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Wenn eine Bewegungsorganisation für intermediäre Aktionsformen optiert, dann versucht sie ihre Interessen über den Einfluss auf institutionalisierte Vermittlungsträger wie Parteien, Verbände oder Gewerkschaften an das politische System heranzutragen (Raschke 1985: 279).

Raschke zufolge ist die Bildung von Bündnissen mit Parteien eine der wichtigsten intermediären Aktionsformen für Bewegungsorganisationen. Für die Untersuchung des Verhältnisses zwischen sozialen Bewegungen und Parteien soll im empirischen Teil auf die Typologie von Rucht zurückgegriffen werden: Rucht stellt die Beziehung zwischen Bewegungen und Parteien nach vier unterschiedlichen Modellen dar. Als erstes kann - wie im Stufenmodell dargestellt - eine Bewegung als historische Vorstufe einer Partei angesehen werden. In Anlehnung an die Klassiker der Parteisoziologie (s.o.) wird eine soziale Bewegung mit zunehmender Institutionalisierung also zu einer Partei. Das Schöpfquelle-Modell betrachtet die soziale Bewegung hingegen als funktionales Komplement einer Partei, die ihr als Rekrutierungsbasis dient und über die auf ein wichtiges Mobilisierungs- und Wählerpotential zurückgegriffen werden kann. In diesem Fall schöpft die Partei sowohl Ideen als auch Ideologien aus der Bewegung. Gemäß dem Sprachrohr-Modell fungiert die Partei als Vertreter der sozialen Bewegung im politischen System, so dass wie im vorigen Modell eine Komplementarität vorliegt. Im Unterschied zum Schöpfquelle-Modell ist die Partei hier allerdings nur ein Instrument, welches durch die soziale Bewegung für ein bestimmtes Handlungsfeld - wie etwa in der parlamentarischen Arena - genutzt wird. Im Avantgarde-Modell wird die Partei der sozialen Bewegung als kontrollierende Instanz übergeordnet, so dass die Partei eine richtungweisende Rolle übernimmt (Vgl. Kriesi 1986: 346).

Da sich Raschkes Modell an parlamentarischen Regierungssystemen westeuropäischer Prägung orientiert (Raschke 1985: 277 ff.) ist die institutionelle Aktionsstrategie stark auf die Interaktion der Bewegungsorganisationen mit Vermittlungsträgern ausgerichtet, über die der Entscheidungsfindungsprozess in der Legislative (Parlament) beeinflusst werden soll. Somit berücksichtigen die intermediären Aktionsformen nicht die direkte Interaktion einer Bewegungsorganisation mit der Exekutive (Regierung und Verwaltung), die in einem

präsidentiellen Regierungssystem wie Brasilien besonders wichtig ist. Schließlich hat in Brasilien neben der Legislative auch der Präsident wichtige gesetzgebende Kompetenzen (Cintra 2004: 67). So äußert sich nach Mainwaring die gesetzgebende Macht des brasilianischen Präsidenten nach der Verfassung des Jahres 1988 vor allem in Form der (a) reactive legislative powers, wonach der Präsident ein Veto-Recht gegenüber dem Kongress hat, welches nur mit einer absoluten Mehrheit übergangen werden kann, (b) der proactive legislative powers, so dass der Präsident nach Verfassungsartikel 62 eine Dekret-Macht innehat, die er anhand von provisorischen Maßnahmen umsetzten kann und (c) der Macht auch mittels provisorischer Maßnahmen (Artikel 62) die Agenda im Kongress mitzugestalten, bzw. mittels Artikel 64 die Verabschiedung von Gesetzesinitiativen zu beschleunigen (Mainwaring 1997: 60 ff.). Die dadurch resultierende Aufteilung der gesetzgebenden Macht zwischen der Legislative und der Exekutive führt schließlich dazu, dass einer Bewegungsorganisation im politischen System Brasilien grundsätzlich zwei Kanäle zur Verfügung stehen, über welche sie den Prozess der politischen Entscheidungsfindung zu beeinflussen versuchen kann: Entweder sie interagiert mit Vermittlungsträgern, die sich in der Legislative für ihre Interessen einsetzten, oder sie richtet sich – ohne die Zwischenschaltung intermediärer Organisationen – direkt an die Exekutive.

