küche, Kommunismus. Das Wechselverhältnis zwischen sowjetischem Frauenalltag und Frauenpolitik von 1921 bis 1930 am Beispiel Moskauer Arbeiterinnen, Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas 3 (Zürich: Pano-Verlag, 2002), 312 .

38 Ein prominentes Beispiel ist der Schriftsteller Varlam Šalamov, dem aufgrund seines Pries-tervaters der Zugang zur Partei verwehrt war, der sich jedoch trotzdem als Kommunist