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IV DIE NEUEPRÄVENTION DER JUGENDHILFE I-REGULATION DER SITUATION ALS URBANE

GOUVERNEMENTALITÄT JENSEITS DER JUGENDHILFE

Als ein zentrales Element der fortgeschritten liberalen Umgestaltungen im Feld des Sozialen ebenso wie im Feld der Kriminalitätskontrolle können verschiedene Formen von Strategien rekonstruiert werden, die sich als Responsibilierung ‚privater’ Akteure beschreiben lassen. Dies gilt - wie gezeigt - für den Strafvollzug im Sinne einer (‚moralischen’) Verantwortlichmachung der Täter, vor allem aber für einige an Bedeutung gewinnende prä-strafjustizielle Konzepte der Kriminalprävention. Tendenzen einer Responsibilisierung sind in Bezug auf Täter ebenso wie auf potentiellen Opfer, aber auch in Bezug auf Institutionen rekonstruierbar, die in ihrer originären institutionellen Eigenlogik nur mittelbar (z.B. Schule und bestimmte Teile der Jugendhilfe) oder gar nicht (z.B. Stadtplanung, Vereine, Kindergärten etc.) auf das Problem der ‚Kriminalität’ im engeren Sinne gerichtet sind.

Innerhalb dieser Strategien ist ein Bedeutungsgewinn von Präventionsformen festzustellen, die sich nicht nur mit Blick auf ihre funktionale Rationalität von jenen ‚fordistischen’ Modellen normalisierender Sozialdisziplinierung entfernen, die auf einer „Voreingenommenheit für die psyche Seele, Seelenleben, Bewusstsein, Vorstellungen, [sowie dem …] bürgerlichen Anspruch auf den Status einer ‚Person’“

(Bourdieu 1982: 740) als einem nicht nur performativ-äußerlich konformen, sondern auch die Ordnung inkorporierenden, selbstkontrolliertem und -identischem, ‚innengeleiteten‘ Subjekt basierten.

Sofern Strategien der sozialen Sicherung wie der Kontrolle sowie die Modelle sozialer Ordnung, auf die sie implizit oder explizit verweisen, neben Teleologien und Technologien auch einen Ethos implizieren, kann davon gesprochen werden, dass ein bedeutender Teil diskurskonjunkturell in den Vordergrund gerückten Strategien ihren ‚normativen’ Fokus von Fragen der ‚Moral’ – im Sinne der

‚Gerechtigkeitsidee’ (vgl. Horster 2002) wie der personalen Tugend (vgl. Brumlik 2001) - zu Fragen

‚technischer’ Effizienz verlagert haben. „The morality play“, konstatiert Sebastian Scheerer (2000:

250), „is over“.

Im Feld der Kriminalitätskontrolle gilt dies insbesondere mit Blick auf jene Strategien der Bearbeitung des Problems der Non-Konformität, die als ‚situative Kriminalprävention’ zusammengefasst werden.

Dabei fokussiert die präventive Agenda der Kriminalitäts-, Devianz- und ‚Disorder’- Reduzierung dieser Kontrollformen in wachsendem Maße nicht mehr nur jene technologischen Kontrollaspekte, die um die im weitesten Sinne wissenschaftlich-empirische Frage ‚Does it work?’ kreisen, sondern vor allem auch die Frage „How can we make it work quickly and cheaply?“ (Pease 2002: 965). Im Zentrum dieser Frage steht dabei der ökonomisch-pragmatische Imperativ, dass die Kosten für die Verhinderung eines Delikts niemals die Kosten des Verbrechens selbst übersteigen sollen (vgl. Lemke 1997: 251).

Die situativen Strategien der Devianzreduktion können insofern als die deutlichste kriminalpräventive Entsprechung ‚neoliberaler’ Regierungsweisen gefasst werden, wie sie explizit darauf zielen, quasi- unternehmerische Aktivitäten individualistisch repräsentierter Akteure zu maximieren, Konsumenten zu

‚empowern’ und staatlich oder professionell angeleitete Formen einer Lenkung und Steuerung durch strukturelle, quasi in der ‚Ordnung der Dinge’ implementierte Marktmechanismen zu ersetzen (vgl.

Garland 1997). Nichtsdestoweniger sind die Grundgedanken dieser ‚post-modernen’

Präventionsstrategien (vgl. Kunz 1998) keinesfalls völlig ‚neu’. Ihr epistemologischer Kern entspricht

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einer der ältesten, im (natur-)wissenschaftlichen Sinne ‚kriminologischen’ Annahmen überhaupt109: Es ist der belgische Mathematiker, Moral- und Kriminalstatistiker Adolphe Quetelet (1796-1874), der im 19. Jahrhundert die allgemeinen Entstehungsbedingungen von Verbrechen aller Art auf der Basis seiner Forschungen zur ‚Sozialen Physik’ wie folgt formuliert: Es bedarf, „um ein Verbrechen zu begehen, der folgenden drei wesentlichen Bedingungen: des Willens […], der Gelegenheit und der die Ausführung erleichternden Umstände“ (Quetelet 1921: 297).

Während dieses Modell, mit seinem – zumindest auf einer disaggregierten Ebene – immer noch impliziten Rekurs auf den rationalen ‚homo legalis’, als der diskursdominante Repräsentation der Figur Kriminellen im Frühliberalismus (vgl. Pasquino 1979, Fach 2003), und seinem Fokus auf die unmittelbaren Komponenten der Tat, im täterorientierten ‚lobrosiansischen Projekt’ der ‚Strafmoderne’

eine vergleichsweise untergeordnete Rolle gespielt hat, stehen just diese beiden Momente in den zeitgenössischen Strategien wieder stärker im Mittelpunkt.

Vor allem für die sogenannten ‚situativen’ Strategien der Kriminalprävention (vgl. v.a. Cohen/Felson 1979, Clarke/Mayhew 1980, Clarke 1995, Hindelang et al. 1978) stellen die von Quetelet formulierten Überlegungen eine zentrale heuristische wie operative Basis dar. Allerdings werden Quetelets Ausführungen in den ‚situativen’ Ansätzen dahingehend modifiziert, dass sich die Strategien pragmatisch zunehmend weniger auf den vergleichsweise schwer zugänglichen ‚Willen’ der je einzelnen Akteure richten110, sondern auf das Management situativer Gelegenheiten.

Auch wenn diese Umorientierung erkenntnistheoretisch zunächst vergleichsweise banal anmuten mag, stellt sie die Basis für ein ‚Kontrollprojekt’ dar, dass sich von den Rationalitäten der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung im politischen Keynesianismus fundamental unterscheidet (vgl. O’Malley 1992, 2001, Garland 1997, 1999, Lindenberg/Schmidt-Semisch 1995, Scheerer 1997, Schmidt-Semisch 2002, von Hirsch et al. 2000): Es bezeichnet ein Projekt zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und ihrer Verkehrsformen, das weder soziale Strukturen noch individuelle Personen fokussiert, sondern

‚Situationen’ und das heißt bereits auf einer epistemologischen Ebene jene sozialen Gebilde, die von den individualistischen Rational-Choice-Ansätze fokussiert werden (vgl. Hill 2002).

Zu diesen, als situative Ansätze charakterisierbaren Strategien gehören unter anderem:

- die ‚situational crime prevention’ (vgl. Clarke 1996) im engeren Sinne,

- davon kaum zu unterscheiden (vgl. Felson 1996: 24), die ‚CPTED’- Ansätze (crime prevention through environmental design)111, basierend auf Überlegungen zur Schaffung

109 Zur ‚Geburt der Kriminologie als Wissenschaft vgl. die Ausführungen von David Garland (2002)

110 Genauer gesagt argumentieren die Protagonisten dieses Ansatzes, dass man den ‚Willen’ bzw. die Bereitschaft eines rational-kalkulierenden Akteurs nicht dadurch reduziert, dass man Ausbeutung, Armut, Arbeitslosigkeit, Frustration, soziale Ausgrenzung und anderen Unbill, der die Akteure mit der gegebenen Logik der Ordnung unzufrieden sein lässt – und daher die Bereitschaft steigern könnte sich den Imperativen dieser Ordnung zu widersetzen – sondern dadurch, dass die Tatbegehung erschwert wird und die gegebene ‚Motivation’ damit zwar nicht ‚absolut’ aber ‚relativ’ abnimmt.

