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Archiv "Die Kur: Ein integratives System" (20.06.1986)

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Kooperation zwischen Haus- und Kurarzt

Die Kur: Ein integratives System

Friedrich Haux

Infektions- und Mangelerkrankung haben in den modernen Indu- striestaaten ihre überragende Bedeutung verloren. Chronische Er- krankungen als Folge gesundheitsbelastender Faktoren aus den individuellen Verhaltensweisen prägen das heutige Krankheits- spektrum. Die therapeutischen Ansätze erfordern eine integrierte und koordinierte Langzeitbetreuung, die nur durch eine enge Ko- operation zwischen Haus-, Klinik- und Kurärzten geleistet werden kann. Die Verzahnung ambulanter und stationärer Therapiestrate- gien ist die Voraussetzung für eine angestrebte, gesundheitsorien- tierte Verhaltensänderung.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

THEMEN DER ZEIT

Alltägliche hausärztliche Praxis zeigt, daß gesundheitsschädigen- de Lebensstile und Verhaltensmu- ster in allen Bevölkerungsschich- ten, wenn auch in unterschied- licher Ausprägung,.gleichermaßen attraktiv sind; hierbei wirken so- zialgruppen- und schichtspezifi- sche Verhaltenserwartungen und Verhaltensnormen unterstützend, an denen der einzelne sein Ge- sundheitsverhalten orientieren muß, um in seinen verschiedenen sozialen Bezugsgruppen aner- kannt zu werden. Gesundheitsbe- zogenes Verhalten realisiert sich für den einzelnen im Alltagsleben

— Familien-, Berufs- und Freizeit- bereich — mit unterschiedlichen sich teilweise widersprechenden Verhaltensanforderungen. Nicht selten ist er sich dabei über die ge- sundheitsschädigenden Folgen seines Lebensstils bewußt; beson- ders, wenn er sich bei auftreten- den Befindlichkeitsstörungen oder Krankheitssymptomen als Patient in die hausärztliche Praxis begeben muß. Dem Hausarzt ob- liegt die schwierige Aufgabe, die während des Patientengesprächs in vielen Fällen offenbar werdende kognitive Dissonanz zwischen hin- länglich bekanntem Wissen um

Gesundheit einerseits und tat- sächlichem, alltagspraktiziertem

gesundheitsbeeinträchtigenden Verhalten andererseits bewußt zu machen, um darauf aufbauend therapeutische Maßnahmen ein- zuleiten. Dieser Vorgang wird vom Patienten oft als existentielle Be- drohung erlebt. Er sieht integrier- te, langjährige Elemente seines sozialen Identitätsprofils in ihrer Wertigkeit angegriffen, befürchtet einen Prestigeverlust und die Zu- teilung einer Außenseiterrolle in seinem sozialen Umfeld.

Integrierte

Gesundheitssicherung

Die angestrebte Lebensstilverän- derung läßt sich nur durch eine in- tegrierte Gesundheitssicherung durchführen. Die Zusammenarbeit zwischen Haus-, Klinik- und Kur- arzt ist ein entscheidendes Ele- ment in diesem System. Ihre koor- dinierte Therapiestrategie ist die Grundlage einer sinnvollen Ge- sundheitssicherung.

Es gilt, gemeinsam dem Patienten die gesundheitlichen Risiken zu verdeutlichen und das Bewußtsein

für die Folgen zu schärfen. Die Entscheidung über die Art der Um- setzung individueller Bedürfnisse und Erwartungen kann nur in der Kompetenz des Kranken liegen.

Die hausärztliche Aufgabe ent- spricht der beratenden Funktion eines Experten; appellativ-regle- mentierende Bevormundung oder verunsichernde soziale Kontrolle laufen dem angestrebten Prozeß individuell akzeptierten Gesund- heitsverhaltens zuwider. Gerade bei der Diagnose derjenigen Krankheiten, die durch eine ris- kante Lebensweise mitbedingt sind, wird die Anleitung zur Verän- derung von routiniertem Alltags- verhalten unabdingbar sein. Bei dieser Aufgabe ist die Organisa- tion der hausärztlichen Praxis so- wohl vom Zeitbudget als auch von der kurativ-rehabilitativen Ausstat- tung begrenzt. Hier stellt die Kur eine Ergänzung der Praxis dar. Sie übernimmt insbesondere Thera- pieelemente, bei denen dem Pa- tienten, in einem längeren Zeit- raum, über gesundheitserzieheri- sche Angebote, die Möglichkeit zur Einübung veränderter gesund-

heitsbezogener Verhaltensweisen gegeben werden soll. Die perso- nellen und institutionellen Gege- benheiten einer Kurklinik sind hierfür der geeignete Ort. Ein komplexes haus- und kurärzt- liches therapeutisches Interak- tionsgefüge ist Voraussetzung für eine effektive und effiziente inte- grierte Gesundheitssicherung.

