14. Januar 2015
U. PFISTERIndustrialisierung im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert
Industriearbeiter(innen)
Arbeitsalltag — proletarische Lebensverhältnisse
Wandel des Charakters von Arbeit
Verlagerung aus der Hauswirtschaft
Mit Fabriken, die von Unternehmern geführt wurden, verringerte sich die Bedeutung der Tätigkeit in der Hauswirtschaft zugunsten der außerhäuslichen Erwerbsarbeit
D. h. Menschen arbeiteten vermehrt außerhalb des Haushalts, nämlich in der Fabrik, um einer Erwerbsarbeit für die Erzielung eines Einkommens nachzugehen
Zwar bestanden schon vor der Industrialisierung außerhäusliche Arbeitsmärkte für Unterschichten
Baugewerbe
landwirtschaftliche Lohnarbeit (Taglohn)
… aber gewerbliche Exportindustrien waren überwiegend Hausgewerbe
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Wandel des Charakters von Arbeit
Aufgabenorientierung vs. abstrakte Arbeitsbemessung I
Aufgabenorientierung in der vorindustriellen Hauswirtschaft
Arbeit war auf die Erledigung von Aufgaben ausgerichtet, die überwiegend mit der Befriedigung der Bedürfnisse der Hausbewohner(innen) in Beziehung standenz. B. Nahrungsmittelproduktion und –konservierung)
Aufgaben, die zur Erzeugung von Marktgütern führten, existierten, füllten aber nur einen Teil der häuslichen Arbeit (z. B. Eier, Milchprodukte, gewerbliche Erzeugnisse) Hauswirtschaftliche Arbeit unterlag einer Subsistenzorientierung
Eigenproduktion
Arbeit dient nur der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse (»Notdurft«) → Lagen keine Aufgaben vor, wurde der Muße gepflegt
Nutzenorientierung
Arbeitseinsatz nach Maßgabe des Nutzens für die Erweiterung von Konsumchancen Möglicherweise Aufkommen im Umfeld der Fleißrevolution
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Wandel des Charakters von Arbeit
Aufgabenorientierung vs. abstrakte Arbeitsbemessung II
Abstrakte Arbeitsbemessung
Mit der Ausdehnung außerhäuslicher Erwerbsarbeit unterlag der Arbeitseinsatz zunehmend abstrakter Messung, insbes. nach Uhrzeit
Z. B. Ausrichtung nach Bahnhofsuhr als Kompromiss im Kampf um Zeit zwischen Arbeitern und frühindustriellen Unternehmern
Arbeiter(innen) kontrollierten das Ergebnis ihrer Arbeit nicht mehr, sie verfügten nicht über die Produktionsmittel
Maschinen (bzw. das Erfordernis der Koordination der Verwertung mechanischer Energie) gab den Arbeitsrhythmus vor
(Marx: »Entfremdung«)
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Wichtige Varianten von Industriearbeit
Gelernte vs. ungelernte Arbeit
ungelernte Arbeitskräftez. B. Textilindustrie, Chemie Gelernte Fabrikarbeiter
insbes. Dreher, Schlosser in Metall- und Maschinenindustrie
Im Vergleich zu ungelernten Arbeitern deutlich bessere Chancen, sich der Lebenshaltung der städtischen Mittelschicht anzunähern
Industriestruktur
Monostrukturen wie im Ruhrgebiet (Bergbau) erschwerten die Entstehung von Beschäftigungsangeboten für Frauen
Siedlungsstruktur
In StädtenDurchsetzung der Etagenwohnung ausgeprägte Wohnungsnot
in zerstreuten Industrieagglomerationen (z. B. Ruhrgebiet)
… wegen fehlendem Wohnungsmarkt Bau von Werksiedlungen, die auch Gartenbau und Kleinviehhaltung ermöglichten
Fabrikdisziplin und Fabrikordnungen
Alfred Krupp 1883: »Wir können nur prosperieren bei militärischer Ordnung und steter Kontrolle, die durch Bestimmungen für alle Zeiten eingeführt werden muß.«
Mit dem Anwachsen der Betriebsgröße Verbreitung förmlicher Fabrikordnungen in den einzelnen Unternehmen als Substitut für die Organisation der Arbeit im Rahmen überschaubarer Primärgruppen (insbes. Familie).