111 Mit den CPTED als Verbrechensverhütung durch die Gestaltung der Umwelt wird die Stadtplanung und -architektur als ein unmittelbarer, konstitutiver Bestandteil in die Kriminalitätskontrolle eingebunden. Im Kern geht es um Strategien „die für die Wohngebiete anstreben, auf der Ebene von ‚Nachbarschaften […] durch kombinierte Veränderungen der physischen Umwelt und des Gebrauchs dieser Umwelt durch die Bewohner eine effektive Prävention zu erreichen“ (Kube 1982: 98). Ein weiteres zentrales Moment ist das, was Crowe (2000) als ‚Territorial Reinforcement’ bezeichnet: „The use of physical attributes that express ownership, such as fences, pavement treatments, art, signage, landscaping and the placement of buildings”. Die wesentliche Annahme dabei ist das die räumlich-expressive Demonstration Eigentumsverhältnisse lassen

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‚verteidigungsfähiger Räume’ (‚defensible space’) (vgl. Newman 1972, Crowe 2000), die den potentiellen Täter aufgrund ihrer physikalisch-architektonischen Beschaffenheit (z.B. ihrer Zugänglichkeit oder Überwachbarkeit) aufgrund eines höheren (signalisierten) Misserfolgsrisikos abschrecken sollen,

- die ‚lifestyle routine’ Ansätze (vgl. Pease 1997, Felson 1996, 1998, Hindelang et al. 1978), - sowie die in diesem Kontext wiederauflebende ‚Kontrolltheorie’ (vgl. Hirschi 1969).

Im wesentlichen zielen diese pragmatischen Ansätze darauf, ein Set von vornehmlich auf ökonomische Analysen rekurrierende ‚Rezepte’ zur Verfügung zu stellen (vgl. Ekblom 2000, Pease 2002), um das Verhalten von zu Populationen aggregierten Akteuren, in einer Art und Weise zu steuern und zu kanalisieren, dass die Gesamtzahl krimineller, abweichender und anderer, unerwünschter Ereignisse an spezifischen Orten reduziert wird (vgl. Garland 2000c: 1). Situationsorientierte Kriminalprävention bezeichnet demnach im wesentlichen das absichtsvolle Design oder die bewusste Manipulation unmittelbarer sozialer und physikalischer Umwelten mit dem Ziel, auf eine möglichst systematische und dauerhafte Weise unerwünschte Handlungsweisen für potentielle Täter schwieriger, riskanter und im Sinne einer Kosten-Nutzen Kalkulation weniger lohnenswert zu machen (vgl. Hope/Sparks 2000:

174, Clarke 1997: 4 f). Konkret geht daher um eine Erhöhung der Überwachung, eine Reduzierung der kontingenten Möglichkeiten zu unerwünschten Praxisformen, sowie um eine (relative) Minimierung des ‚positiven Outputs’, der sich aus dem Gebrauch sich je zeitlich-räumlich bietender Gelegenheit ergibt. Allgemeiner formuliert: um das Management von Situationen mit dem Ziel einer Reduzierung oder Kanalisierung der Kontingenz von Risiken.

Im Gegensatz zu den personalen oder ‚entwicklungsbezogenen’ Präventionsanätzen (vgl. Farrington 2002), als den denk- und handlungslogischen Ansätzen der Jugendhilfe, interessieren sich die situationsbezogenen Strategien weder für die inkorporierten Dispositionen noch für die sozialen Positionierungen einzelner Akteure und sind entsprechend auch nicht darauf gerichtet, diese systematisch zu ändern, zu unterdrücken oder zu kompensieren. Ihre Kontrollrationalität richtet sich vielmehr auf die rekonstruierbaren Regelmäßigkeiten von Wahlhandlungen von Akteursgruppen, die als die primäre und vor allem primär bearbeitbare Ursachen des Vollzugs inkrimierter bzw. je sektoral non-konformer Handlungsweisen gefasst werden (vgl. McLaughlin 2001). Diese, so dass zentrale Argument dieser Ansätze, lassen sich am effektivsten und aufwandslosesten über die Manipulation der unmittelbaren situativen Verortung der involvierten Akteure verändern, das heißt durch Techniken und Gestaltungen von Arrangements, die es ermöglichen, dass dem potenziellen Abweichler selbst die Durchführung ‚unerwünschter’ Handlungsweisen auf der Basis seiner eigenen situativen Kosten- Nutzen-Kalkulation als unvernünftig erscheint. Kurz, die Rationalität lautet nicht die Personen, sondern die Situationen und Kontexte zu verändern (vgl. Smith 2000: 154 ff). Dies erlaubt es strategisch, statt einer aufwendigen, ‚un-ökonomischen’ und oft wenig erfolgreichen Verhaltensbeeinflussung, die sich auf die ‚gesamte Person’ richtet, relativ flexibel, spezifisch und einfach zu implementierende

den Raum als territorial geordnet und symbolisch ‚ordentlich’ erscheinen lassen und zugleich auf einer sozialpsychologischen Ebene identitätsstiftend wirken und damit die emotionale Bindung der Bewohner (Besitzer) an ihre unmittelbare Wohngegend steigern.

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Verhaltenskontrollen durch den ideologisch scheinbar indifferenten Versuch zu betreiben, Räume und Situationen zu beherrschen, d.h. eine der effektivsten Herrschaftsstrategien überhaupt einzusetzen (vgl. Bourdieu 1991), um damit Abweichungsrisiken zu beeinflussen.

Diese Perspektive stellt - auch wenn bestimmte Ansätze und Methoden in der Sozialen Arbeit für sich reklamieren, eher Situationen112 als Personen zu ändern (vgl. Meinhold 1982, Schmidt-Grunert 1999), oder ein Rollenbild des ‚environmental designer’ (vgl. Hirschhorn 1979) vorschlagen, um „situativ[e]

Bedingungen kommunaler Lebensordnungen […] herzustellen, die autonomes Klientenlernen ermöglichen“ (Japp 1989: 110) - das kontrapunktäre Gegenstück zu den Denk- und Handlungsansätzen der sozialen Dienste und zu den dispositionsbezogenen Erziehungs-, Behandlungs- und Resozialisierungsansätzen des sozialpräventiven Straf-Wohlfahrtskomplexes dar.

Nichtsdestoweniger begrüßt auch ein nicht geringer Teil der ‚linken’ und ‚liberalen’ Strafrechtskritiker diese täterabgewandten Strategien einer situativen Kriminalprävention und fordert diese schon alleine deshalb offensiv ein, weil sie eine Distanzierung von disziplinierend-sozialtechnologischen Versuchen einer Erzeugung ‚nützlicher’ und ‚guter’ Individuen implizieren. Diese Distanzierung erfolgt zugunsten einer Konzentration auf die Ereignisse selbst und auf die Potentiale für eine informelle Regulierung von ‚bedrohlichen’ Situationen, welche die ‚Autonomie’ der Subjekte nicht in Frage stellen (vgl.

Cremer-Schäfer 1998, Cremer-Schäfer/Steinert 1998, Hanak et al 1989, Sessar 1997, Steinert 1992, 1995). Auch wenn situationale Strategien demnach nicht pauschal als Teil einer neo-konservativ/neo- liberalen Agenda verstanden werden können, wird die in diesen Strategien angelegte präventionslogische und -strategische Verschiebung gegenüber den - in ökonomische und ideologische Krisen geratenen - fordistischen Rationalitäten sozialer Kontrolle auf theoretischer Ebene vor allem von den politischen rechten ‚neuen Realisten’ vorangetrieben.

Als ein diskurs-akademischer Meilenstein in der Entwicklung dieses, von defizitären Positionen und Dispositionen der Akteure weitgehend abstrahierenden, Kontrollprojekts kann die paradigmatische Arbeit ‚Thinking about Crime’ (1975) von James Q. Wilson betrachtet werden. Wilsons Ausgangspunkt ist es, dass die Kriminalitätsraten in modernen kapitalistischen Gesellschaften parallel zu einem massiven Ausbau des Wohlfahrtstaats und wohlfahrtsstaatlicher Dienste in den 1960er Jahren ein bisher unbekanntes Ausmaß erreicht hatten. Folgt man der Argumentation Wilsons, kann daraus ein generelles Scheitern des Gegenstandsbezuges, der Technologien, Strategien und Teleogien und nicht zuletzt des Ethos der ‚Wohlfahrtsideologie’ in der Kriminalitätskontrolle geschlossen werden, die entsprechend ebenso grundlegend aufzugeben sei (vgl. Murray 1984, Cohen/Felson 1979, Clarke/Mayhew 1980).

Die Bedeutung von Wilsons Werk liegt nun nicht nur darin, dass es ein Jahr nach dem Martinsons Verdikt, dass ‚nichts funktioniert’, dem Optimismus über einen resozialisierenden Strafvollzug die Basis entzogen hatte, als eine theoretische und ideologische Vorzeichnung des ‚amerikanischen Weges’

eines ‚strafenden Staates’ verstanden werden kann (vgl. Wacquant 2000). Es wird vehement die

112 Mit (sozial)pädagogischen Situationen ist jedoch etwas anderes gemeint, nämlich das Setting und Arrangement (sozial)pädagogischer Prozesse, dass sich nicht nur und nicht primär auf räumlich-physikalische Aspekte sondern auch auf

‚Situationen’ von Entwicklungsbeeinträchtigungen, Lernstörungen usw. bezieht.