Die Prämissen für eine integrierte Gesundheitssicherung sind eine unter hausärztlicher Leitung ste- hende Koordination medizini- scher, verhaltenspsychologischer und sozialer Therapieelemente;

eingebettet in ein langfristig ange- legtes Konzept mit patientenzen- trierter und alltagsorientierter Vor- gehensweise. Diese Bedingungen sind häufig im ambulanten Be- reich mit seiner sozialen Umfeld- beeinflussung, einer alltagsbe- dingten Zeithetze und einer zeit- lich und örtlich nicht optimal mög- lichen Betreuung nicht vorhan- den. Die unzureichenden Ergeb- nisse gesundheitlicher Aktionen 1846 (38) Heft 25/26 vom 20. Juni 1986 83. Jahrgang Ausgabe A

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Die Kur im Sinne einer gesundheitsorientierten Verhaltensänderung erfordert eine integrierte und koordinierte Langzeitbetreuung der Patienten, die nur durch eine enge Kooperation zwischen Haus-, Klinik- und Kurärzten geleistet werden kann Foto: Staatsbad Pyrmont

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Hausarzt und Kurarzt

im hausärztlichen Bereich schla- gen sich in einer iatrogen als auch strukturell-institutionell bedingten Patienten-Non-Compliance nie- der. Ein vom Patienten zu tragen- der hoher Zeit- und Kostenauf- wand, die Schwierigkeit sich in der gewohnten Umgebung auf neue risikoarme Lebensgewohn- heiten umzustellen, die vage Hoff- nung auf Gesundheit als einzige Belohnung und der Verzicht bei der Bedürfnisbefriedigung führen ihn zur Nichteinhaltung hausärzt- licher Empfehlungen. Die Hinwen- dung zu gesundheitsförderlichen Lebensgewohnheiten besonders im Bereich Bewegung, Ernährung und Genußmittelkonsum ist das Ergebnis einer persönlichen Ab- wägung, deren Charakter geprägt wird von dem konstante Verhal- tensweisen fordernden sozialen Netzwerk einerseits und dem durch den Hausarzt verstärkten Forderungen und Erwartungen nach Lebensstilveränderung an- dererseits.

Eine alltagsabgeschiedene, selbstkonzentrierte und lernmoti- vierende Interventionssituation wie eine Kur sie bietet, kann in die- ser subjektiven Konfrontations- phase dem Patienten abseits so- zialer Zwänge das Überdenken al- ternativer Lebenskonzepte und den Zugang zu einer neuen Le- bensführung ermöglichen. Eine Kur kann eine lnitialcompliance für den Hausarzt etablieren oder eine Verstärkung bereits vorhan- dener Patientenmitarbeit bewir- ken.

Der Kuraufenthalt stellt für den Pa- tienten in diesem Kontext vor al- lem Zeit für einen Lernprozeß dar, der es ihm ermöglicht, individuell abgestimmte Muster befriedigen- der Lebensbewältigungsstrate- gien kennenzulernen und zu er- proben. Dabei müssen in Zusam- menarbeit von Kurpersonal und Patienten Modelle entwickelt wer- den, die eine Übertragung der neuerlernten Verhaltensweisen in den Alltag ermöglichen. Das Ak- zeptieren und der Umgang mit ei- genen Gesundheitsdefiziten sowie

die Korrektur lebensfremder Vor- stellungen von Gesundheit als selbstverständlichem Zustand und die Erkenntnis, daß neben somati- schen auch psychosoziale und so- zialstrukturelle Faktoren bei der Krankheitsgenese eine Rolle spie- len, sind weitere Ziele dieser Neu- orientierungsphase für den Pa- tienten.

Der Schwerpunkt kurmedizini- scher Therapie liegt neben der medizinischen Basisversorgung auf einer individuell problembezo- genen pädagogisch, psychologi- schen und sozialen Betreuung. In Ergänzung und Fortsetzung haus- ärztlicher Praxismaßnahmen stellt die Kur eine therapeutische Inter- ventionssituation mit einander er- gänzenden Therapiekomplexen dar. Nur ein patientenzentriertes Bezugssystem auf der personellen Ebene zwischen Haus- und Kur- arzt und auf der strukturell-institu- tionellen Ebene zwischen lokalen und kurklinischen Angeboten ge- währleistet eine integrierte, koor- dinierte und langfristige Gesund- heitssicherung.