Insgesamt wiesen die Fabrikordnung einen von der Arbeiterpresse vielfach denunzierten Herrschaftscharakter auf
Ab den 1890er Jahren Einhegung der Reichweite von
Fabrikordnungen in Unternehmen durch die staatliche Sozialpolitik
So wurden mit der Novellierung der Gewerbeordnung 1891 zahlreiche bisher übliche Bestimmungen illegal: z. B. Verbot sozialdemokratischer Betätigung; Ausschluss von Gerichtsverfahren gegen Vertragsparteien; Denunziation von Arbeitskollegen 14.01.2015 Industrieller Arbeitsalltag — proletarische Lebensverhältnisse 6Inhalte von Fabrikordnungen: Beispiele
Die gewöhnliche Arbeitszeit ist von 6 Uhr Morgens bis 7 Uhr Abends festgesetzt. Als Ruhe- und Eßzeit wird Morgens von 8–8 ½ Uhr, Mittags von 12–1 Uhr, Nachmittags von 4–4 ½ Uhr festgesetzt.
Hilgers Verzinkerei und Kesselschmiede, Rheinbrohl 1874
Beim Zeichen mit der Fabrikpfeife muß jeder Arbeiter seine Arbeit beginnen. Zehn Minuten nach dem Signal wird Niemand in Fabrik hineingelassen. Wer innerhalb der 10 Minuten zu spät kommt, zahlt 1 S[ilber]gr[oschen] Strafe.
Schichau’sche Maschinenfabrik 1874
Zusammenstehen Mehrerer bei den Abtritten, auf den Treppen und Höfen, sowie alles Lärmen und Zanken unter dem Arbeits-Personal ist nicht geduldet.
Papierfabrik 1871
Die Meister oder andere hiezu angewiesene Personen sind befugt, jeden Arbeiter beim Ausgang aus der Fabrik oder so oft sie es für nöthig erachten, zu untersuchen, um etwaigen Diebstahl zu entdecken.
Jedermann hat sich dieser Visitation zu unterwerfen.
Mechanische Buntweberei Elsas & Söhne, Ludwigsburg 1874
Das dem Arbeiter überlieferte Handwerkszeug hat derselbe auf seinem Platze gehörig zu ordnen und zu verschließen, auch auf Verlangen jederzeit einer Controle zu unterwerfen. Der Arbeiter wird dafür verantwortlich gemacht, das jedes Stück (excl. Der Feilen) mit der Nummer seiner Marke gezeichnet ist.
Hannoversche Maschinenbau-Actien-Gesellschaft 1871
Alle Stellen aus: Machtan, Lothar: »Zum Innenleben der deutschen Fabriken im 19. Jahrhundert: ...,«
Archiv für Sozialgeschichte 21 (1981), 179–236, hier S. 197–200.
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Hauptsächliche Inhalte von Fabrikordnungen
Arbeitsvertragliche Rahmenbedingungen
Achtung der Befehlsgewalt der Vorgesetzten und der Fabrikordnung; Regelung der Kündigung
Ökonomie der Zeit
Bestimmungen zu regulärem Arbeitsbeginn, Arbeitsende, Pausen, Überstunden. In diesem Zusammenhang öfters Verbot von spontanen Pausen sowie Umherstreifen im Betrieb
Ökonomie der Arbeitsgegenstände und –mittel
Problem der Beschädigung und Veruntreuung bzw. des temporären »Ausleihens«
von Arbeitsinstrumenten für den Eigengebrauch als Widerstandsstrategie Regelung des Arbeitsflusses insbes. in komplexen Herstellungsprozessen (z. B.
Maschinenindustrie)
Strafkataloge
empfindliche Bussen insbesondere für Verletzung der Zeitökonomie, schlechte Arbeit
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Informelle Kontrolle und Motivierung von Arbeitskräften
Bemerkenswerterweise regelten die Fabrikordnungen die konkrete Arbeitsverrichtung kaum.