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These vertreten, Gefängnisse seien mit Blick auf die Unschädlichmachung krimineller, „wicked people“

(Wilson 1975: 235) und der damit verbundenen Abschreckung effektiv und unverzichtbar.

Bedeutsamer noch als diese, zwar zur diskursiv ‚passenden’ Zeit formulierte, aber bereits in den 1970er Jahren keineswegs ‚originelle’ Hervorhebung der Unschädlichkeitsmachungs- und Abschreckungseffekte des Gefängnisses (vgl. Zimering/Hawkins 1973) ist es, dass Wilson eine offensive Umorientierung der Kriminalpolitik an Kosten-/Nutzen-Kalkülen und gezielten Risikominimierungsstrategien propagiert und dabei den systematischen Ausgangpunkt für eine fortgeschritten liberale ‚Wiederentdeckung’ der utilitaristischen Philosophie legt, wie sie etwa durch Cesare Beccaria, Jeremy Bentham und John Howard von der ‚klassischen Schule’ des 18. Jahrhunderts vertreten wird113. Ungeachtet der Entsprechungen zwischen dem ‚homo legalis’ der klassischen Straftheorie und dem ‚homo oeconomicus’, als ‚situational man’ einer vor allem durch Wilson eingeleiteten114, neo-konservativ/‚neo-liberalen Kriminologie, besteht ein entscheidender Unterschied darin, dass mit der klassischen Straftheorie zuvorderst eine utilitaristische Philosophie des Rechts entwickeltet wurde, während die Anthropologie der ‚neuen Realisten’ primär auf dem Prinzip der

‚expected utility’ der ökonomischen Theorie basiert (vgl. Akers 1997, Roshier 1989, Westmarland 2001).

Genau diese Figur in Wilsons vielzitiertem Werk kann als ein frühes Diskursereignis einer grundlegenden Veränderung der Repräsentation des Kriminellen (vgl. Melossi 2000) im Sinne einer fortgeschritten liberalen Reaktualisierung seiner klassizistischen Repräsentation betrachtet werden.

Die damit grundgelegte Sichtweise auf den Abweichler als ‚reasoning criminal’ (vgl. Cornish/Clarke 1986) fortführend, prägen die ‚neuen Realisten’ vor allem seit den 1980er Jahren den kriminologischen wie kriminalpraktischen Diskurs in nahezu allen fortgeschritten liberalen Gesellschaften (dazu Downes/Rock 1998, Loader/Sparks 2002). Die explizit auf den situativen Handlungsmodellen der neo-klassischen Ökonomie (vgl. Becker 1976) aufbauenden, situativen Strategien der Kriminalprävention gehören inzwischen zu den, in allen nach-keynesianischen Gesellschaftsformationen, am schnellsten expandierenden Kontrolltechniken und -stilen (vgl. O´Malley 1992, Hughes 1998, Kerner/Weitekamp 2001, Schneider 2000, Schwind 2002, Young 2001).

Obwohl der Aufstieg und ‚Erfolg’ dieser Kontrolltechniken keinesfalls primär ihrer empirischen Überzeugungskraft geschuldet ist115 und - vor allem in Bezug auf die Verabschiedung dieser Strategien

113 Im Gewissen Sinne steht Wilsons Werk für eine konservative Variante ‚neoklassischer Ansätze’,die von den in klassisch liberalen, stärker moralphilosophischen als ‚kriminologischen’ Werken enthaltenen aufklärerisch-humanistischen Kritik menschenunwürdiger Strafen weitgehend absieht. (Zur kritischen Würdigung Wilsons aus der ‚just desert’- Perspektive vgl.

von Hirsch 1996, zum systematischen Bezug auf ‚neo-realistischer’ Theorien auf die klassischen Theorien siehe auch Gottfredson/Hirschi 1990)

114 „It is not the case (expect for a tiny handful of pathological personalities)” so führt Wilson (1975: 142) aus, „that criminals are so unlike the rest of us as to be indifferent to the costs and benefits of the opportunities open to them”.

115 Jenseits der Behauptungen ihrer Protagonisten (vgl. Clarke 1995) ist die empirische Wirksamkeit und Effizienz dieser Ansätze keinesfalls unstrittig, und folgt man dem Sherman-Bericht größtenteils unter der Kategorie „unknown“ einzuordnen (vgl. Eck 1997: 50f). Dies gilt insbesondere für die Kernannahme einer rationalen Kalkulation des Nutzes durch den Abweichler: „[E]mpirically varified models in the literature […are] based on the assumption of fairly minimal level of rationality“ (Akers 1997). Wie beispielsweise Tunnells (1990: 680f) Untersuchung in Bezug auf die situativen Handlungsweisen der „Abweichler“ bei Eigentumsdelikten feststellt: „The decision-making process appears not to be a

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von Fragen der ‚Verbesserung sozialer Verhältnisse’ wie von den Versuchen des ‚Verstehens’ der Abweichler - nicht jenseits ihres ‚ideologischen’ Hintergrunds, nämlich dem Stand der ebenso sozio- moralischen wie politischen Auseinandersetzung um die Dominanz einer neo-konservativ/neo-liberalen oder am Ideal sozialer Gerechtigkeit ausgerichteten Agenda (vgl. O’Malley 1992, 1996a, 1999), verstanden werden kann, sind diese Anätze auch eine ‚rationale’, pragmatische Konsequenz der Falsifizierung - zumindest aber einer Desillusionierung über die kontrolltechnologische Nützlichkeit - einer ganzen Reihe kriminalitätsätiologischer Annahmen (vgl. Karstedt 1996, Karstedt/Greve 1996, Sessar 1997). Die pragmatisch orientierte ‚administrative Criminology’ (vgl. Young, 1986) bemängelt in diesem Kontext nicht nur die ungenügende Effizienz formeller Strafen und des Kriminaljustizsystems, sondern kann - da sie sich strategisch, auf der Basis eines manageriellen

‚Kontrollrealismus’, auf möglichst effektive, effiziente und ökonomische Möglichkeiten zur Veränderung bzw. Reduzierung jener Gelegenheiten konzentriert, die die Umwelt einer modernen kapitalistischen Gesellschaft einem potentiellen Rechtsbrecher bietet - an eine ganze Reihe von Forschungen, Einsichten, Paradigmen und Prämissen, wie etwa der Ablehnung einer besonderen ‚moralischen Qualität’ der Abweichung - der interaktions- und ‚kontingenztheoretisch’ (vgl. Kreissl 1996) argumentierenden Fraktionen einer ‚kritischen Kriminologie’ und Sozialwissenschaft anschließen. Die den ‚Situationsansätzen’ epistemologisch zu Grunde gelegte Rational-Choice Theorie, so Ken Pease (2001: 236), einer ihrer zentralen Protagonisten, „frees us from considering pathologies of offender motivation. It should find favour with many of those opposed to the demonizing of offenders as

‚different’”. Als wissenschaftliche Basis für den ideologisch-symbolischen wie strategischen Durchbruch der ‚situational approaches’ im Kontext des ‚neuen Realismus’ können vor allem folgende Erkenntnisse betrachtet werden:

- Es gibt keinen Beweis für einen signifikanten Effekt einer strafrechtlichen Abschreckung auf Kriminalitätsraten.

- Weder eine Erhöhung der polizeilichen Ressourcen noch die Verbesserungen der Polizeitaktiken oder der vermehrte und intensivere Zugriff durch die Soziale Arbeit und andere Psy-Diszipline haben nennenswerte Auswirkungen auf die Kriminalitätsrate.

- Behandlungsprogramme, die auf eine dispositionale Veränderung der Täter zielen, sind, vor allem in Relation zu dem betriebenen Aufwand, im Prinzip unproduktiv.

- Der Versuch einer Zurückdrängung der Kriminalität durch soziale Reformen ist gescheitert. Es gibt keinen eindeutigen empirischen Beweis für eine messbare Reduzierung von Kriminalität durch wohlfahrtsstaatliche Reformen. In erster Linie jedoch erscheinen wohlfahrtsstaatliche Strategien unter marktgesellschaftlichen Bedingungen nicht nur als eine technologisch unrealistische, sondern vor allem als eine nicht zweckrationale Möglichkeit für eine ‚freie Gesellschaft’ (vgl. Bratton et al. 1998, Clarke/Mayhew 1980, Clarke 1996, Cohen/Felson 1979, Felson 1998, Felson/Clarke 1998, Gottfredson/Hirschi 1990, Wilson 1975).

matter of rational evaluation or calculation of benefits and risks [… . R]isks (1) are thought about only rarely or (2) are considered minimally but are to put out of their minds”.

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Zusammengenommen lautet das Argument, dass eine (soziale) Ätiologie der Kriminalität zwar möglicherweise rekonstruierbar, aber technologisch uninteressant oder nicht bearbeitbar ist (vgl.

