1
I
11:1.,'11.:.,1.· • • • 11
BERICHTE
Standards von Gesundheitsleistungen
Leitlinien zur Qualitäts- sicherung diskutiert
In der Diskussion um medizinische Standards wird häufig der Sorge Ausdruck verliehen, dabei handele es sich um den Versuch, ärztliche und pflegerische Therapiefreiheit einzuschränken. Auf der anderen Seite wird darauf verwiesen, daß gerade im Hinblick auf die Verbesserung medizinischer Behandlung solche Bemühungen positiv zu bewerten seien. "Standards von Gesundheitsleistun- gen im Spannungsfeld von Rationalisierung und Rationierung" war Thema ei- nes Symposiums der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz.
rechtliche Bedeutung von Memoran-
den, Empfehlungen, Stellungnahmen,
Leitlinien und Richtlinien (dazu Ta- belle).
Dr. Rainer Hess, Hauptgeschäfts- führer der Kassenärztlichen Bundes- vereinigung (KBV), machte darauf aufmerksam, daß die KBV bereits in den 70er Jahren Merkblätter mit The- rapieempfehlungen herausgegeben habe. Diese wurden jedoch 1989 wie- der eingestellt. Im EDV-Zeitalter könnten sie jedoch wieder ins Leben gerufen werden. Hess fordert, Stan- dards wissenschaftlich abzusichern und laufend zu aktualisieren. Eine Neuauf- lage der Therapieempfehlungen hält Hess unter anderem für erforderlich wegen des Zwangs zur Sparsamkeit, zur Absicherung des Arztes gegenüber
Haftungsansprüchen und zur Begrün- dung der Vergütungsansprüche.
Bei der Entwicklung von Stan- dards sind, so Prof. Dr. Jörg Michaelis von der Abteilung für Informatik und Biometrie der Universität in Mainz, die kontrollierten medizinischen Stu- dien eher die Ausnahme. Methodische Ansätze seien unter anderem diagno- stische Kenngrößen und diagnostische Studien sowie außerdem die Struktu- rierung von Expertenwissen und -er- fahrung. Das verfügbare Methodenre- pertoire sei jedenfalls umfangreich.
Evaluationsmodelle für die Siche- rung eines medizinischen Standards sind neben Multi-Center-Studien bei- spielsweise Technologiebewertungen, die den Stand einer Technik bewerten, wie Prof. Dr. Wilhelm van Eimeren vom GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit GmbH Neu- herberg ausführte.
Die vor allem in den USA ange- wandten Peer Reviews sind "die syste- matische Beurteilung einzelner zurückliegender Handlungsabläufe und -ergebnisse durch externe Kolle- gen auf der Basis schriftlicher Materia- len (Krankenakten)", so Prof. Dr. Dr.
Hans-Heinrich Raspe, Institut für So- zialmedizin der Medizinischen Univer- sität Lübeck. Ihre Vorteile seien Of- fenheit und Flexibilität. Sie hätten je- doch auch zahlreiche Nachteile.
Daß Standards als Orientierungs- punkte für Qualitätssicherung und Versorgung durchaus sinnvoll sind, war die wohl einhellige Ansicht der Teilnehmer. In diesem Zusammen-
"Ich habe in meiner Laufbahn zahlreiche Standards kommen und ge- hen sehen. Viele davon waren nur kurzlebig", sagte Prof. Dr. Fritz Küm- merle, Mainz. Er plädierte deshalb für einen sinnvollen Umgang mit Stan- dards. Eine Forderung, die vom Hauptgeschäftsführer der Bundesärz- tekammer (BÄK), Prof. Dr. Christoph Fuchs, unterstützt wurde: "Der Begriff Standard hat einen normativen Bei- klang und löst Befüchtungen aus in Richtung zunehmender Verrechtli- chung und Reglementierung des Ge- sundheitssystems. Standards müssen jedoch die Therapiefreiheit nicht ein- engen. Sie wollen wohl eher verstan- den werden als Leitlinien, die eine Ori- entierung bieten." So habe Bundesge- sundheitsminister Horst Seehofer (CSU) für die dritte Stufe der Weiter- entwicklung des Gesundheitswesens die Vorfahrt der Selbstverwaltung be- tont. Vorfahrt der Selbstverwaltung bedeute jedoch auch konsequente Übernahme von Verantwortung. Es werde um die Frage gehen, was ausrei- chend, zweckmäßig, wirtschaftlich und für den Patienten notwendig ist. Die medizinische Orientierung müsse mit der ökonomischen Orientierung in Einklang gebracht werden. Dabei könnten Standards oder Leitlinien ei- ne Schlüsselbedeutung erlangen.
