• Keine Ergebnisse gefunden

Das Ich im (akademischen) Lernen

Im Dokument Lernen und das Andere (Seite 18-21)

2. Theorie & Erkenntnisinteresse – Wieso das wichtig ist

2.4. Das Ich im (akademischen) Lernen

Die Identität eines Individuums befindet sich in einem kontinuierlichen Prozess der Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion.29 Verstanden als (psycho)soziales Konzept fällt der Identität eines Menschen die Aufgabe zu, dem Selbst30 einen Sinn im jeweiligen Kontext zu geben.31 Diesem Grundverständnis innewohnend ist die Überzeugung, dass jede menschliche Identität eine Vielzahl von Rollen und Selbstverständnissen in sich

29 Barnett & Di Napoli (2008, S. 6) formulieren es wie folgt „We see identities […] as a historical process of

construction, deconstruction and reconstruction, three movements that we see at the heart of any identity dynamics.”

Vgl. zudem Illeris (2014), Taylor (2008) und Tennant (2012).

30 Mit dem Begriff des Selbst wird ein In-Beziehung-Treten mit sich selbst bezeichnet. Die zentrale Abgrenzung zum Begriff der Identität besteht darin, dass diese sich in der Beziehung zu (dem) Anderen begründet. Beide sind durch ihre subjektive und soziale Einbettung miteinander verbunden (vgl. Illeris, 2014; Tennant, 2012).

31 Taylor (2008, S. 28) unterstreicht gleichsam die Relevanz, die das Einnehmen einer bestimmten Rolle für den Kern individueller Identität haben kann: „For individuals, roles give rise to context-specific opportunities to express, and even develop, personal identity.”

vereinigt. Im Sein offeriert sie dem Individuum einen verbindenden und bedeutungsgebenden Kern, der das Wechseln zwischen den verschiedenen Rollen leitet. Identität ist somit kein stabiles, auf Selbstdefinition beruhendes Ganzes, sondern vielmehr eine immerwährende, historisch-kontextuelle Positionierung. Der jeweilige soziale Kontext offeriert hierbei den Impuls, um eine bestimmte Rolle einzunehmen und gemäß der Parameter ihres jeweiligen Bezugssystems zu handeln. So interagiere ich in meiner Rolle als Akademikerin auf andere Art und Weise mit der Umwelt, als ich es in meiner Rolle als Freundin oder Tochter täte.

Gleichsam nehme ich je nach Rolle Lernimpulse anders wahr und verarbeite diese in bestimmten Modi. Die Grundannahme, dass Lernen sozial eingebettet erfolgt, kann vor dem Hintergrund des Identitätsdiskurses eine weitere Deutungsebene erhalten.

Der hier verwendete postmoderne Identitätsbegriff, der in seiner Grundannahme die Pluralität von Selbstverständnissen als Teil eines sich immer neu entwerfenden Identitätsbildes veranschlagt, misst dem Prozess der (Selbst)Reflexion große Bedeutung zu und setzt sie in das Zentrum theoretischer Auseinandersetzungen zu dieser Thematik.32 Um in einem Kontext wirkungsmächtig handeln zu können, braucht das Individuum einen kontinuierlichen Abgleich mit (sowie Vergewisserung) der eigenen Identität und der darin zusammenwirkenden Rollen.

Es ist dieses fortwährende (Neu)Entdecken individueller Sinnhaftigkeit, in der die Parallele zwischen dem Konzept der Identität und dem des Lernens deutlich wird. Beide sind in ihrem Wirken relational, beide konstituieren und verändern einander fortwährend. Illeris (2014, S.

64) beschreibt diese Verbindung wie folgt: „[I]dentity is created, developed and changed through learning – which all takes place in an interplay with the innate dispositions that are integrated in the learning process and thereby can influence the learning as well as the identity”.