Young 1994) oder, radikaler formuliert, dass der wesentliche Teil der ‚tieferliegenden’ Ursachen von Kriminalität selbst in den situativen Gelegenheit begründet liegt und nicht in Personen, sozialen Strukturen oder gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen zu verorten ist (vgl. McLauglin 2001a:7):

„Reducing the rewards [,nach denen der ‚reasoning criminal’ strebt] is akin to eliminating the root causes of crime“ (Felson 1998: 358).

Die ‚Irrelevanz der Ätiologie’ gilt vor allem in Bezug auf die inkorporierten Dispositionen des individualisierten, empirischen sozialen Akteurs, deren Bearbeitung die Basis der Normierungs- und Normalisierungsarbeit psychologischer und psycho-sozialer Dienste ist und die auch den Ansatzpunkt der ‚konstruktivistischen’ und etikettierungstheoretischen Kritik an der Sozialen Arbeit als Disziplinierungsagentur darstellt (vgl. Bettmer 2001, Brumlik 1989, Peters 1995, Plewig 1986).

Pointiert formuliert wird der Delinquent aus der Perspektive ‚situationsbezogener’ Strategien in epistemologischer Hinsicht zu dem, was auch die anti-ätiologische, ‚täterabgewandte’ Kriminologie, Soziologie und Sozialpädagogik - in ideologiekritischer Absicht - aus ihm machen wollten (vgl. Peters 2001, G. Albrecht 2001, kritisch: Brumlik 1998, Scherr 2001): eine „fading category of knowledge”

(Scheerer 1998: 425).

Die vor allem von der Nachkriegszeit bis Anfang der 80er Jahre zumindest in Westeuropa nahezu uneingeschränkt dominanten Ansätze (vgl. Hughes 1998, Garland/Sparks 2000, Garland 2001) sind relativiert worden durch Diskurse und Ansätze, die darauf basieren, die Suche nach den ‚tieferen’

gesellschaftlichen Ursachen von Kriminalität als wenig erfolgreiche akademische Sophistereien abzulehnen („Do not worry about academic theories…“, lautet etwa die Aufforderung von Marcus M.

Felson [1998: 166]). Demgegenüber wird betont, dass die Charakteristika der Gelegenheiten und situativen Umstände des Vollzugs devianter Handlungsweisen empirisch valide und reliabel rekonstruiert und auf der Basis dieses Wissens handlungspraktisch kontrolliert bzw. gemanaged werden können („…just go out and gather facts about crime from nature herself“[ Felson 1998: 166]).

Das Interesse hat sich damit von der Frage nach ‚Ursachen’ von ‚Kriminalität’ zur Frage der räumlichen Kontexte der Tat verschoben (vgl. Gestring et al. 2003). An die Stelle der Versuche das individuelle Verhalten zu ändern treten dabei, „actuarial surveillance and compliance regimes [attempting to] alter the physical and social structure in which individuals behave“ (Cohen 1994: 73).

Der einzelne Akteur wird in dieser Perspektive seines ‚Sozialcharakters’, ebenso wie seiner sozialen Positionierung, seiner biographisch verinnerlichten Geschichte und selbst seinen aktual inkorporierten Dispositionen ‚entkernt’. In dem Maße wie jedoch die Idealfigur eines normgeleiteten ‚homo moralis’

bzw. eines in die soziale Ordndung existenziell eingebundenen ‚homo sociologicus’116 (Dahrendorf

116 Der ‚homo sociologicus’ reflektiert – in einer vergleichsweise ‚individualitäts’-, ‚freiheits’- und ‚autonomie’-blinden Form - die soziokulturelle Persönlichkeit eines sozialisierten Akteurs als Inhaber vorgegebener sozialer Positionen (vgl. kritisch Haug 1994). Der ‚homo sociologicus’ handelt gleichzeitig ‚intentional’ (subjektiver Sinn) und ‚nomozentrisch’ (vgl. zu dieser Figur auch Durkheim 1976, Weber 1980, Parsons 1954). Dem ‚homo oeconomicus’ wird hingegen idealtypisch eine vollkommene Informiertheit und vollkommene Voraussicht innerhalb einer ex ante gegebenen Präferenzordnung unterstellt, innerhalb der er als atomistischer Einzelner seine Handlungs- respektive Produktions- und Konsumtionsentscheidungen mit

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1974) durch die Figur eines ebenso ‚freigesetzten’ wie geschichtslosen, den je situativen Nutzen kalkulierenden ‚homo oeconomicus’ (vgl. Weale 1992, Elster 1990) ersetzt wird – und dies geschieht schon alleine weil, wie Johannes Berger (1999: 309) ausführt, eine Nutzentheorie gar nicht in der Lage ist, die „Dimension des Sozialen“ zu erfassen -, verlieren auch Kontrollinterventionen an Bedeutung, die auf eine „Integration der gegen- und auseinanderstrebenden Bestandteile des

‚psychischen Apparats‘ (Sigmund Freud) Individuum“ (Scheerer 1997: 15) gerichtet sind. Pointiert formuliert: Der ‚traditionelle’ Kontrollblick der Sozialen Arbeit ebenso wie anderer psychosozialer Professionen, Dienstleistungen und Disziplinarinstitutionen auf ihre Adressaten – sei es ‚Hilfe’ in unterschiedlichen Lebenslagen und -situationen, sei es ‚Erziehen’ oder ‚Strafen’ (vgl. Müller 2001) - wird im Kontext ‚situationsorientierter’ Kriminalprävention zunehmend irrelevant.

Wenn es die Gelegenheiten, d.h. die ‚passenden’ Objekte und Ziele seines Begehrens sind, die den als logisch unabhängig von seinen sozialen Eingebundenheiten kalkulierenden Rationalegoisten rekonstruierten Akteur dazu veranlassen, sich über Normen hinwegzusetzen, wird Kriminalität „zu einer ganz normalen Lebensform […,] da jeder Zeit seines Lebens auf lohnenswerte Ziele treffen wird, die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung durch abweichendes Verhalten versprechen“ (Karstedt/Greve 1996: 181) - „not as a crime but as an outcome117“ (Felson 1998: 3).

Während die situationsorientierten Choice-Ansätze einerseits eine Grundneigung zu Delikthandlungen -„[which] merely respond, with the standard-issue degree of rationality, to the mix of temptations and controls involved in specific situations“ (Garland 1999: 355) - als ein Ergebnis und Teil der conditio humana in modernen Gesellschaften rekonstruieren (vgl. Felson 1998, Karstedt/Greve 1996), lässt es sich bei näher Betrachtung dieser täterabgewandten Theorien und Strategien (vgl. Schmidt-Semisch 2002) kaum bestreiten, dass auch sie in Wirklichkeit nicht einfach eine ‚Kriminologie ohne Täter’

(Sessar 1997) darstellen, sondern selbst ihren prototypischen ‚Verbrechermenschen’ (Strasser 1984) besitzen, obwohl auch dieser nicht als ein aus sozialen, psychologischen oder biologischen Gründen pathologischer, sondern als ein ationale Akteur gefasst wird. Dies ist nicht die einzige Besonderheit, die den impliziten ‚uomo delinquente’ (Lombroso 1876) der Choice-Ansätze gegenüber allen anderen Figuren kriminologischer Defizittheorien auszeichnet. Das eigentlich Originäre der situativen Choice- Strategien besteht darin, dass ihr Idealtyp des rationalen Abweichlers nicht als die Ursache für Kriminalität verstanden und daher auch nicht als Ansatzpunkt einer täterzugewandten Form der Kontrolle gilt, sondern im Gegenteil selbst eine täterabgewandte Kontrollrationalität evoziert. Auf der Ebene der Individuen ist der Verbrechermensch der situationsorientierten Ansätze ein Akteur mit

‚niedriger Selbstkontrolle’ bzw. geringen ‚deferred gratification patterns’, wie ihn Michael Gottfredson und Travis Hirschi (1990) in ihrer - explizit als Choice-Ansatz verstanden - ‚General Theory of Crime’

skizzieren. Wesentlich ist, dass Gottfredson und Hirschi weder die Akteure noch ihre Handlungen als

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dem Ziel individueller Nutzenmaximierung auf der Basis rationaler Kalküle trifft. (Zum unterschiedlichen Verhalten ‚beider’

Akteure im Kontext sozialer Kontrolle vgl. auch Wiese 1994)

117 Konsequenterweise erscheit es aus dieser Perspektive auch überflüssig zwischen „Arten der Abweichung“ (Peters 1995) zu unterscheiden. Bezogen auf die grundsätzliche Wahlhandlung als Kosten-Nutzenkalkulation zur Befriedigung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse gibt, wie Gottfredson und Hirschi (1990: 256) in ihrer allgemeinen Theorie der Kriminalität ausführen, beispielsweise keinen Unterschied zwischen Vergewaltigung und betrieblichem Insiderhandeln.

