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Überlieferung und Überlieferungsbildung zu einer nicht alltäglichen Zeit

1968 – Was bleibt von einer Generation?

Überlieferung und Überlieferungsbildung zu einer nicht alltäglichen Zeit

Tagungsbericht

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VonClemens Rehm

Geschichtsbilder sind nicht erst seit dem Historikertag von 2006 in aller Munde. Dabei sind es nicht nur Bilder, durch die historische Prozesse der Nachwelt überliefert werden. Sie sind nur ein Ausschnitt aus der Welt der Quellen, die in Archiven aller Orten bereitgehalten wird, um eine Rekon-struktion und Interpretation des Vergangenen zu ermöglichen. Seitdem in der Archivwelt der letzten Jahre die Nutzung von Archivgut als finale Legiti-mation des eigenen Tuns verstärkt diskutiert wird, steht auch die Auswahl des Archivwürdigenim Blickfeld. Wenn Quellen in Archiven dazu dienen sollen, eine demokratische Kontrolle politischer Entscheidungen und gesellschaft-licher Prozesse im Nachhinein zu ermöglichen und gleichzeitig Material zur Identitätsstiftung bereitgehalten werden soll, muss auch die Auswahl des Materials, das in die Archive gelangt, ein Ergebnis einer Diskussion sein, die sich nicht nur auf Archivzirkel beschränkt. Die Offenlegung von Auswahl-und Vernichtungskriterien von Material durch Archivare gehört ebenso dazu wie in einem zweiten Schritt die Partizipation derjenigen, die die Quellen nut-zen wollen.2

Denn Überlieferungsbildungist kein vermeintliches Randthema – es ist ein gravierender Vorgang mit erheblichen Auswirkungen: Was nicht als

1 Tagungsbericht 1968 – Was bleibt von einer Generation? 27. 2. 2007, Stuttgart. In:

H-Soz-u-Kult, 23. 5. 2007: http://hsozkult. geschichte. hu-berlin. de/tagungsberichte/

id=1573 [31. Januar 2008]. Copyright; vgl. auch Der Archivar 60 (2007) S. 341 – 343.

2 Vgl. Robert Kretzschmar: Archivische Bewertung und Öffentlichkeit. Ein Plädoyer für mehr Transparenz bei der Überlieferungsbildung. In: Archiv und Öffentlichkeit.

Aspekte einer Beziehung im Wandel. Zum 65. Geburtstag von Hansmartin Schwarzmaier.

Hg. von Konrad Krimmund Herwig John(Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg A 9). Stuttgart 1997. S. 145 –156; Clemens Rehm: Kundenorientie-rung. Modewort oder Wesensmerkmal der Archive? Zu Transparenz und Partizipation bei der archivischen Überlieferungsbildung. In: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Das Dienstleistungsunternehmen Archiv auf dem Prüfstand der Benutzerorientierung. Vor-träge des 61. Südwestdeutschen Archivtags am 26. Mai 2001 in Schaffhausen. Hg. von Hans Schadek. Stuttgart 2002. S. 17– 27; Hermann Rumschöttel: »Das Kulturelle Gedächt-nis und das Archiv« oder »Das Archiv – ein wach zu küssendes Dornröschen?« In: Kultu-relles Gedächtnis im 21. Jahrhundert. Tagungsband des internationalen Symposiums 23. April 2005. Hg. von Thomas Dreierund Ellen Euler. Karlsruhe 2005. S. 163 –172.

Überlieferung gesichert ist, kann nicht in den geschichtswissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs eingebracht werden. Der folgenreiche Prozess der Auswahl von archivwürdigemMaterial und der damit einhergehenden Vernichtung von nicht archivwürdigem– eben der Vorgang der Überliefe-rungsbildung– ist vielen Historikern kaum bewusst und zeigt, wie sehr die Rolle der Archive auch in der Fachwelt noch unterschätzt wird.

Daher war das Ziel des Kolloquiums zu 1968, für den die hier präsentier-ten Beiträge erarbeitet wurden, eine verbesserte Kommunikation, mehr noch das Bewusstsein für die Notwendigkeit des Dialogs zwischen der Forschung, die Quellen sucht und die vorliegende Materialen unhinterfragt nutzt, und den Archiven, die Unterlagen bisher nach ihren eigenen Kriterien auswählen.