In Anbetracht der dargestellten Problematik sollen für diese Arbeit unter intermediären Aktionsformen - in Erweiterung von Raschkes Modell - sowohl die auf Vermittlung angewiesenen, als auch die unmittelbaren Aktionsformen der Bewegungsorganisationen gegenüber der Exekutive verstanden werden. Letztere konzentrieren sich - ähnlich wie bei Interessenverbänden - hauptsächlich auf (a) den Dialog mit dem Ziel der Überzeugung (lobbying), (b) Verhandlungen zur Erreichung von Kompromissen (bargaining) und (c) Druckausübung über das Versprechen von Vorteilen oder der Androhung von Nachteilen, die sich meist auf Geld oder Wahlunterstützung beziehen (pressure) (Rucht 1990: 163 ; Schütt-Wetschky 1997: 11 ff.).

Den Gegenpol zu den intermediären bilden die direkt-koerziven Aktionsformen. Diese Aktionen wenden sich im Regelfall direkt gegen bestimmte Kontrollinstanzen - zum Beispiel den Staat, das politische System oder ein Unternehmen - und fügen diesem einen Nachteil zu.

Dieser Nachteil kann für den Gegner Kosten bedeuten, die etwa durch den Entzug an Arbeitskraft bei einem Streik, durch die gezielte Störung der öffentlichen Ordnung, bzw. der administrativen Routine bei einer Besetzung, oder durch die moralische Verantwortung für den Tod von Menschen bei einem Hungerstreik entstehen können. Direkt–koerzive Aktionen wollen politische Ziele durch Zwang statt Überzeugung erreichen (Raschke 1985: 279 ff.).

Raschke zufolge können direkt-koerzive Aktionsformen sowohl mit, als auch ohne Gewalt - verstanden als die Zufügung von physischem Schaden - ablaufen. Zu den gewaltfreien Aktionen gehören etwa der politische Streik17, die legale Nichtzusammenarbeit und die illegal-gewaltlosen Aktionen, wie etwa der zivile Ungehorsam, der Hungerstreik oder der Boykott. Zu den gewaltsamen Aktionsformen zählen etwa Akte der Sabotage, bewaffnete Aufstände oder Terror (ebd.: 296 ff.).

Schließlich kann eine Bewegungsorganisation auch für demonstrative Aktionsformen optieren. Diese können im Rahmen der institutionellen, der anti-institutionellen oder auch der mehr-dimensionalen Aktionsstrategie auftreten. Typische demonstrative Aktionsformen sind Demonstrationen, Märsche und Kundgebungen im öffentlichen Raum, die von Bewegungsorganisationen geleitet und in Abstimmung mit den zuständigen Behörden durchgeführt werden (ebd.: 301 ff). Diese Aktionsformen haben eine appellative Funktion, was bedeutet, dass sie darauf abzielen, außerhalb der institutionellen Interessenvertretung - aber innerhalb des legalen Rahmens - die öffentliche Meinung und die Massenmedien auf die politischen Ziele der Bewegungsorganisation aufmerksam zu machen.

Unter öffentlicher Meinung versteht Raschke die Meinungsführerschaft der mächtigsten Gruppen in einer Gesellschaft. Diese so genannten Großgruppen artikulieren ihre Meinungen über die Massenmedien, welche aus diesem Grund als Vermittlungsträger zwischen der Gesellschaft und dem politischen System anerkannt werden18. Für Bewegungsorganisationen, die weder zu den Großgruppen einer Gesellschaft gehören noch gleichzeitig über viele Ressourcen verfügen, ist es wichtig, ihre Interessen über die Massenmedien wiederzugeben, um die öffentliche Meinung für ihre Belange zu sensibilisieren: Somit sind Bewegungsorganisationen darauf angewiesen, das Interesse der Massenmedien auf sich zu ziehen. Mittels demonstrativer Aktionsformen kann eine Bewegungsorganisation schließlich erreichen, dass über sie und ihre Forderungen berichtet wird, ohne selbst Teil der gesellschaftlichen Großgruppen zu sein. Die Berichterstattung soll schließlich dazu führen, dass die Bewegungsorganisation die Zustimmung der Öffentlichkeit erhält und somit an Legitimität gewinnt. Über die öffentliche Meinung soll schließlich die Willensbildung, bzw.