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pathologisch oder irrational interpretieren, sondern als Akteure denen es - wie allen anderen Akteuren auch - um die optimale Befriedigung ihrer Bedürfnisse und den größtmöglichen Gewinn aus ihren Handlungen geht. Der Unterschied zum ‚konformen Akteur’ besteht darin, dass sich die prototypischen

‚Verbrechermenschen’ von Gottfredson und Hirschi gerade dadurch auszeichnen, ihre rationalen Entscheidungen stärker als die anderen Akteure auf eine schnelle und unmittelbare Befriedigung auszurichten. Sie reagieren weniger langfristig geplant und d.h. noch direkter auf situative, äußere Stimuli (Gelegenheiten), als Akteure mit ‚hoher Selbstkontrolle’. Obwohl Gottfredson und Hirschi damit korrespondierend zu den traditionellen positivistisch-ätiologischen Devianztheorien eine ‚intrinsische’

Unterscheidbarkeit118 zwischen den ‚konformen’ und den ‚abweichenden’ Akteuren konstruieren, wird im Gegensatz zum ‚lombrosianischen Projekt’ der Strafmoderne, gerade in Bezug auf diese Besonderheit des Verbrechermenschen eine Strategie impliziert, die, statt einer Einwirkung auf das Individuum als Individuum, auf die pragmatische Rationalität eines täterabgewandten Managements von Gelegenheitsstrukturen verweist. Vergleichbar mit der ‚klassischen’ Kontrolltheorie, wie sie Travis Hirschi (1969) zur Erklärung konformen Verhaltens entwickelt, geht es bei diesen Strategien im Kern um wenig mehr, als um die Etablierung massiver Kontrollen119 um diese Akteure - als (zu) kurzfristig kalkulierende ökonomische Subjekte - dadurch im Zaum zu halten, dass dafür gesorgt wird, dass die erwarteten Kosten der Non-Konformität, besonders in kurzfristiger, je situativer Hinsicht, relativ höher sind als ihr erwarteter Nutzen.

Die auf die Kontexte der (potentiellen) Tat gerichteten situativen Präventionsansätze sind entsprechend nicht darauf gerichtet, den ‚Fall’ des Delinquenten zu durchleuchten. Die besonders für die Strategien sozialer Dienste wesentlichen - ebenso wohlfahrtspräventiven wie sozialtechnologisch inspirierten - Fragen, wie ‚Wer bist du?’ ‚Wie bist du?’ ‚Warum bist du?’ und so fort (vgl. Garland 1985:

121), verlieren daher an Relevanz. Aber auch die ‚klassisch liberale’ Frage ‚Was hast du getan?’

erscheint als vergleichsweise bedeutungslos - situationsorientierte Ansätze sind in dieser Hinsicht nicht nur ‚ent-moralisierend’, sondern auch ‚ent-historisierend’. In den situationsregulatorischen Technologien dieser Ansätze geht es weder um eine Feststellung, ob eine vollzogene Handlung ein Fall von Kriminalität war, noch darum, aus welchen äußerlich positionalen oder verinnerlicht dispositionalen Gründen ein Akteur eine solche Handlung vollzogen hat. Von Interesse ist ausschließlich, welche Formen von Abweichung zukünftig sein könnten und unter welchen unmittelbaren zeitlich-räumlichen Bedingungskonstellationen ihre performative Frequenz statistisch wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher ist (vgl. Clarke 2000). Möglicherweise kann diese Kontrollrationalität - trotz erhöhten Einsperrungsraten im strafjustiziellen Bereich - als ein Indikator für den von Gilles Deleuze (1990, vgl. auch Scheerer 1997) beschriebenen Übergang von einer

‚Disziplinargesellschaft’ zu einer ‚Kontrollgesellschaft’ betrachtet werden, in der die

‚Einschließungsmilieus’ in ihrer Funktion als institutionelle Prägeapparaturen anachronistisch werden.

Das zuverlässige Individuum, auf dessen Herstellung die Disziplinargesellschaft gerichtet ist, tritt

118 Diese Unterscheidbarkeit wird teilweise auch durch den Rekurs auf biologische Faktoren unterstrichen.

119 Diese skizzieren Gottfredson und Hirschi auch im Bereich der Erziehung. Aber auch hier geht es um den Grad der Kontrolle sowie die Einverleibung von Selbstkontrolle und weniger, wie etwa Lamnek (1994: 161f) ausführt, um die Frage des Werts einer ‚neokonservativen Pädagogik’ selbst.

(10)

hinter dem Interesse einer Vermeidung und Regulation riskanter und prekärer Situationen zurück:

„Das Prinzip ist Kontrolle bei Gleichgültigkeit gegenüber der kontrollierten Person“ (Kuhlmann 1993:

1342).

In Bezug auf individuelle oder gesellschaftliche Veränderungen sind diese Ansätze in so fern gänzlich

‚unheroisch’ (vgl. Garland 1999). Sie verkörpern ein Projekt präventiver Steuerung, dass sich in keiner Weise kritisch oder reformwillig zu den sozialen Strukturen fortgeschritten liberaler Gesellschaftsformationen verhält120, sondern sich - ‚politisch’ betrachtet - dadurch auszeichnet, Fragen nach Abweichung von Fragen der Normen und Fragen sozialer Gerechtigkeit nahezu vollständig zu entkoppeln (vgl. Garland 2000).

In diesem Sinne ist es zwar richtig, dass die ‚Kriminologie ohne Täter’ (Sessar 1997) indirekt die in den 1970er und 1980er Jahren von kritischen und radikalen Vertretern der Disziplin und Profession erhobene Forderung erfüllt, auf individualisierte Stigmatisierungen und Festlegungen des Einzelnen als

‚pathologisches’, ‚abweichendes Subjekt’ zu verzichten und die Sinnhaftigkeit der Lebensäußerungen der betroffen Akteure anzuerkennen. Allerdings wird Sinnhaftigkeit - als eine mikrologisch konsequente Fortsetzung einer makrologischen ‚Ökonomisierung des Sozialen’ - lediglich im Sinne des, mit Weber formuliert, ‚zweckrationalen Handelns’ verstanden, genauer, als eine im ökonomischen Sinne instrumentelle, rationale Güterabwägung. Die situativen Strategien implizieren also kein Ende und auch keine Abmilderung instrumenteller Herrschaftsformen, sondern eine andere Form, die das teure und vergleichsweise ineffektive Unterfangen eines sozialpädagogischen ‚bessernden’,

‚disziplinierenden’ oder um ‚Verständnis’ bemühten ‚messing around with subjects’ (Hughes 1998: 71) weitmöglichst zu vermeiden trachtet: Der moralisierende Zugriff auf das Individuum wird – in einer Art

„Überwachung ohne Überwacher“ (Kuhlmann 19993: 1342) - gelockert, „aber nicht, um ihm unbeschränkte Freiheiten zu gewähren, sondern um es einem erneuerten, nunmehr räumlich- situativen Kontrollmodus zu unterwerfen“ (Lindenberg/Schmidt-Semisch 1995: 3), der sich weniger an einer verallgemeinerten Normalität, als an je sektoralen Hegemonien ausrichtetet.

An die Stelle der disziplinierenden Normierung der innerlichen Dispositionen des isolierten, einzelnen, identifizierten sozialen Akteurs, tritt die Außensteuerung der performativen Handlungskontingenzen ganzer Populationen über die Lenkung ihrer (interpersonalen) Verkehrsströme zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten121 im Sinne einer sektoral differenzierten Form der Machtausübung: „For many more visionary ideologues and observers“ so führt Stan Cohen vor fast zwanzig Jahren in seinen

‚Visions of Social Control’ aus

„the day is ending for all forms of individual intervention. The real mater shift about to take place is towards the control of whole groups, populations and environments […]. In this movement technology and resources […] are to be directed to surveillance, prevention and control, not ,tracking’ the individual adjudicated offender, but preventive surveillance […] of people and spaces” (Cohen 1985: 127).

120 Die Perspektive auf eine Reform der Gesellschaft lautet etwa: Sorgen wir dafür, dass es etwas weniger (Gelegenheiten für) Kriminalität gibt, ansonsten sind die gesellschaftlichen Verhältnisse gut so wie sie sind (vgl. Garland 1999)

121 So konnte Titus Simon (2001a: 58) in einer Untersuchung über städtische Ordnungsstrategien nachweisen, dass die meisten innerstädtischen Maßnahmen gegenüber unerwünschten Personen nur zu den attraktiven Einkaufszeiten umgesetzt werden, während in den Abend und Nachtstunden selbst ‚real bedrohliche’ Gruppen mehr oder weniger unbehelligt bleiben.