Es war die Fortsetzung einer Diskussion, die im Arbeitskreis Bewertung des Verbands deutscher Archivarinnen und Archivare 2001 aufgegriffen und auf dem 46. Deutschen Historikertag in Konstanz auch erstmals in die histori-sche Fachöffentlichkeit getragen wurde.3

Konkretisiert wurde dies am Thema 1968, das durch die aktuelle Dis-kussion um die Begnadigung des Terroristen Christian Klar zusätzliche Auf-merksamkeit gewonnen hat. Dabei standen diesmal nicht die Ereignisse oder die Interpretation des roten Jahrzehntsim Fokus des Interesses, sondern die Quellen und ihre Auswahl.

Thomas Etzemüller (Universität Oldenburg) stellte im Einführungs-vortrag den Forschungsstand zu 1968vor: Früher seien die 1950er-Jahre als undifferenzierter Block provinziellen Miefs und politisch-moralischer Kon-formität beschrieben worden. Darauf wäre 1968 die plötzliche Befreiung von verkrusteten Normen durch die protestierenden Studenten gefolgt. Dieser politische Aufbruch sei jedoch 1970 schon unterdrückt und zerschlagen ge-wesen: 1968sei somit ein singuläres Ereignis.

Inzwischen gerät in der Forschung zum ersten die Phase von den (späten) 1950er-Jahren bis weit in die 1970er-Jahre als eine Einheit in den Blick. In die-sen Jahren durchliefen die westlichen Gesellschaften die fundamentale Trans-formation zu einer modernen, liberal-demokratischen Konsumgesellschaft;

ein Wandel mit 1968als integralem Teil. Als exemplarische Belege für diese Sichtweise führte Etzemüller die in den 1950er-Jahren aufbrechende Jugend-kultur und die Veränderungen von Geschlechterrollen im Erwerbsleben.

Die von ihm genannten Beobachtungen zur Komplexität der 68er-Bewe-gung haben Auswirkungen für Archivare bei der Überlieferungsbildung: Er verwies auf die inkonsequente Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, die Radi-kalisierung der Auseinandersetzungen ab 1964 mit entsprechenden Polizei-einsätzen und die für die Eskalation wesentlichen Wahrnehmungsprozesse der Handelnden – einerseits die Furcht vor einem Wiederaufleben des

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3 Vgl. www. uni-konstanz. de/historikertag im September 2007 (4. Mai 2007), Neuere Ge-schichte Sektion 10.

Faschismus und andererseits die Angst, die fünfte Kolonne Moskauskönnte Erfolg haben.

Ebenfalls schwierig quellenmäßig zu fassen ist der von Etzemüller konsta-tierte, parallel verlaufende Politisierungsprozess, bei dem auf ein spezifisches Vokabular und Denken zurückgegriffen wurde, das den wahrgenommenen Strukturwandel der Nachkriegszeit in Begriffe und Sinnzusammenhänge fasste und es erlaubte, gesellschaftsverändernde Handlungsvorgaben zu for-mulieren und zu begründen.

Zur Entstehung von Unterlagen

Die Frage nach dem, was bleibt, ist selbstverständlich entscheidend durch das geprägt, was überhaupt an Unterlagen entsteht. So stellte zuerst General-staatsanwalt Klaus Pflieger (Stuttgart) für die Aktenbildner die Vorgehens-weise der Staatsanwaltschaften dar, wobei er – eigene Erfahrungen als Ermitt-ler in den RAF-Verfahren einbringend – den Bogen bis zum Deutschen Herbst 1977 spannte. Das Ermittlungsinteresse bezog sich logischerweise auf be-kannte Straftaten. Aber auch unspektakuläre Unterstützungsaktionen zogen Aktivitäten staatlicher Organe nach sich. Dabei wird eine Grundproblematik der Überlieferungsbildung im Justizbereich offenbar: Nur zu strafwürdigem oder vermeintlich strafwürdigem abweichenden Verhalten entstehen über-haupt Unterlagen. Allgemeine Mentalitäten und ihr Wandel lassen sich da-durch nur bedingt ermitteln. Selbstverständlich finden sich in den Justiz-unterlagen ganz bewusst Selbstzeugnisse von Angeklagten, sie sind aber nur für einen kleinen, begrenzten Teil der 1968er aussagekräftig. Die Einstel-lungen der Menschen, die statt auf den Terrorismus auf den Marsch durch die Institutionensetzten, ist damit nicht nachvollziehbar.