Wichtige Instanzen von Kontrolle, Ausbildung und Motivation waren … (1) Vorarbeiter
(2) Familie
Oft stellten frühindustrielle Industrieunternehmen verwandte Personen als Arbeitsgruppe ein
(3) Arbeiterstammpolitik
Um Arbeitskräfte zum Verbleib im Unternehmen (vermutlich hohe Fluktuationsraten!) und zu guter Arbeit motivieren, entwickelten Unternehmen v. a. ab dem 3. Viertel 19.
Jh. Dienstleistungen, die an die Beschäftigung im Unternehmen geknüpft waren
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Hauptelemente der Arbeiterstammpolitik
Unternehmenseigene Läden (»truck shops«)
Unternehmen bezahlten Arbeitskräfte z. T. in Schuldscheinen, die zu Einkäufen im fabrikeigenen Laden verwendet werden konnten
Werkssiedlungsbau
In rasch wachsenden Fabrikorten, v. a. solchen außerhalb traditioneller Siedlungsballungen, stellten Unternehmen Wohnungen zur Verfügung
Wohnungen in Zechenbesitz im Ruhrgebiet: 1873 5500, 1893 10500, 1901 26500, 1914 82800 Dadurch erreichte Mietsenkungen erlaubte das Zahlen niedriger Löhne
Kündigung zog den Verlust der Wohnung mit sich Kranken-, Pensions- und Sparkassen
In Preußen 1854 Kassengesetz, das Beitragspflicht von Arbeitgebern für Unterstützungskassen im gewerblichen Sektor vorschrieb
Zwecks Arbeiterstammbildung errichteten im 3. Viertel 19. Jh. viele Unternehmen betriebseigene Kranken-, Pensions- und Sparkassen
Bei Wechsel des Arbeitsplatzes konnten abgesehen von Spareinlagen die bezahlten Prämien bis in die 1890er Jahre meist nicht übertragen werden
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Die Family wage economy in den industriellen Unterschichten
Zwar ging mit der Ausbreitung außerhäuslicher Erwerbsarbeit verlor die Arbeit im häuslichen Familienverband in den Unterschichten an Bedeutung
Ausnahmen: Gartenbau und Kleinviehhaltung v. a. in Werksiedlungen und ländlichen Industriegebieten
Dies bedeutete aber nicht, dass der Familienverband an Bedeutung gegenüber verlor, vielmehr erhielt er durch die Industrialisierung zum Teil neue Funktionen
Family wage economy: Die Arbeitskraft wurde zur Erzielung des zum
Überleben im Verband erforderlichen minimalen Einkommens gepoolt Frühe Industriestandorte wiesen vergleichsweise hohe
Haushaltsgrößen auf
Z. B. Preston (Textilstadt in Nordengland) 1851: 5,4 Personen pro Haushalt (der langjährige englische Durchschnitt liegt unter 5)
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Familienfunktionen
in der industriellen Unterschicht im 19. Jahrhundert Altersversorgung
Bis ins frühe 20. Jh., d.h. mit wachsender Lebenserwartung und solange Leistungen staatlicher Altersrenten noch gering waren, nahm die Häufigkeit der Koresidenz von Ehepaaren mit Eltern zu
Umgekehrt war es im 19. Jh. für ältere Menschen im Vergleich zu früher und später schwierig einen eigenen Haushalt zu führen (→vermutlich im Zuge der Industrialisierung steigende Verbreitung von Altersarmut)
Unterstützung der Ehefrau
Mit der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit von Frauen nahm deren Bedarf an Hilfe insbes. bei der Kinderbetreuung zu
Z. T. im Haushalt lebende ältere verwandte Frauen übernahmen z. T. gegen Bezahlung diese Funktion
Familie als Arbeitseinheit
In der Textilindustrie war bis mindestens in die 1850er Jahre, im Ruhrkohlebergbau bis in die 1890er Jahre die Familie (teilweise mit Kindern) bzw. die
Verwandtschaftsgruppe zentrale Arbeitseinheit, da Arbeitsverträge z. T. mit Familienoberhaupt für einen ganzen Arbeitsverband (von 4–7 Personen) geschlossen wurden