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Die entsprechenden Maßnahmen reichen von (partikular-)rechtlichen Instrumenten der Regulierung des öffentlichen Raums, über je sektorale Erhöhungen der Kontrolldichte durch sichtbare Kontrollakteure, bauliche und technische Installierungen, architektonisches Design von Orten, Suggestionen des Beobachtet-Werdens (z.B. Hinweisschilder auf – randomisierend zum Einsatz kommende - Radarfallen und Videoüberwachungen) etc. bis zu deutlichen Signalen der Drohung im Falle von Abweichung. Der potentielle Täter stellt damit nicht mehr das subjektivierte Kontrollobjekt dar, dessen strukturelle Positionen oder individuellen Dispositionen - wie im Falle der Interventionen der Jugendhilfe - bearbeitet und verändert werden, sondern ein objektiviertes Kontrollobjekt, das durch seine kontextualen Situierungen gemanaged wird.

Die Rekonstruktion der Vergangenheit und die Erklärung von Abweichung aus dieser, verliert gegenüber der Prädiktion einer (statistisch) wahrscheinlichen Zukunft an Gewicht. In diesem Sinne interessiert auch weniger ‚Kriminalität’ per se, als die Wahrscheinlichkeit von sichtbaren Verhaltensäußerungen und Erscheinungsbildern, die sich eher als in der je zeitlich räumlichen Situierung unangebracht oder unpassend als in einem verallgemeinerten Sinne unangepasst bezeichnen lassen - egal ob sie nur ‚kriminell’ sind oder nicht. „Dazu können die Haut- oder Haarfarbe, das Auftreten in Gruppen, eine verwahrloste Erscheinung [ebenso gehören wie] die Verbindung von Merkmalen wie jung, männlich, nicht-deutsch aussehend“ (Wehrheim 2002: 25), kurz: „the dress-code is as important as the criminal-code“ (vgl. Hudson 1997, Shearing/Stenning 1985).

Strategisch geht es den situativen Strategien der Kriminalitätskontrolle weniger um die Bekämpfung von Kriminalität per se, als um die Frage der Verteilung von Kriminalitätsraten an bestimmten Orten.

Basierend auf der Annahme, dass es spezifische territorial identifizierbare Orte sind, die in einem unterschiedlichen Maße spezifische Delikte bzw. unerwünschte Praxisweisen von spezifischen Akteuren erleichtern oder begünstigen (vgl. Bottoms/Wiles 1997), bedienen sich diese Strategien detaillierter räumlicher Kriminalitätsmuster-Analysen z.B. in Form von ‚Kriminalitätsatlanten’ „to pinpoint areas of the environment which could be altered in such a way as to make it less easy or less attractive for potential offenders to commit particular types of crime“ (Maguire 1997: 147). Die zentrale Wissensform, auf der diese Strategien basieren, besteht entsprechend weniger im Wissen um die Abweichler selbst, sondern eher im Wissen darüber wo wann und in welchem (statistischen) Ausmaß Abweichung stattfindet. Entsprechend ist die technologische Verwendung dieses Wissens auch nicht mehr auf die ‚gesamte Person’ eines Akteurs in seinen ‚sozialen Bezügen’ gerichtet, sondern auf die je am effizientesten und effektivsten zu bearbeitbaren Spezifika der einzelnen, in den Blick genommenen Abweichung und deren situatives Setting. Damit werden Kriminalitätsraten und ihre Verteilung im Raum aus dieser Perspektive wichtiger als die einzelnen ‚devianten Subjekte’ im Sinne von moralischen, psychologischen oder sozialen Akteuren. Sind etwa in räumlich kartographierten Arealen

‚Hot Spots’ der Kriminalität identifiziert, so geht es darum die Kontrolldichte - beispielsweise durch Video-Überwachung - genau dieses Areals zu erhöhen um damit die Rate an diesem Ort zu reduzieren

,

122. Es ist nicht mehr unbedingt das Ziel, mit viel Aufwand und wenig Erfolgsaussichten

122 Eine solche Perspektive ist zunächst keinesfalls abwegig. So zeigt eine Studie von Sherman et al. (1989) am Beispiel von Minneapolis außergewöhnliche Kriminalitätsdichten an territorial kartographierbaren ‚hot spots’ auf: „only 3 per cent of all

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dafür zu Sorgen, dass die Kriminalitätsrate insgesamt möglichst gegen null strebt. Vielmehr geht es darum, Kriminalität so zu verteilen und zu kanalisieren, dass sie je sektoral ein als erträglich oder akzeptabel erachtetes Maß erreicht. Wie hoch dieses akzeptable Maß ist, kann sich von Ort zu Ort unterscheiden, je nach sektoraler Hegemonie als der sozialen, ökonomischen und Machtposition jener Gruppen, die diesen Ort symbolisch besetzen und damit über ihn ‚verfügen’ (vgl. Bourdieu 1997).

So ist es etwa möglich, dass in ein und derselben Stadt gegen – legalen wie illegalen - Drogenkonsum an attraktiven öffentlichen Plätzen rigoros vorgegangen wird, während er an anderen Orten geduldet wird. Situative Kriminalprävention lässt sich in diesem Sinne im wesentlichen als eine ‚aktuarialistische’

Strategie darstellen „[which] seeks to regulate groups as part of a strategy of managing danger“

(Feeley/Simon 1994: 178) „[and which] seeks to regulate levels of deviance“ (Feeley/Simon 1992:

452).

Diese Form einer pragmatischen Kontrolle isolierter Facetten menschlicher Aktivität (vgl.

Lianos/Douglas 2000: 120) unterscheidet sich radikal von den normierend normalisierenden Kontrollformen des fordistischen Sozialstaats und dessen institutionellen Repräsentanten in Form sozialer Dienste. Sie stelle eine ‚post-soziale’ Kontrollform dar, die auf ein Kontingenzmanagement von Risiken gerichtet ist

„rather than reforming, its ,realism’ is that it does not pretend to eliminate crime (which it knows is impossible) but, rather, to minimise risk. It has given up the ghost on the modernist aims at change through social engineering and juridical intervention, it seeks to separate out the criminal from the decent citizen, the troublemaker from the peaceful shopper and to minimise the harm […] rather than proffer any ,cure’ or transformation” (Young 1998: 77).

Weil die potentiellen Täter zahlreich und keinesfalls einfach im Vorfeld zu identifizieren sind - „the distinction between deviant and conventional phenomena”, hat David Matza (1969: 68) bereits vor über dreißig Jahren ausgeführt, „[is] blurred, complicated and sometimes devious“ -, erscheint es als ebenso realistisch wie pragmatisch, sich an dem zu orientieren, das am leichtesten zu identifizieren, am stärksten fixiert und am ehesten vorhersagbar ist. Der Kerngedanke lautet etwa: Wir wissen weder wer der individuelle (potentielle) Täter ist noch wie wir ihn verändern oder verbessern sollen, aber „wir wissen zumindest, welches Eigentum zu beschützen ist und wo dieses sich befindet“ (Walker 1986: V). Statt dem potentiellen Täter als Person rückt insofern die (sozial)ökologische Situation in den Mittelpunkt des Interesses, und zwar nicht nur in Form eines Explanandums, als Ort an dem eine sozial, psychologisch, biologisch etc. begründete Tat stattfindet, sondern als Explananas, das Kriminalität selbst erklärt (vgl. Belina 2000: 132 f).

Situationale Gelegenheitsansätze implizieren jedoch trotz ihrer Konzentration auf performativ sichtbare territorial-morphologische Aspekte nicht zwangsläufig, ‚soziale’ Kontrolltechnologien durch rein physisch-territoriale Überwachungen zu ersetzen. Auch jene lokalen Strategien, die als

‚sozialräumliche’ Ansätze einer kommunalen Kriminalprävention vorangetrieben werden, basieren in ihrer dominanten, territorialen Form auf der Regulierung des sozialen Verkehrs eines je spezifischen

places produced 50 per cent of all calls; all robberies took place in only 2.2 per cent of all places, all rapes in 1.2 per cent of places, and all car thefts in 2.7. per cent of places” (Rock 2002: 63).

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Raumausschnitts123 (vgl. Kessl 2001c). Das Originäre der situationalen Gelegenheitsansätze gegenüber

‚sozialen’ Ansätzen ist insofern nicht ihre Konzentration auf einzelne karographisch identifizierbare Orte, sondern der modus operandi des Vollzugs der Kontrollen. Dieser konzentriert sich auf die Unmittelbarkeit der riskanten Situation „in which the crime may take place, and how that can be manipulated either socially or physically“ (Pease 1997: 968).

Diametral zum Stellenwert des Raums verschiebt sich demnach die Bedeutung des Sozialen aus der Perspektive der Gelegenheitsansätze von einem Explananas zu einem Explanandum: Das Soziale wird weniger als die Ursache von Abweichung verhandelt, sondern vielmehr als eine Variable des Kontexts in dem Abweichung stattfindet124 und in seiner Form als interpersonal organisierbare Kontrolle auch als ein Mittel unter anderen um unerwünschte Praxisweisen zu verhindern.