die Entscheidungsfindung beeinflusst werden, in dem die Forderungen der

17 Raschke definiert Streik als „kollektiven Einsatz der Arbeitsverweigerung als gewaltloses, ökonomisches Aktionsmittel der Lohnabhängigen zur Propagierung oder Durchsetzung von an den Staat gerichteten Forderungen“. Es sei allerdings angemerkt, dass der Streik keine direkt-koerzive Aktionsform darstellt, wenn dieser - etwa durch Gewerkschaften geleitet - einen hohen Grad der Institutionalisierung erreicht hat, so dass dieser als ein „rechtlich geregeltes, weitgehend berechenbares Instrument in der Hand von Vermittlungsträgern“

angesehen werden kann (Raschke 1985: 296 ff.).

18 In Westeuropa stellten ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Printmedien, ab den 1930er Jahren der Rundfunk und ab den 1960er Jahren das Fernsehen die wichtigsten Massenmedien dar (Raschke 1985: 343).

Bewegungsorganisation etwa über die Wähler oder die Vermittlungsagenturen an das politische System übermittelt werden (Raschke 1985: 280). Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass im System der Massenmedien durch so genannte Selektionsfilter eine Vielzahl an Ausschlussmechanismen existiert, welche die Berichterstattung enorm beeinflussen, bzw.

kontrollieren. Somit birgt das Zusammenspiel mit den Massenmedien auch immer ein Risiko, da diese die öffentliche Wahrnehmung einer Bewegungsorganisation sowohl positiv als auch negativ prägen können. Genauso kann es vorkommen, dass eine Bewegungsorganisation die Selektionsfilter gar nicht erst passieren kann und somit gar keine Beachtung in den Massenmedien findet (ebd.: 343 ff.).

Aufgrund dieser Typologie von Raschke soll im empirischen Teil der Arbeit danach gefragt werden, ob die MST eine institutionelle Aktionsstrategie verfolgt, um so zu klären, inwiefern es zu einer Institutionalisierung auf nationaler Ebene gekommen ist. In dieser Hinsicht soll dort an erster Stelle untersucht werden, ob die MST als eine Bewegungsorganisation anzuerkennen ist, was Raschke als Vorraussetzung für die Institutionalisierung bezeichnet.

Um die Aktionsstrategie der MST zu definieren, soll an zweiter Stelle danach gefragt werden, ob die MST seit ihrer Entstehung Mitte der 1980er Jahre bis heute eher zu intermediären, direkt-koerziven und/oder zu demonstrativen Aktionsformen zurückgegriffen hat. Für die Darstellung der Entwicklung dieser Aktionsformen soll ein Längsschnittvergleich unternommen werden, der zusätzlich die Zusammenhänge zwischen diesen hervorheben soll.

Dem Modell von Raschke entsprechend, würde die Ausübung lediglich intermediärer und demonstrativer Aktionsformen dafür sprechen, dass die MST eine institutionelle Aktionsstrategie verfolgt und somit auch eine Institutionalisierung erfolgt ist. Sind dennoch auch direkt-koerzive Aktionsformen zu beobachten, so stellt sich die Frage, ob die MST eher einer anti-institutionellen oder einer mehr-dimensionalen Aktionsstrategie anhängt. Träfe eine dieser beiden Aktionsstrategien zu, wäre nicht oder nur teilweise von einer Institutionalisierung der MST auszugehen.

2.3. Die Institutionalisierung der sozialen Bewegungen auf der internationalen Ebene