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Das Äquilibrationsmodell

3 Die Tradi tion des genetischen Strukturalis mus Obwohl der Verweis auf den genetischen Strukturalismus als

3.3 Das Äquilibrationsmodell

Bisher ist in diesem Kapitel davon die Rede gewesen, was ein Ent-wicklungspsychologe genetisch-strukturalistischer Provenienz unter-sucht (Performanzen, die auf Kompetenzen verweisen, die wiederum strukturierte Ganzheiten darstellen), und welche Kriterien ein Ent-wicklungsmodell in dieser Theorietradition zu erfüllen hat, um als ein gehaltvolles Modell zu gelten. Die Beachtung dieser Aspekte ermög-licht dem Forscher die Aufstellung eines Entwicklungsmodells in de-skriptiv-analytischer Hinsicht. Die Frage jedoch, wie es zu den be-schriebenen Stadien und zu deren Transformation in ein jeweils höhe-res Stadium kommt, ist damit noch nicht beantwortet. Dies versucht das Äquilibrationsmodell (vgl. zu diesem Abschnitt Miller 1996: 76-82), das als explanatives Konstrukt dienen soll, zu leisten.34 Dabei ist

34 Zu genau diesem Zweck – der Erklärung der Übergänge von einem Stadium zum anderen – hat Piaget sein Äquilibrationsmodell aufge-stellt. Es ist daher befremdlich, wenn Brainerd (1978: 207) mit dem Gestus des Entlarvenden schreibt, er werde „die Ansicht vertreten, daß die in Theorien wie derjenigen Piagets vorausgesetzten kogniti-ven Strukturen rein deskriptive Konstrukte darstellen. Aus dieser Tatsache folgt, daß die Versuche, Strukturen zur Erklärung begriffli-cher Entwicklungen heranzuziehen, unter einer gewissen Zirkel-schlüssigkeit leiden.“ Über diesen triumphalen Gestus, die struktu-relle Beschreibung vermeintlich als falsch verstandene explanative Analyse entlarvt zu haben, hinaus ist die im gleichen Atemzug

voll-die Unterscheidung zwischen Organismus und Umwelt wichtig. Der Organismus trifft auf eine Umwelt, an die er sich anpassen muß, um überleben zu können. Bei jedem Anpassungs- oder, wie es auch heißt, Adaptationsversuch stehen ihm zwei Möglichkeiten zur Verfügung:

Assimilation und Akkomodation. Bei der Assimilitation paßt der Or-ganismus Informationen aus der Umwelt in seine bereits vorhandenen Strukturen ein. Bei der Akkomodation dagegen verändert es die eige-nen Strukturen und paßt diese an die Umweltanforderungen an. Empi-risch finden sich die skizzierten idealtypischen Formen der Organis-mus-Umwelt-Auseinandersetzung kaum einmal in Reinform. Das Movens beider Anpassungsstrategien ist die Wahrnehmung einer Nicht-Passung zwischen Organismus und Umwelt. Da, gemäß Piaget, aber der Organismus stets nach einem Gleichgewicht zwischen sich und den äußeren Anforderungen strebt, setzt er die genannten Strate-gien immer dann ein, wenn die Diskrepanz zwischen Organismus und Umwelt zu groß und ein Gleichgewicht damit nicht mehr gegeben ist.

Die jeweils neu erreichte Passung hängt dann von der bisherigen Lerngeschichte des Organismus ab. Es entstehen nicht quasi über Nacht radikal andere Strukturen, sondern die schon vorhandenen wer-den so modifiziert, daß sie zur Integration des Neuen dienen können (Akkomodation) oder aber dieses Neue wird soweit kognitiv bearbei-tet, daß es als nicht mehr ganz so neu, sondern mit den alten Struktu-ren vereinbar scheint (Assimilation).