‚Soziale Desorganisation’ gilt es in diesem Sinne entsprechend auch aus der Perspektive situationaler Prävention zu beheben. Dies ist aber nicht darum erforderlich, weil das Leben und Aufwachsen in

‚desorganisierten’, ‚benachteiligten’ Gebieten eine Ursache unmoralischer, ‚antisozialer’ (vgl. Böhnisch 1999) und anderer, problematisierbarer Dispositionen der Akteure in einem ätiologischen Sinne wäre, sondern weil im Falle ‚sozialer Desorganisation’ die im weitesten soziologischen Sinne ‚soziale’ ‚natural surveillance’ lückenhaft ist (vgl. Kube 1982, Pease 1997). Soziale Desorganisation stellt sich aus der Perspektive einer situationalen Kontrollrationalität als ein Zustand dar, in dem die informellen, kybernetischen Überwachungs- und Kontrollkapazitäten sowie deren Wirkungsradius aufgrund mangelnder interpersonaler Einbindung der Akteure als verhältnismäßig gering betrachtet werden können und sich daher ceteris paribus verhältnismäßig viele ‚kriminogene Gelegenheiten’ bieten (vgl.

Veysey/Messner 1999). Ob diese Gelegenheiten ‚sozial’ durch die Aktivierung interpersonaler wechselseitiger Kontrollen minimiert oder z.B. durch technische Maßnahmen kompensiert werden, ist aus der Perspektive ‚situativer’ Ansätze vergleichsweise irrelevant. Wesentlich ist die Frage, auf welche Weise die performative Frequenz bestimmter abweichender Akte an einem bestimmten Ort möglichst dauerhaft, pragmatisch, effektiv und effizient – d.h. in einem optimalen Verhältnis der Kosten des Aufwands und des Effekts – reduziert werden kann125.

Die vielfältigen Überscheidungen einerseits und die relative Umstandslosigkeit, mit denen

‚sozialräumliche’ und situative Ansätze programmatisch verbunden werden können (vgl.

Bursik/Grasmik 1993, kritisch: Gilling 1994) führen dazu, dass die Zuordnung der Ansätze zur Bekämpfung ‚sozialer Desintegration’ und der Ansätze, die auf eine Reduzierung von Gelegenheiten zielen - zumindest wenn sie darauf gerichtet sind, diese Reduzierung durch eine Erhöhung der

‚natürlichen’ sozialen Kontrollen zu erreichen - zu einer ‚sozialen’ oder ‚situationsorientierten’

123 Auch umgekehrt gehört der Versuch „dem öffentlichen Raum eine bestimmte Identität zu geben, damit sich die Bewohner auch mit ‚ihrem’ Wohngebiet identifizieren können und sich für die Gestaltung zumindest mitverantwortlich fühlen“ zu den wesentlichen „Grundprinzipien von CPTED“ (Stummvoll 2002: 5) als einer der wesentlichen situationalen Kontrollstrategien.

124 So etwa die Unterscheidung zwischen ‚breeting areas’ – den Orten und Kontexten in denen Kriminalität/Kriminelle entstehen bzw. ‚ausgebrütet’ werden - und ‚attracting areas’ – den Orten und Kontexten in denen die abweichenden Akte vollzogen werden, bzw. die Kriminalität ‚anziehen’ - Situationsorientierte Ansätze konzentrieren sich logisch und der Tendenz nach auch faktisch auf die ‚attracting areas’.

125 Entsprechend geht es weniger um ein Maximum an personeller und technischer Aufrüstung der Kontrollinstanzen und eine umfassende allgemeine Erhöhung der Kontrolldichten gegenüber allen Formen von Delikten, als vielmehr um ein (deliktspezifisches) sektorales Optimum.

(14)

Präventionsstrategie faktisch eine Frage der eingenommenen Perspektive bleibt. So spricht beispielsweise wenig dagegen, Strategien, die einer gemeinwesenorientierten Stärkung der informellen Kontrolle einer ‚wachsamen Nachbarschaft’ dienen sollen, auch dann, wenn sie inter alias von Sozialen Diensten durch- und angeführt werden, eher als ein mögliches Moment situationsorientierter Gelegenheitsansätze, denn als ein Element ‚sozialer Prävention’ zu fassen.

Obwohl die gemeinsame Schnittmenge beider Ansätze demnach erheblich sein kann, lassen sich beide Präventionsansätze analy isch unterscheiden. Bezogen auf die deutlichen Verweise auf die sozialisatorische Kraft (vgl. Schwind 2001) und den dispositionsformenden Verpflichtungscharakter kleinräumig-partikularer Solidaritätsformen

t

126 haben die sozialen, gemeinwesen- bzw.

‚problemorientierten’ Ansätze einen deutlich weiterreichenden Anspruch als die manageriell-situativen Strategien. Strategien einer sozialen Kriminalprävention, so eine treffende Charakterisierung von Jon Bright (1991: 64), umfassen alle Maßnahmen, die dazu dienen (sollen), „to strengthen socialization agencies and community institutions in order to influence those groups that are most at risk of offending“. D.h. soziale Ansätze - insbesondere die ‚traditionellen’ Ansätze der Jugendhilfe - zeichnen sich teleologisch dadurch aus, dass sie systematisch auf die Beeinflussung und Veränderung von Akteuren und Gruppen von Akteuren zielen127.

Neben dem wesentlichen Unterschied, dass ‚situationsorientierte’ Gelegenheitsansätze gerade nicht auf positional-dispositionale Veränderungen von Akteuren zielen, ist die ‚soziale’ Aktivierung von informellen Kontrolldimensionen, die sich aus der Kontrolldimension des sozialen Kapitals parochialer Netzwerke ergeben soll (vgl. Skogan 1990, Ekblom 2002, allgemein: Coleman 1988) nur ein Element dieser Ansätze. Das lediglich auf das situative Überwachungs- und Kontrollarrangement bezogene

‚soziale’ Element steht gleichberechtigt neben den Versuchen, Kontrolllücken durch bauliche und technische Maßnahmen zu schließen und vor allem dem Versuch, jene alltäglichen sozialen Routinen der gesellschaftlichen Akteure, die Gelegenheiten zu devianten Akten ermöglichen, so zu verändern, dass sie ein möglichst unattraktives oder riskantes Ziel für potentielle Täter darstellen (vgl.

Cohen/Felson 1979, Felson 1998, Felson/Clarke 1998).

Die Ordnung und Logik des ‚Sozialen’ - gleich ob es als ‚space of rule’ (vgl. O’Malley 1999), oder im Sinne Durkheims als eine vom ‚Natürlichen’ oder ‚Physikalischen’ abgrenzbare, ‚objektive’ Existenzform verstanden wird - ist für sich genommen als zu bearbeitender Gegenstand für die situationsorientierten Präventionsansätze und ihre Repräsentation des Subjekts als ‚rational Handelnden‘ deshalb logisch irrelevant, weil diese Ansätze epistemologisch auf eine radikalisierte Form des Voluntarismus der „imaginäre[n] Anthropologie des Subjektivismus“ (Boudieu 1987: 79) zurückgreifen. Im Sinne dieser ist das Verhalten des ‚rationalen Akteurs‘ und die innere Schlüssigkeit sowie relative Konstanz seiner Präferenzen im Zeitverlauf alleine auf sein rationales Abwägen

126 So etwa das Argument, dass gerade in Bezug auf Jugendliche die ‚Einübung in die Erwartungen, Werte und Normen der Erwachsenengesellschaft’ vorwiegend durch die Situation im konkreten kleinräumigen sozialökologischen Kontext bestimmt wird (vgl. Schwind 2001)

127 In einem gewissen Sinne geht es bei ‚sozialen’ Ansätze um primär die Veränderung der Motivation potentieller Täter, während sich ‚situationale’ Ansätze auf Reduzierung potentieller Tatgelegenheiten konzentrieren.

(15)

zurückführbar und sein gesamtes praktisches Handeln erscheint als ‚vernunftbasierten’ Willensakt begründbar128.

Nichtsdestoweniger laufen aber auch bei einer analytischen Trennung beider Strategien bei den situationsorientierten Ansätzen rein räumlich-zeitliche d.h. ‚situative’ Momente und Elemente, die sich auf den sozialen Verkehr leibhaftiger sozialer Akteure beziehen, ineinander: „[B]locking opportunities (potential or actual) for crime while simultaneously tackling criminal motivations (potential or actual)“

(Gilling 1999: 2) ist der zentrale Ansatz situationaler Präventionsstrategien.