Inhalte

Zu den vordringlichen Inhalten ge- meinsam getragener Gesundheits- sicherung zählen für den Haus- und Kurarzt neben der medizini- schen Basisversorgung die Anlei- tung zur Selbsterfahrung und Selbsthilfe, Gesundheitsinforma- tion, verhaltenstherapeutisch orientierte Maßnahmen, soziale Betreuung und Vermittlung von Gruppenaktivitäten. Die therapeu- tischen Angebote in der Kur und im Alltag zielen darauf ab, die ko- gnitiven, affektiven und sozialen Voraussetzungen für eine Lebens- stilveränderung zu etablieren. Ziel ist der lebensbejahende, somit auf Dauer gesundheitsbewußt leben- de und der Solidargemeinschaft verpflichtete Patient, der weiß, daß es um seine eigene Gesundheit und Lebenserwartung geht. Er ist sich bewußt, daß er um seine Ge- sundheit zu erhalten, seine Kör- perfunktionen, Ernährung, Streß und Coping und die Risikofakto- ren kennen muß. Ihm ist die Tatsa- che bekannt, daß viele Erkrankun- gen auf Fehlverhaltensweisen be- Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 25/26 vom 20. Juni 1986 (41) 1847

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DEUTSCHES ARZTEBLATT

Hausarzt und Kurarzt DIE GLOSSE

ruhen, die nur durch eine lange und auch auf Selbsthilfe bauende Therapie korrigiert werden kön- nen.

Eine sinnvolle, langfristige Ge- sundheitssicherung erfordert eine kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen Haus- und Kurarzt. Ne- ben diesen personellen stellt die strukturell-institutionelle Ebene eine weitere Bedingung sinnvol- ler, langfristiger Betreuung dar.

Eine Verzahnung haus- und kur- ärztlicher therapeutischer Ange- bote führt zu einer weitgreifenden Intervention im Sinne einer lang- jährigen Lebensstilveränderung.

Vor einer Kur sollte mit dem Pa- tienten Sinn, Inhalt und Ziel dieser oft sehr kostenaufwendigen Maß- nahme eingehend erörtert, das Kurprogramm detailliert erläutert und auf die Erwartung bezüglich einer dauerhaften Lebensstilver- änderung hingewiesen werden.

Nachkurtreffen

Zur Absicherung des Kurerfolges ist es notwendig, die nachgehen- den Angebote an der Lebens- und Arbeitssituation des Betroffenen zu orientieren und an dem Erfah- rungsspektrum anzusetzen, das die Kur im kognitiven, affektiven, motorischen und sozialen Bereich erzielt hat. Es gilt, die daraus re- sultierenden, akzeptierten und

handlungsleitenden Wertvorstel- lungen in den Alltag zu transferie- ren und die institutionellen Rah- menbedingungen entsprechend zu gestalten. In Einzel- und Grup- pengesprächen muß der Kurver- lauf bewertet, Folgerungen für den Alltag gezogen und die vorge- nommene Lebensstilveränderung mit dem Hausarzt abgestimmt werden. Es gilt, stabilisierend ein- zugreifen, das gewachsene Selbstvertrauen und die damit ver- bundene Lebensfreude für den Alltag auszunutzen, damit auch zu Hause ohne Prestigeverlust die er- höhte Risikobereitschaft weiter abgebaut werden kann. Soweit er- forderlich sollte in speziellen Fäl- len auch das soziale Umfeld einbe- zogen werden, um die Aufarbei-

tung von gesundheitlichen und sozialen Problemen im familiären und sozialen Kontext zu ermög- lichen und um eine Multiplikato- renwirkung zu erzielen.

Nachkurbetreuung

Neben der medizinischen Versor- gung tragen der Aufbau von Selbsthilfegruppen, die Vermitt- lung sozialtherapeutischer Hilfen, regelmäßige Gruppentreffen mit gesundheitsinformativen Inhalten und die Integration einzelner in bestehende Institutionen dazu bei, eine langfristige Gesundheitssi- cherung zu etablieren. Diese An- gebote garantieren eine konti- nuierliche Fortsetzung der kurkli- nischen Maßnahmen auf personel- ler und strukturell-institutioneller Ebene. Sie vermitteln dem Patien- ten das Gefühl einer systemati- schen und koordinierten Zusam- menarbeit zwischen Haus- und Kurarzt, auf die er sich bei seiner angestrebten Lebensstilverände- rung stützen kann.