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Die family wage economy als Poolen von Arbeitskraft
in der frühen Textilindustrie
„Männer oder verwitwete Mütter brachten ihre Familien nach Manchester, Preston [ebenfalls Lancaster] und später nach Roubaix [Nordfrankreich]. Manchmal ließen sie sich als Familieneinheit einstellen. Die familiale Arbeitseinheit wurde schlicht vom Hof oder von der Hausindustrie in die Fabrik überführt. Manchmal schloss ein Vater einen Vertrag mit einem Fabrikbesitzer, gemäß dem er den Lohn für die eigene Arbeit und diejenige seiner Kinder erhielt. Manchmal arbeitete die Familie tatsächlich als Gruppe, manchmal waren sie über die Fabrik zerstreut. In beiden Fällen wurden sie als Gruppe betrachtet und verstanden sich auch selber als solche. […]
In John Howletts Vertrag mit der Fabrik von Greg and Sons in den 1830er Jahren versprach der Arbeitgeber Howlett im ersten Jahr pro Woche 24 Schilling und im folgenden Jahr 27 Schilling zu bezahlen. Die Aufteilung der 24 Schilling gestaltete sich wie folgt:“
14.01.2015 Industrieller Arbeitsalltag — proletarische Lebensverhältnisse 13 Alter Schilling / Pence
John Howlett 38 12 / -
Mary Ann 16 4 / 6
Ann 14 3 / 6
Celia 12 2 / 6
Timothy 10 1 / 6
Total 24 / -
Aus: Tilly, Louise A. und Joan W. Scott:
Women, work and the family, New York:
Holt, 1978, S. 112.
(Ergänzung: auf folgender Seite analoge Aufstellung, in der eine 18jährige Tochter 6 Schilling (also die Hälfte des Vaters) und ein 12jähriger Junge 3 Schilling verdiente.)
Familie und Kettenwanderung
Definition Kettenwanderung
Migration stützt sich auf Netze unter Verwandten bzw. Bekannten aus Herkunftsregion, da Information über Arbeitsmarkt und Wohnmöglichkeiten in der Zielregion am Herkunftsort schwer zu erhalten sind
Das Konzept erklärt, weshalb Einwanderer in einem Ort oft von derselben Herkunftsregion kommen
Immigration aus Oberschlesien ins Ruhrgebiet um 1900 (Deutsche) Amerikaauswanderung im 19. Jh.
Am Zielort lebten junge Zuwanderer oft zuerst einige Zeit als Inwohner/Kostgänger in den Haushalten Verwandter
Z. B. Tilburg (Textilstadt im niederländischen Brabant, 2. Hälfte 19. Jh.): Haushalte beruflich erfolgreicher Immigranten wiesen überdurchschnittlich zahlreiche Verwandte auf
Diese Koresidenz mit Verwandten bildete für Migranten eine wichtige Etappe des Einstiegs in den Arbeitsmarkt
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Soziale Rekrutierung der industriellen Arbeiter(innen)schaft
Proto-industrielle Unterschichten
In Gebieten mit vorausgehender proto-industrieller Entwicklung stellten Heimarbeiter(innen) ein wichtiges Rekrutierungsfeld dar
Textilindustrie: insbes. Frauen und Kinder
Rolle von technologisch bedingter Arbeitslosigkeit als Zwang zur Aufgabe der Heimarbeit zugunsten der Fabrikarbeit
Zuwanderung aus agrarischen Gebieten
Bis ins 3. Viertel 19. Jh. dominierten regionale Wanderungsnetze; die Wanderung zu Industriestandorten setzte auf traditionellen, oft saisonalen Wanderungsmustern ländlicher Unterschichten auf
z. B. von Ostwestfalen ins Ruhrgebiet
Erst mit der Strukturkrise der europäischen Landwirtschaft ab den 1880er Jahren setzten Fernwanderungen ein
z. B. m Ruhrgebiet aus den östlichen Provinzen Preußens, aus Italien
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Berufsverläufe in der frühindustriellen Arbeiter(innen)schaft
Arbeit und Lebenszeit: Bis ins späte 19. Jh. war Industriearbeit oft noch keine lebenslange Arbeit
Heimgewerbe und Fabrikarbeit konnten sich phasenweise ablösen