Jede Erfahrung offeriert Lernimpulse und so Erkenntnisse, die bestätigend oder hinterfragend auf die eigene Identität wirken können.33 Gleichsam ist es die Identität, die beeinflusst, welches Lernverhalten in einer Situation gewählt, auf welches Wissenskonstrukt zugegriffen wird und welche Einstellungen das Individuum dabei leiten. Es sind folglich die individuellen Wissenskonstrukte und Überzeugungen eines Individuums in einer bestimmten, situativ eingenommenen Rolle, die beeinflussen, ob und wie intensiv ein Lernimpuls wahrgenommen wird. Lernen und Identität teilen sich denselben Kern; ein Phänomen, das das eine verändert, wirkt auch auf das andere.

Die Aufgabe der Identität ist es nun, als Quelle der Orientierung im Wechsel zwischen den verschiedenen sozialen Rollen eines (lernenden) Subjektes zu dienen. Sie organisiert die Pluralität an Rollen, die ein Subjekt aufgrund seiner sozialisierten Zugehörigkeiten zu einer oder auch mehreren Gruppen innehat. Die Stärke individueller Identität kann sich folglich in ihrem Können offenbaren, eine bestimmte Rolle passend zum jeweiligen Kontext auszuleben, ohne damit in Widerspruch zu ihrem eigenen (Selbst)Konzept zu treten, sondern vielmehr als Ausdruck desselben zu wirken.

32 Vgl. Barnett & Di Napoli (2008) sowie Eickelpasch & Rademacher (2004).

33 Diese Annahme wurde jüngst erneut durch eine qualitative Langzeitstudie im Bereich des Sprachenlernens bestätigt (vgl. Takkac Tulgar, 2019).

Der Ursprung jeder dieser Rollen, die ein Mensch als die eigenen auslebt, liegt im Prozess der Sozialisation. Wenn ich in dieser Arbeit von Sozialisation spreche, dann beziehe ich mich auf sozial- und kulturwissenschaftliche Diskurse, die damit auf einen Prozess verweisen, im Zuge dessen ein Individuum die Werte, Regeln und Sinnstrukturen einer sozialen Gemeinschaft bzw. eines sozialen Kontextes erfährt, in das eigene Wissenssystem übernimmt und als (zunehmend unhinterfragtes) Leitmotiv der eigenen Handlungen anwendet.34 Der Wunsch, innerhalb eines Kontextes wirkungsmächtig handeln zu können, kann als sozialisiertes Mitglied der jeweiligen Gruppe erfüllt werden. Der Zugang zu dieser Wirkungsmacht erschließt sich dem Individuum im Zuge der Sozialisation jedoch nicht durch passives Nachvollziehen, sondern durch aktive Teilhabe, durch die Praxis des sich Einfindens.35 Für das System Wissenschaft ist dies, so Rhein (2015), mit dem Modus des Studierens verzahnt. Dieser bedeutet nicht nur, Wissenschaft als abstraktes System von Aussagen zu erlernen, sondern gleichsam, sich Wissenschaft als Praxis des „Erklärens und Verstehens“ (ebd., S. 354) zu erschließen. Das hier implizierte Einfinden in die Parameter wissenschaftlichen Handelns adressiert den Kern akademischer Sozialisation.36

Die Hochschulwelt zu betreten und Teil des eigenen Lebens werden zu lassen, ist geprägt von Prozessen akademischer Sozialisation.37 Diese sind insbesondere dadurch gekennzeichnet, sich in die Selbstverständlichkeit wissenschaftlichen Denkens und Argumentierens, schriftlich38 wie mündlich, einzufinden und das eigene Handeln davon leiten zu lassen.

Brockbank & McGill (1998) unterstreichen, wie weitreichend dieses Einfinden in das soziale System Hochschule für das (lernende und lehrende) Handeln aller Beteiligten ist. Sie schreiben:

„[…] we are deeply influenced by our experience, that learning contexts in higher education (as elsewhere) are themselves social constructs, that knowledge is socially constructed and that when learners enter and experience higher education they enter a system that is not value free and where power is exercised that can influence the process and learning of a student learner.