Literatur

Blohmke, M. (Hrsg.): Handbuch der Sozialme- dizin, Band 11. Enke Verlag, Stuttgart 1977 — Brusis, 0. A. (Hrsg.): Handbuch der Koronar- gruppenbetreuung, Bd. I. perimed-Fachbuch- Verlagsgesellschaft, Erlangen 1980 — Bundes- arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation: Die Rehabilitation Behinderter, Deutscher Ärzte- Verlag, Köln 1984 — Füsgen, 1.: Die integrierte Kur, Schindele Verlag, Rheinstetten 1979 — Halhuber, C.: Rehabilitation in ambulanten Ko- ronargruppen, Teil 1-3. Springer-Verlag, Hei- delberg 1980— Halhuber, M. J.: Für und Wider

„Anschluß"-Heilmaßnahmen nach akutem Herzinfarkt, in: Deutsche Rentenversicherung, 1968, Heft 1 — Häußler, S.: Das Kurwesen aus der Sicht des Kassenarztes, in: Arbeitsmedi- zin, Sozialmedizin, Präventivmedizin, 11.1976, Heft 3 — Haux, F.: Eine Kur, und was dann? in:

Niedersächsisches Ärzteblatt, Heft 22/1983 — Hüllmann, K.-D.: Präventivmedizin, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, 1982 — Jochheim, K.-A. (Hrsg.): Rehabilitation, Band 1-111, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, 1975 — Viefhues, H.:

Lehrbuch der Sozialmedizin, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 1982 — Wannenwetsch, E.:

Kuren sind im Gesundheitswesen unersetzbar und gewinnbringend für die gesamte Volks- wirtschaft, in: Heilbad und Kurort, Heft 3/1977.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Friedrich Haux Internist

Chefarzt der AOK-Kurklinik für Prävention und Rehabilitation Pfaffenbergstraße 6

3423 Bad Sachsa

Phrasen-Chloroform

Familie am Frühstückstisch. Va- ter: „Ich bitte um Herreichung des Kaffees zwecks Austrinkens des- selbigen!" Mutter: „Nach Beendi- gung des Frühstücks nehme ich die Realisierung meiner Einkaufs- absichten im Supermarkt vor!"

Tochter: „Kann ich die Ausleihung des sich in der Garage befind- lichen Kfz in Erwägung ziehen zum anschließenden Transport meiner Person in die Schule?"

Kein Mensch redet so. Aber viele schreiben noch so. Das Kauf- mannsdeutsch, von der Kranken- hausverwaltung bis zur Arztpraxis, ist allgegenwärtig. Gestelzt, schwergewichtig, mit vielen Hauptwörtern („Substantivitis").

Warum nicht so schreiben, wie man zum Nachbarn spricht? Ein- fach, ohne Schnörkel, mit Zeitwör- tern und kurzen Sätzen. „Phrasen- Chloroform" ist passö. Knapp, freundlich und bündig ist die Devi- se. Falsch verstandene Rationali- sierung kann böse Folgen haben.

So heißt es etwa in einem Vereins- Rundschreiben: „Die Bewirtschaf- tung liegt in den Händen unseres Mitglieds Huber, des 2. Bezwingers der Matterhorn-Nordwand und sei- ner Ehefrau Elfriede ..." UM

FRAGEN SIE DR. BIERSNYDER!

Neurose

oder Kleptomanie?

Sehr geehrter Herr Doktor,

mein Sohn hat kürzlich ein Moped geklaut. Er kommt aus gutem Hau- se und wahrscheinlich hat er eine Neurose oder gar eine Kleptoma- nie. Was meinen Sie dazu?

Dr. Biersnyder antwortet: Ich glau- be, Ihr Sohn wollte das Motorrad besitzen, um damit herumzufah- ren und ohne es zu bezahlen. Die- sen Vorgang nennt man eigentlich Diebstahl, und der hat mit Neurose nichts zu tun. Möglicherweise ist Ihr Sohn anderer Meinung, aber darauf sollten Sie nichts geben.

1848 (42) Heft 25/26 vom 20. Juni 1986 83. Jahrgang Ausgabe A

Referenzen

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