Tabelle: Definition der Bundesärztekammer-Papiere
Doch um über den Sinn und Nut- zen von Standards oder Leitlinien zu diskutieren, ist zunächst eine definito- rische Klärung unerläßlich. Brigitte Heerklotz, Dezernentin der Bundes- ärztekammer, erläuterte die berufs-
Klassifikation
Memorandum
Empfehlung SteUungnahme Leitlinien
Richtlinien
A-I004 (30) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 14, 7. April 1995
Beispiele
Arzneibehandlung im Rahmen "besonderer Therapierichtungen"
ErhebUng von Fehlbildungen
-
Indikation von Blut und Plasma prod uktenRichtlinien zur Blutgruppenbestimmung und
Bluttransfusion
Berufsrechtliche Bedeutung Information
und Handreichung
L
Information und Handlungsvorschläge
Diagnosl. und/oder therapeul. Standards
zusätzlich )Veitere Konsensuskonferenzen Verbindliche Regeln der
ärztlichen Kunst (lege artis)
THEMEN DER ZEIT BERICHTE/BLICK INS AUSLAND
D
ie Gesundheitsversorgung durch die öffentliche Hand hat in Finnland eine lange Traditi- on. Öffentliche Hebam- meneinrichtungen entstanden bereits im 18. Jahrhundert; gegen Ende des 19. Jahrhunderts traten Ärzte in den Dienst von Gemeinden. Eine lan- desumfassende Organisation der me- dizinischen Grundversorgung ließ aber noch lange auf sich warten (1).Dies liegt mitunter daran, daß Finn- land ein Land mit extrem geringer Be- völkerungsdichte und großen infra- strukturellen Unterschieden ist.
In den 40er Jahren wurden die Gemeinden zum Angebot von Schwangerschafts- und Mutterschafts- beratung verpflichtet. In den 50er und 60er Jahren entstanden landesweit Krankenhäuser (1, 2). Gleichzeitig wurde die Zahl medizinischer Studien- plätze erhöht, drei neue medizinische Fakultäten wurden gegründet sowie finnische Medizinstudenten im Aus- land ausgebildet. Noch Ende der 60er Jahre stand für 1 100 Einwohner ein Arzt zur Verfügung. Die öffentliche Hand verteilte 90 Prozent der Gesund- heitsausgaben an Fachkrankenhäuser, nur zehn Prozent standen der Grund- versorgung zur Verfügung (1). Die Arzthonorare wurden ohne feste Re- gelung vom Patienten direkt entrichtet.
Aufgrund der unzulänglichen Ba- sisversorgung und rasant steigender Kosten ohne hinreichende Effizienz wurde das Gesundheitswesen 1972 grundlegend reformiert. Das neue
„Volksgesundheitsgesetz" brachte ei- ne entscheidende Wende mit einem klaren Schwerpunkt auf der Grund- versorgung. Jede Gemeinde wurde zur Einrichtung einer Gesundheits- zentrale (GZ) verpflichtet, kleinen Gemeinden erlaubte man den Zusam- menschluß zu Verbänden.
Die Pflichten der GZ wurden im Detail festgelegt. Einen Teil der Ver- sorgung hatte die Gemeinde selbst zu finanzieren, vom Staat erhielt sie auf- grund eines von ihr erstellten Bedarfs- planes eine Unterstützung von 39 bis 70 Prozent, abhängig von den finanzi- ellen Möglichkeiten der Gemeinde (3). Auf diese Weise sollten die struk- turschwachen Gebiete des Nordens und Ostens stärker unterstützt wer- den. Der Anteil der Grundversorgung an den Ausgaben der öffentlichen Hand stieg von zehn auf 40 Prozent.