Sehr wohl wird in den Akten aber die Grundpositiondes Staats in jener Zeit, die Intentionen und Grundhaltungen seiner Vertreter erkennbar. Zu-dem ist spannend festzustellen, dass nebenbei noch Selbstzeugnisse und Do-kumente der Täter zusammengetragen werden, durch die der Mythenbildung (Mord in Stammheim) entgegengearbeitet wird. Insofern ist und bleibt die Justizüberlieferung wichtig für die Aufarbeitung einer Zeit, in der versucht wurde, Konflikte gerade über die juristische Ebene zu lösen.

Unterlagen im Staatsarchiv

Anschließend stellte Dr. Elke Koch (Landesarchiv Baden-Württemberg) die Chancen eines staatlichen Archivars dar, sich der Thematik 1968zu nähern.

Der Versuch, Quellen zu ermitteln und in die Archive zu übernehmen, aus denen aussagekräftig die gesellschaftliche Entwicklung ablesbar wird, muss – das wurde schnell deutlich – über die Justizüberlieferung hinausreichen.

Dabei können sich Archivare in einem ersten Schritt auf ihr übliches, bewährtes Bewertungsinstrumentarium verlassen. Durch reguläre Überliefe-rungsverfahren zum Beispiel für Personalakten werden Unterlagen von Ak-tivistenarchiviert, die allerdings auch Unspektakuläres enthalten. Aufgrund von gesetzlichen Zuständigkeiten können in allen staatlichen Bereichen Unterlagen ermittelt werden – auch wenn manchmal Verluste zu vermelden sind. Neben den Universitäten – die als besonderer Bereich von Becker (siehe oben) angesprochen wurden –, stellte Koch beispielhaft die Überlieferungen von Fachhochschulen vor. Konnte sie dabei doch gleichzeitig herausarbeiten, dass 1968gerade in der Provinz unzweifelhaft ebenfalls stattgefunden hat, aber eben auch eine differenzierte Entwicklung festzustellen ist. Aber nicht nur die Unterlagen zu konkreten Ereignissen, wie Demonstrationen und Ähnliches ermöglichen ein Fenster in die Geschichte einer Region, auch allgemeine Mentalitätsverschiebungen sind dokumentiert. Was ist zum Bei-spiel in der Forstverwaltung die Einrichtung von Wanderparkplätzen ande-res als die massenhafte Mobilisierung der Bevölkerung unter dem Schlagwort zurück zur Natur? Insofern kommt der staatlichen Überlieferung für die Dokumentation des gesellschaftlichen Wandels aufgrund ihrer Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit eine besondere Bedeutung zu.

Unterlagen im Universitätsarchiv

So breit sich die staatliche Überlieferung darstellt, so konzentriert ist die der Studentenbewegung selbst. Thomas Becker (Universitätsarchiv Bonn) fächerte vier Säulen der Überlieferung auf: Universitäten und andere Hoch-schulen haben in Deutschland traditionell eine zweigeteilte Verwaltung, den zentralen Verwaltungsapparatmit einem Kanzler an der Spitze und die aka-demische Selbstverwaltungmit Rektorat, Senat, Dekanen, Fakultäts- und In-stitutsräten. Daneben agiert die studentische Selbstverwaltungmit ihren Gre-mien und Ausführungsorganen vom AStA bis zur Fachschaft. Neben diesen Elementen der universitären Verwaltung muss bei einer Dokumentation von Studentenbewegungdas universitäre Leben mit politischen und konfessio-nellen Studierendengruppen, die kulturellen Vereine, Sportclubs und studen-tischen Korporationen mit berücksichtigt werden.

Daher wird in keinem Universitätsarchiv in Deutschland ein eigener Bestand Studentenbewegungoder 1968 zu finden sein. Vielmehr setzt sich die Tektonik aller Hochschularchive aus diesen vier Säulen zusammen. Ge-fragt sind also Verwaltungsakten, Akten der akademischen Selbstverwaltung, AStA- und Fachschaftsüberlieferung und private Sammlungen von studen-tischen Gruppen oder von Einzelpersonen.

Die Dokumentationsdichte ist dabei von Hochschule zu Hochschule un-terschiedlich, aber das ist eine Folge des jeweiligen records managementsund der lokalen Besonderheiten. Insbesondere die vierte Säule, das vielschichtige

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politisch-kulturelle Leben ist nur durch eine intensive Sammeltätigkeit der Nachwelt zu überliefern – die freilich an Grenzen bei denjenigen stößt, die nicht bereit sind, Dokumente des Kampfes gegen das Establishmentnun ei-ner Institution des Staats zu übereignen.