Insofern sind die situationsorientierten Gelegenheitsansätze vor allem positiv, durch ihre Gemeinsamkeiten zu bestimmen. Metatheoretisch besteht die Gemeinsamkeit dieser Ansätze in ihrer Affinität zu einem ökonomischen Handlungsmodell, nach dem ein sozialer Akteur in allen Handlungssituationen über eine Reihe von Handlungsalternativen (A) verfügt. Hinsichtlich der Realisierung einer dieser Handlungsalternativen, wägt dieser ökonomische Akteur ihre Kosten und Nutzen (U) in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens (p) ab und entscheidet sich für die Handlungsalternative mit dem größten erwarteten Nettonutzen129 (vgl. Opp 1983). Der rationale Akteur der Choice-Theorien handelt demnach nach der Entscheidungsregel: A = Σ pi x Ui (Friedrichs 1997: 476). Kriminalität wird in dieser Hinsicht als eine Handlungsalternative verstanden, die - bei der Berücksichtung persönlicher Ressourcen und subjektiv perzipierter Risiken (vgl. Kerschke-Risch 1993) - dem mit subjektiven Präferenzen ausgestatteten Akteur einen vergleichsweise hohen ‚Nutzen’ bzw.

‚Gewinn’ (vgl. Cornish/Clarke 1986) bei verhältnismäßig geringen ‚Kosten’ verspricht. Basierend auf dieser allgemeinen ökonomischen Handlungstheorie ist diesen Präventionsansätzen gemeinsam Kriminalität nur als einen Spezialfall rationalen Handelns zu betrachten. Die in pragmatische Strategien übersetzbare ökonomische Handlungstheorie selbst ist bemerkenswert einfach:

„Assume that all individuals are the same and that they are motivated exclusively by the wish to maximise their own welfare or utility. On this basis and with externally given constraints, explain as many social phenomena as possible without being confined by traditional interdisciplinary boundaries“(Fine 2001: 41).

Eines dieser beliebigen Phänomene ist das der Non-Konformität, die auf keinen anderen Prämissen beruht und auch ansonsten auf einer epistemologischen Ebene nicht anders zu verhandeln ist, wie jede - intersubjektiv verlaufende – andere ökonomische Handlung bzw. Transaktion auch. Sie ist nichts anderes als das Ergebnis einer Situation, die durch individuelle Präferenz, die Summe Handlungsrestriktionen und das Ziel der Nutzenmaximierung konstituiert wird (vgl.

Lüdemann/Ohlemacher 2002) und manifestiert sich im konkreten Falle von Kriminalität durch einen

128 Da die präventiven Situationsansätze sich nicht auf den konkreten, empirischen Einzelnen, sondern auf eine ganze Population statistischer Einzelner beziehen, erscheinen darüber hinaus auch internale nicht-materielle Anreize, die ein einzelnes ‚Subjekt’ als Referenzpunkt anvisiert, die je individuell inkorporierten Anreize zur Konformität als internalisierte Normpräferenzen, Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster, ebenso wie soziale Nutzen und Kosten in Bezug auf die normativen Erwartungen von individuell relevanten Bezugspersonen – etwa die Schwundrisiken sozialen Kapitals - die ihrerseits auf die relationale Positionierung des Subjekts innerhalb einer feldökonomischen Praxis verweißen, als irrelevant.

Die Beeinflussung dieser Momente können als Angelegenheit ‚sozialer’ Ansätze der Prävention verstanden werden, vorrangig im Sinne kommunaler Präventionsvarianten - im Falle des Abhebens auf soziales Kapital – oder moralischer Sozialisation (vgl. Brumlik 1999) – im Falle des Versuchs der Erzeugung eines ‚freiwilligen’ Fügens in den normativen Konsens einer gegebenen Ordnung.

129 Der (subjektive) Nettonutzen bezeichnet dabei jenen Nutzen der abzüglich aller erwarteten (Folge-)Kosten als höher eingeschätzt wird als die (erwarteten) Nettokosten.

(16)

motivierten, an einem möglichst einfachen ‚Gewinnen’ orientierten Täter, einem passendem, attraktivem Ziel (vgl. Garofalo 1987) (d.h. dem ‚Nutzen’) sowie der Abwesenheit eines ‚capable guardian’ (d.h. der geringeren Wahrscheinlichkeit von ‚Kosten’) (vgl. Cohen/Felson 1979, Felson 1994, 1996, 1998). Fehlt eine dieser Komponenten wird es nach der A = Σ pi x Ui Regel zu keinem devianten Ereignis kommen. Treffen alle drei Komponenten zusammen, wächst die Wahrscheinlichkeit eines non-konformen Akts, weil die situative Entscheidung des Akteurs zugunsten einer normabweichenden Handlung aus der Perspektive dieses Akteurs einen größeren Nettonutzen hat, als sich konform zu verhalten.

In diesem Sinne verabschieden sich die situationsorientierten Strategien „von der soziologischen Erfindung des Sozialen und setz[en] auf Individuen als atomisierte einzelne und ihre Fähigkeit, rational zu handeln auf der Basis von Kosten-Nutzen-Abwägungen“ (Krasmann 2000: 302). Auf Basis dieses Modells zielt eine situativen Kriminalprävention darauf, etwaige Nutzen einer der Straftat unter die erwarteten Kosten zu senken (vgl. Sack 1998). Dies geschieht - etwa durch Maßnahmen die eine Steigerung des Aufwandes induzieren – durch eine Etablierung von Handlungsrestriktionen und beispielsweise durch Maßnahmen, die das Entdeckungsrisiko erhöhen - eine Steigerung der

‚Kostendimension’ von Delikten sowie - unter anderem durch Maßnahmen, die den Anreiz des potentiellen in den Blick genommen Objekte verringern – einer Minimierung des Nutzens auf der Seite des Täters130 (vgl. Lüdemann/Ohlemacher 2002).

Bezogen auf das primäre Ziel der situationsorientierten Ansätze, die Kriminalitätsrate (an einem bestimmten Ort) zu senken, ist das einen abweichenden Akt durchführende einzelne Individuum - der Täter - als biologische, psychologische und als pädagogisch beeinflussbare Person jedoch im Kern ebenso unwichtig wie die sozialen und ökonomischen Bedingungen und Strukturen, in denen er sich bewegt. Dies liegt, so die bestechende Logik der situationsorientierten Choice-Ansätze, darin begründet, dass sich solche Situationen quasi aus der ‚Natur’ der alltäglichen Routineaktivitäten und sozialen Interaktionen in modernen Gesellschaften ergeben (vgl. Cohen/Felson 1979). Da aber prinzipiell jedes beliebige Individuum, als ein mit Interessen ausgestatteter ‚rational kalkulierender Akteur’, dazu motiviert werden kann, eine Tat zu begehen, ist ‚Abweichung’ als Potentialität eine gattungsspezifische Normalität des menschlichen Daseins (vgl. Akers 1997: 31, Karstedt/Greve 1996).

Es gibt keinen Grund nach irgendwelchen tieferen Gründen von Abweichung zu suchen (vgl. Marx 1995: 246), gleich ob diese in gesellschaftlichen oder politischen Bedingungen, einer fehlgelaufenen

130 Obwohl dieses Handlungsmodell als universell gesetzt wird, erscheinen teilweise zusätzliche personenbezogene Interventionen notwendig, um den situationsorientierten Logiken der Prävention zum Erfolg zu verhelfen. Dabei geht es darum, den potentiell abweichenden Akteuren die notwenigen Informationen zukommen zu lassen, die sie in ihrer rationalen Kalkulation davon überzeugen, dass kriminelle Handlungsoptionen eine kostenträchtige Fehlkalkulation darstellen.

Eine solche informiert rational kalkulierende Haltung solle etwa, wie eine Polizistin im Interview ausführt, bei den potentiellen Tätern ‚pädagogisch’ durch die Schule implementiert werden. Da der ‚reasoning criminal’ (vgl. Cornish/Clarke 1986) um zur Konformität bewegt zu werden einer spezifischen Form der Informiertheit bedürfe, werde die Polizei nicht länger mehr als

‚Alibi-’ Institution mit Schulen kooperieren, die ihren Pflichten in diesem Sinne nicht nachkommen. So mache es beispielsweise „keinen Sinn, [...] den Jugendlichen [zu] sagen, wir haben den und den großen Anteil an Ladendiebstahl, aber ihr werdet doch wohl nicht klauen“. Statt auf moralische Appelle zu setzen, komme es darauf an, die kalkulierenden Akteure darüber in Kenntnis zu setzen, „was das bedeutet, dass alle das mitragen müssen was da weggeklaut wird [...] oder auch diese Anführungszeichen Lappalie der Sachbeschädigung, wie teuer die Einzelnen zu stehen kommen kann, wenn sie [...]

dafür verantwortlich gemacht werden können, das [gilt es] einfach mal vor Augen zu halten“ (Herv. H.Z.).

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