The same applies to academic staff who have the responsibility, in part, to create the condition for learning to take place” (Brockbank & McGill, 1998, S. 4).

Die Normen und Werte, die (angehende) Wissenschaftler*innen in ihrem Wirken leiten, sind somit ebenso wie die Art der Wissensproduktion begründet im jeweiligen sozialen

34 Vgl. Borst (2011, S. 21ff.). Für bildungs- und erziehungswissenschaftliche Kontexte ist hervorzuheben, dass durch Beachtung der Sozialisation in der Analyse lernrelevanter Faktoren eine Fokusverschiebung stattfindet: Von pädagogischen auf gesellschaftliche Faktoren (Hurrelmann & Bauer, 2015; Koller, 2017).

35 Basierend auf einem Modell des produktiv-realitätsverarbeitenden Subjekts beschreiben Hurrelmann & Bauer (2015) hierzu, dass Sozialisation durch einen kontinuierlichen Abgleich innerer und äußerer Realität erfolgt. Das handelnde Subjekt ist hier im Zentrum.

36 Vgl. Huber (1991), der Wissenschaft als sozialen Prozess beschreibt, dessen Habitus man sich im Laufe des Studiums aneignet. Hochschulsozialisation definiert er (ebd., S. 419) als Aushandlungsprozess jener Dispositionen, die eine Person durch ihre Sozialisation in das Hochschulstudium mitbringt.

37 Für einen Einblick sei auf das hierzu erschienen Themenheft der ZFHE, Vol 10(4), herausgegeben von Jenert et al.

(2015) hingewiesen, zur Sozialisation in ein akademisches Fach zudem auf die Studien von Lindblom-Ylänne et al.

(2006) und Trigwell et al. (2012).

38 Schmidt (2016) erläutert in ihrer Dissertation beispielsweise, inwiefern die akademische Sozialisation zu unterschiedlichem Sprachgebrauch im akademischen Schreiben führen kann. Dies begründet sie u.a. durch die identitätsbildende Kraft rollenspezifischen Sprachgebrauchs (ebd., S. 22f.).

Kontext. Der Einfluss, den der soziale Kontext39 auf das Lernen hat, wird unter Berücksichtigung des Identitätsdiskurses unterstrichen. Wie verhält sich dieses Wissen nun zur Annahme, dass Identitäten nicht fix, sondern vielmehr fluide Konstrukte sind? Taylor (2008, S. 30) mutmaßt, dass diese „[…] constructions are linked to the need for personal meaning.“

Diese Suche nach eigener Bedeutsamkeit ist hierbei verzahnt mit dem Bedürfnis, eine Situation oder Interaktion zu verstehen. Dieses Ergründen einer Information, das seinen Ursprung in der Begegnung eines Subjektes mit der Umwelt hat, offeriert eine weitere Verbindung des Konzepts der Identität mit dem des Lernens. Beide stehen in Relation zu Prozessen der Begegnung. Bereits in Kapitel 2.2 habe ich umrissen, dass derlei Begegnungsprozesse verschiedener Art sowie Grundlage lernrelevanter Reflexionsimpulse sein können. Ihnen inhärent ist, dass – mit Blick auf die Verschränkung von Identität und Lernen – derlei Begegnungen auch die Wahrnehmung eines Anderen in sich tragen können. Dass eine solche Begegnung mit dem Anderen Einfluss auf das Lernen auszuüben vermag, ergibt sich bei näherer Betrachtung des Identitätskonzeptes und seiner Grundannahme, dass Identität im Entstehen das konstruierte Andere braucht. Ein Anderes, das unter dem Begriff der Alterität und konzeptuell als Schwester der Identität verhandelt wird. Im Folgenden werde ich das Konzept der Alterität näher beleuchten und so die Verschränkung von Lernen, Identität und Alterität unterstreichen.

Im Dokument Lernen und das Andere (Seite 18-21)