Ungeachtet der Frage, ob es sich bei dem Äquilibrationsmodell um einen kognitiven Mechanismus handelt, der – wie Piaget meint – tief in der menschlichen Biologie verankert ist, hat das Modell unbestreit-bar auch für die eigene Fragestellung heuristischen Wert. Soweit ich sehe, spricht nämlich nichts dagegen und einiges dafür, auch den Um-gang mit Historie als von den Adaptationsmechanismen Assimilation und Akkomodation mitkonstituiert anzusehen. Bei einer entsprechend weiten Fassung beider Termini, die Piaget ja selbst vornimmt, lassen sie sich nämlich ohne weiteres als hermeneutische Begriffe auffas-sen.35 Möchte ein Jugendlicher etwa verstehen, wie die aztekische Ge-sellschaft aufgebaut ist, wird er vielleicht auf sein Wissen über die so-ziale Schichtung der eigenen Gesellschaft zurückgreifen und die dabei implizierten Strukturen auf das ihm noch Neue anzuwenden versu-chen. Dabei wird er feststellen können, daß Manches, was er schon kennt, in ähnlichem Gewande auch für die vergangene Gesellschaft zutrifft, manches andere aber nicht. Während er im ersteren Falle also

zogene Abwertung der strukturell-deskriptiven Analyseebene glei-chermaßen kritikwürdig.

35 Genau dies tut etwa Straub (1999b), wenn er die kognitiven Opera-tionen interpretativer Wissenschaftler, denen es um Fremdverstehen zu tun ist, mit den Begriffen Assimilation und Akkomodation um-schreibt.

die Informationen über die Azteken an die bereits vorhandenen Strukturen assimilieren kann, erfordern die nicht integrierbaren Infor-mationen Akkomodationsakte. Auch hier werden allerdings die be-kannten Strukturen nicht wertlos, sondern müssen ebenfalls zur An-wendung kommen. Nur werden sie in diesem Falle im Modus des „als ob“ angewandt, etwa dergestalt: Das, was in der aztekischen Gesell-schaft oberster Priester genannt wird, entspricht in der katholischen Kirche in bestimmter Hinsicht einem Kardinal, in bestimmten anderen Hinsichten aber nicht. Im Zuge solcher Assimilations- und Akkomo-dationsversuche wird stets die Wirklichkeit als eine bestimmte inter-pretiert und damit z.T. auch konstruiert. Zwar handelt es sich dabei zunächst um eine vergangene Wirklichkeit. Diese wird allerdings nur auf der Folie der Gegenwart verständlich. Gleichzeitig erfährt die Ge-genwart durch die Auseinandersetzung mit der vergangenen Wirk-lichkeit eine neue Dimension und bleibt nicht mehr so, wie sie vorher war.

Ob das Äquilibrationsmodell in der Biologie des Menschen wur-zelt, ist aber bei näherer Hinsicht vielleicht doch nicht einerlei. In der Piagetschen Fassung jedenfalls droht die Betonung einer biologischen Fassung des Modells die entscheidende Rolle der Sozialität des Ent-wicklungsprozesses zu verdecken. Wie wir nämlich mit Historie um-gehen, welche Adaptationsleistungen wir vornehmen, ist ja nicht in unser Belieben gestellt, sondern immer sozial vermittelt. Ein Nachfah-re der schwarzen Sklaven lernt stets etwas andeNachfah-res über den amerika-nischen Sezessionskrieg als ein Nachfahre der weißen Sklavenhalter.

Zur sozialen Imprägniertheit bzw. – schärfer gefaßt – Konstitution von Entwicklung wird noch im nächsten Abschnitt einiges zu sagen sein, hier nur noch soviel: Es soll nicht behauptet werden, Piaget sähe keinen Zusammenhang zwischen Sozialität und Entwicklung (das wä-re auch absurd), es soll allerdings wohl behauptet werden, die Wich-tigkeit von Sozialität werde nicht genug von ihm herausgestellt. Frei-lich trifft dies nicht gleichermaßen auf andere Proponenten des geneti-schen Strukturalismus zu. So heißt es etwa bei Kohlberg, „daß die mo-ralische Entwicklung desto schneller verläuft, je mehr soziale Stimu-lation stattfindet“ (Kohlberg 1974: 109, zit. n. Garz 1996: 32).36 Auch in den Arbeiten Gilligans sieht man eine andere – und zwar prinzipiell andere – Akzentuierung (s. Abschnitte 3.4 und 3.5).

36 Daß diese Aussage allerdings durchaus ambivalenten Charakter in bezug auf die Rolle von Sozialität für die Entwicklung hat, dürfte augenfällig sein.