Der Anteil der Ausgaben am Brutto- sozialprodukt für den Bereich Ge- sundheit lag 1991 mit neun Prozent im Spitzenfeld der europäischen Staaten.
Die Arztdichte erhöhte sich auf einen Arzt pro 400 Einwohner (1, 4). Bemer- kenswert ist die drastische Verringe- hang wies Fuchs auf die jetzt gegründe-
te „Zentralstelle der deutschen Ärzte- schaft zur Qualitätssicherung in der Medizin" hin. Diese gemeinsame, pa- ritätisch besetzte Einrichtung von BÄK und KBV soll bei der Sicherstel- lung eines hohen medizinischen Ver- sorgungsniveaus für die Bevölkerung mitwirken.
Die Festlegung von Standards sei dann problematisch, wenn sie starr be- folgt werden sollten, erklärte Dr. Kar- sten Vilmar, der Präsident der Bundes- ärztekammer. Der Arzt müsse abwei- chen können: „Das ist Therapiefrei- heit." Allerdings, schränkte Vilmar ein, das Abweichen müsse begründet sein, denn „Therapiefreiheit sollte nicht mit Narrenfreiheit verwechselt werden" Vilmar machte auf einen we- sentlichen Unterschied zwischen am- bulanter und stationärer Versorgung aufmerksam. Im Krankenhaus seien umschriebene Krankheitsbilder häu- fig, während der Arzt in der ambulan- ten Versorgung oft mit diffusen Be- schwerden konfrontiert sei. Solche ent- zögen sich der Standardisierung.
Standards beziehen sich auch auf Organisationsabläufe in der Medizin wie im Gesundheitswesen allgemein.
Darauf machte der Unterriehmensbe- rater J. A. Bijkerk, Herdecke, auf- merksam. In diesem Sinne mag denn auch der von Kassen und Politikern gern vorgebrachte und von Prof. Dr.
Klaus-Dirk Henke (Hannover) in Mainz wiederholte Hinweis zutreffen, daß im Gesundheitswesen noch Ratio- nalisierungsreserven mobilisiert wer- den könnten.
Insgesamt, das ergab das Mainzer Symposium, ist die Bereitschaft, Stan- dards zu entwickeln, weithin vorhan- den, wenn sich auch zeigt, je mehr ins Detail gestiegen wird, wie kompliziert es ist, solche zu entwickeln, so daß ein Teilnehmer (Dr. Rudolf Grupp vom Bundesgesundheitsministerium) resü- mieren konnte, daß „wir noch weit da- von entfernt sind, das medizinische Handeln in Standards und Regeln zu fassen". Grupp hält das politisch für nachteilig. Die Therapiefreiheit sei heute nämlich nicht bedroht durch me- dizinische Standards; im Gegenteil, erst deren Fehlen habe zum Eindrin- gen ökonomischer Standards ins Ge- sundheitswesen geführt.
Gisela Klinkhammer/NJ
Gesundheitsversorgung in Finnland
Staat mit
einem Schuß privat
Bodo Wagner
Mit dem Beitritt Finnlands zur Europäischen Union am 1. Januar 1995 wurde die Gemeinschaft um einen Partner bereichert, der nach bewegter Geschichte zwi- schen den ehemaligen Machtblöcken eigene Erfahrungen einbringen kann. Im Bereich der medizinischen Versorgung hat sich in Finnland ein staatliches Ge- sundheitssystem entwickelt, welches gemessen an den außergewöhnlichen Be- dingungen des ehemaligen politischen Inselstaates vor allem in den Bereichen Schwangerschafts-, Mutterschafts- und Kinderbetreuung vorbildlich und weit über seine Grenzen hinaus bekannt ist. Der Beitritt zur Europäischen Union bringt für Finnland vor allen Dingen Umstrukturierungen im Bereich medizinischer Ausbildung und Standardisierungen im Bereich medizinischer Einrichtungen.
Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 14, 7. April 1995 (31) A-1005