Unterlagen im Bewegungsarchiv

Die Situation, dass viele Protagonisten der Studentenbewegung einerseits ihr Handeln sehr wohl dokumentieren, andererseits aber ihre Einstellungen auch in der Art der Langzeitsicherung sichtbar machen wollten, war Ursache für die Entstehung von alternativen Archivierungskonzepten, den Bewegungs-archiven. Diese Archive sollten – so die Gründungsgedanken – Bestandteil der politischen Aktivitäten einer Region sein. Michael Koltan (Archiv Soziale Bewegungen, Freiburg im Breisgau) konnte überzeugend darstellen, dass ge-rade die Verwurzelung und ständige Verankerung im Milieu eine, wenn nicht die wesentliche Voraussetzung für die Bereitschaft von potenziellen Nach-lassgebern ist, ihre privaten Dokumente überhaupt sichern zu lassen. Diese Materialien werden in den Bewegungsarchiven aktiv akquiriert – subjektive Zeugnisse einer radikal subjektivistischen Bewegung. Neben klassischem Sammlungsgut wie zum Beispiel Flugblättern und Plakaten, das gleichsam am Mensatisch erfasst wurde, werden Ego-Dokumentewie Notizen, Briefe und Fotomaterial gesucht. Erst in den letzten Jahren ist beispielsweise bekannt ge-worden, dass in dieser Zeit in erheblichem Umfang privates Filmmaterial auf Super 8 entstanden ist.

In den Bewegungsarchiven ist die Zeit der Schuhkartons und provisori-schen Regale längst vorbei; archivfachliche Standards lassen sich zunehmend umsetzen. Aufgrund ihres einzigartigen Materials, das allerdings vor allem bei Druckerzeugnissen an unterschiedlichen Stellen mehrfach überliefert sein kann, sind sie zunehmend als Projektpartner gefragt. Gleichwohl ist die Kontinuität dieser Archive gefährdet, weil sie vielfach fast ausschließlich auf Spendenmittel oder begrenzte Projektmittel angewiesen sind.

Weiße Fleckender Überlieferung

Wolfgang Kraushaar (Hamburger Institut für Sozialforschung) wandte sich den Weißen Fleckender Überlieferung zur Studentenbewegung zu, die er im Kern für überschaubarer hält als allgemein angenommen wird. Dabei stellte er keine systematische Karte fehlender Quellen vor, sondern arbeitete an-hand von Beispielen die Probleme heraus, wie an Primarquellen der 68er-Bewegung zu gelangen ist.

Eine sachgerechte Archivierung bedarf einer genauen Kenntnis inhalt-licher, das heißt politischer Zusammenhänge, sodass aus Fragestellungen

he-raus die Suche nach bestimmten Materialien entwickelt und präzisiert werden kann. Allein mit einer formal systematischen Sammeltätigkeit oder unspezi-fischen Sammelwut sind die gewünschten Ergebnisse nicht zu erzielen. Dass hier in vielen Fällen auch finanzielle Mittel nötig sind, weil die Eigentümer einen kommerziellen Wert der Unterlagen geltend machen, verschärft die Aufgabe insbesondere für die Bewegungsarchive, die in der Regel über einen sehr beschränkten und wenig verlässlichen Etat verfügen.

So sehr die staatlichen Einrichtungen den Vorteil der Unabhängigkeit, der Rechtsicherheit und der Überparteilichkeit bei der Archivierung haben, so sehr ist es nach den Erfahrungen Kraushaars für viele Protagonisten der Studentenbewegung unvorstellbar, ihre Unterlagen überhaupt abzugeben – auch nicht an nichtstaatliche Einrichtungen.

Allerdings droht hier eine andere Gefahr: Wie Kraushaar am Beispiel der Kommunarden Kunzelmann belegen konnte, ist der Dokumentar seiner eigenen Aktivistentätigkeit nicht unbedingt der ideale Archivar. Er kann und wird gegebenenfalls interessegeleitet verzeichnen und damit entsprechende Schneisen in die Überlieferung schlagen – oder Dokumente verstecken.

