M
ucksmäuschenstill ist es in der „Prärie“.Plötzlich ertönt eine Trommel. Vor dem größten Tipi des Dorfes stimmen sich die „Blaustirn-Indianer“ mit einem Tanz auf die bevorste- hende Jagd ein. Auf leisen Mokassin-Sohlen schleichen sie über die weiten Plains.
Orientieren können sich die Jäger allein durch ihr Gehör, ihren Geruchs- und ihren Tastsinn. Sehen können die
sechs kleinen Gäste des Westfälischen Museums für Naturkunde in Münster nicht, denn sie sind blind.
An diesem Vormittag gehört die Ausstellung
„Prärie- und Plains-Indianer“
den sechs Mädchen und Jun- gen im Alter von elf und zwölf Jahren ganz allein. Sie sind aus der Westfälischen Schule für Blinde, Soest, mit zwei Lehrerinnen und einem Vater angereist, um mit Werner Beckmann auf die Jagd nach neuen Eindrücken zu gehen.
Der Präparator am Naturkun- demuseum des Landschafts- verbandes Westfalen-Lippe vermittelt seit 1985 Nichtse- henden die Exponate. Vor- nehmlich montags, wenn das Haus für die Öffentlichkeit geschlossen ist und keine Ne- bengeräusche stören, können blinde Kinder ausgewählte Ausstellungsstücke ertasten.
Federschmuck an blauen Stirnbändern und Pfeil und Bogen hat Werner Beckmann eigens für die Gruppe vorbe-
reitet. Zahlreiche Gebrauchs- gegenstände der Plains-India- ner wie Trommel, Büchse und Mokassins liegen im Häupt- lings-Tipi bereit. Auf einem Bisonfell nehmen die ge- spannten „Jäger“ zum großen
„Palaver“ Platz. Werner Beckmann läßt die Mädchen und Jungen erst einmal er- zählen, was sie schon alles über Indianer wissen.
An Ideen, wie sich die zwangsläufig visuell angeleg-
ten Ausstellungen des Mu- seums vermitteln lassen, mangelt es Beckmann nicht.
Zahlreiche Ergebnisse aus Bastelaktionen zieren neben den Expertenarbeiten die Werkstatt des Naturkunde- museums und machen deut- lich, wie weit der Tastsinn ausgebildet werden kann, wenn die sonst so dominante optische Wahrnehmung weg- fällt. Immer neue Aktionen läßt sich der Präparator für seine nichtsehenden Gäste einfallen: „Einmal haben wir Radio gespielt: ein Kind war der Interviewer, ein anderes der Fachmann, und ich war der Zuhörer.“ So kam spiele- risch heraus, was die Kinder gelernt hatten. In einer Dino- saurier-Ausstellung wurde das Problem der Größe tech- nisch gelöst: Auf einer Hebe- bühne transportierte Werner Beckmann die blinden Kin- der zum Kopf der Rie- senechsen, denn: „Nur die Beine ertasten reichte ja
nicht aus.“ WZ
A-1135 Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 17, 26. April 1996 (71)
V A R I A FEUILLETON
Westfälisches Naturkundemuseum
Blinde Kinder ertasten die
Natur
Eine Schülerin wird ins „Bison-Ge-
hege“ des Museums geführt. 1 Foto: L
WL