viele Ehepaare trachteten danach, einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb zu erwerben und somit von der Industrie wieder in die Landwirtschaft zu wechseln
Aufstiegschancen
Wo un- und angelernte Arbeit dominierte (z. B. Kohle, Textilindustrie) und starke Zuwanderung in Expansionsphasen mit hohen Fluktuationsraten einhergingen, waren die Chancen zum Aufstieg in die städtische Mittelschicht sehr gering
z. B. Bochum um 1900 12%
Unter gelernten Arbeitern waren die Aufstiegschancen besser waren Z. B. Esslingen 2. Hälfte 19. Jh. (Maschinenindustrie): ca. 40%
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Industrielle Unterschichten als Innovatoren des Konsums
Mit dem Geldeinkommen aus protoindustrieller oder Fabrikarbeit schob sich der Markt zwischen Produktion und Bedarfsdeckung
die gewerblichen Unterschichten wurden zu wählenden Konsument(inn)en
gewerbliche Arbeitskräfte spielten deshalb eine wichtige Rolle bei der Verbreitung neuer Konsumgüter
Wichtige Güter
Textilien: Baumwollkleider (vs. selbstproduziertes Leinen), bunte baumwollene Taschentücher, Seidenbänder (populuxe goods)
Brot (vs. Brei und Eintopf aus Hafer, Erbsen oder Linsen) Genussmittel: Kaffee, z. T. Zucker, Tabak, Branntwein
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Funktionen neuer Konsumgüter
Statuskonsum
Öffentlich getragene Kleider, Bohnen- (vs. Zichorien-)kaffee etc. demonstrieren hohe Verdienstkapazität; wichtig insbesondere auf dem Heiratsmarkt
Kompensatorischer Konsum
Branntwein/Korn, z. T. Tabak als betäubende Drogen dienten als Mittel, mit monotoner und entfremdeter Arbeit fertig zu werden
Basis von Soziabilität
Kaffee und Tabak waren typische Genussmittel für Pausen, um sie kristallisiert sich die Soziabilität in der Fabrik
Rasche Zubereitung
Reformer betrachteten die Ernährung der industriellen Unterschichten oft als ungesund und teuer; an Arbeiterinnen wurden wegen Fabrikarbeit bereits in der Jugend fehlende hauswirtschaftliche Kompetenz bemängelt
Einige Güter senkten Opportunitätskosten langwieriger Nahrungsmittelzubereitung (entgangener Verdienst für Frauen)
Kaffee ist ein Erreger, der rasch arbeitsfähig macht
Zucker (Marmelade nach 1850), Käse, Wurst und Brot (vs. Eintopf, Brei) sind rasche Kalorienspender
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Lebensführung im lebenszyklischen Verlauf
Esslingen 2. H.19. Jh.: Männer im Maschinenbau — Frauen in Textilindustrie Lebenshaltung wurde stark durch Lebenszyklus geprägt
(1) Sparphase bis Heirat (Männer ca. 16–28 Jahre, Frauen bis ca. 26 Jahre) Männer erlebten eine stete Steigerung der Verdienstkapazität, gleichzeitig geringe Ausgaben für Miete eines Zimmers/Betts (durchschnittlich 8%)
Zuerst Sparen für Möbel, dann Ausgaben für Kleider (nach Heirat dann sehr selten), Schmuck, Bücher (→Kritik am »Luxus« junger Menschen), zuletzt Sparen im Hinblick auf Krisenbewältigung
(2) Frühe Ehejahre (bis ca. 40 Jahre)
Mit Heirat wurden Ersparnisse für Hausrat aufgezehrt
Anwesenheit von kleinen Kindern beeinträchtigten materielle Wohlfahrt und Einkommen durch geringere Verdienstkapazität von Frauen und höhere Ausgaben für Miete und Konsum
Nur gelernte Arbeiter konnten diesen Ausfall durch höheren Lohn kompensieren
→Phase ausgeprägter Differenzierung der Arbeiter(Innen)schaft (3) Altersarmut
Spätestens ab 45 Rückgang der Verdienstkapazität
Absinken in Armut, sofern nicht Unterstützung von Kindern mobilisiert werden konnte meist Verlassen des Elternhaushalts, weil im Unterschied zum bäuerlichen Haushalt keine Beschäftigung und kein Erbe geboten wurde
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