Diskussionsergebnisse

In der Diskussion wurde vor allem auf die Aspekte Zugänglichkeit der Unter-lagen,regionale Differenzierungund Archivierung im Verbundeingegangen:

Zugänglichkeit der Unterlagen

Es wurde intensiv gestritten, inwieweit gleichmäßige öffentliche Zugänglich-keit von allen Archiven zu fordern wäre. Das Jedermann-Recht – für den Bürger bei öffentlichen Archiven selbstverständlich und gesetzlich geregelt – wird bei Bewegungsarchiven aufgrund ihrer besonderen Beziehung zu ihren Nachlassgebern problematisiert. Nicht jeder – vor allem nicht derjenige mit falschenAbsichten – soll Einsicht in Unterlagen erhalten können. Schließlich könnten in den Beständen durchaus noch brisante Informationen enthalten sein, deren Bekanntmachung eventuell aktuelle Konsequenzen nach sich ziehen würden. So problematisch – und grundsätzlich inakzeptabel – eine nach Personengruppen differenzierte Einschränkung der Zugänglichkeit erscheint, wiesen doch auch Archivare aus dem staatlichen Bereich darauf hin, dass viele Unterlagen aus dieser Zeit vorenthalten würden, eben weil sie jeden Nutzer unabhängig vom Erkenntnisinteresse gleich behandelten. Das Vertrauen, das die Bewegungsarchive hier genießen würden, habe für die Überlieferungssicherung eine zentrale Funktion. Ohnehin sei dies ein Pro-blem der Zeiträume, meist seien diese von den vorherigen Eigentümern der Dokumente erbetenen Schutzräume befristet.

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Regionale Differenzierung

Zum Kolloquium war mit der Anfrage an die Forschung eingeladen worden, was an Unterlagen für die Bearbeitung der Fragestellungen zum Umbruch 1968benötigt und ob in den Archiven eigentlich das Wesentliche auch wirk-lich überliefert wird. Deutwirk-lich wurde, dass insbesondere für die Ereignisse und Entwicklungen in der Provinz überraschend viel überwiegend noch nicht ausgewertetes Material zur Verfügung steht: seien es personenorien-tierte Unterlagen (zum Beispiel Lehrerpersonalakten) oder Polizeiberichte.

Unter dem Stichwort der Lemgoisierung wurde eine Perspektive für For-schungslinien angerissen, die darauf zielte, den forschenden Blick über die Zentren in Berlin oder Frankfurt am Main hinaus zu erweitern. Das Quel-lenmaterial ist dafür vorhanden.

Archivierung im Verbund

In der Schlussdebatte wurde mehrfach gefordert, die Überlieferungsbildung vernetzt anzugehen und diese Vernetzung transparent zu kommunizieren.

Den Nutzern müsste leicht erkennbar sein, in welchem Archiv sich welche Überlieferung befinde. Da sich gerade im Sammlungsbereich deutliche Über-schneidungen abzeichnen, sei vor allem hier eine Kooperation gefragt, bei der jeder Partner seine Stärken einbringen könnte.

Gerade die Frontstellung zwischen Bewegungsarchiven und staatlichen Archiven, die sich aus der Entstehungszeit und den Gründungsgedanken der Bewegungsarchive herleiten lässt, erscheint heute anachronistisch. Mit Blick auf die Forschung sollte eine Kooperation, eine Archivierung im Verbund entstehen.

Robert Kretzschmar wies als Vorsitzender des Verbands deutscher Archi-varinnen und Archivare e.V. (VdA) darauf hin, dass derzeit geprüft wird, ob und wie eine Annäherung von Bewegungsarchiven und etablierten Archiven sich auch organisatorisch im VdA verankern lässt. Zu denken sei dabei an einen gemeinsamen Gesprächs- bzw. Arbeitskreis.

Fazit

Die ursprüngliche Intention der Veranstalter – die Forschung um Anregun-gen zur Überlieferungsbildung zu bitten – konnte nur teilweise erreicht wer-den, weil in vielen Fällen die Grundlagen für eine solche Diskussion fehlten.

Zunächst wurde offenkundig, dass im universitären Bereich das Wissen, in welchen Archiven und Dokumentationsstellen überhaupt welche Unterlagen erwartet werden können, nur unzureichend verbreitet ist. Die Informationen über die Strukturen und Zuständigkeiten von Archiven und Dokumenta-tionsstellen muss zum Nutzen von Forschungsergebnissen intensiver in den

fachwissenschaftlichen Diskurs eingebracht werden – ein derzeit zu bekla-gendes kommunikatives Desiderat. Es ist schon jetzt absehbar, dass bei den chronologisch folgenden Themen wie der Umwelt- und Friedensbewegung mit Blick auf die Archivierung ähnliche Fragestellungen zu erörtern sein werden.

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