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Ins Bergwerk des Aussergewöhnlichen. Zur Vorgeschichte des Montmartre und seiner Topografie

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Originalveröffentlichung in: Pfeiffer, Ingrid ; Hollein, Max (Hrsgg.): Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900 ; [... anlässlich der Ausstellung "Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900", Schirn Kunsthalle Frankfurt, 7. Februar - 1. Juni 2014]. Frankfurt ; München 2014, S. 58-65

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Markus Castor

INSBERGWERK

DES AUSSERGEWÖHNUCHEN

ZUR VORGESCHICHTE DES HONTHARTRE UND SEINER TOPOGRAFIE

1 »Sur le haut de Montmartre, se voyent des ruines d'un temple antique, dedie ä Mercure, d ce qu'on dit; et meme dans le jardin du prieure ... un autre temple consacrä, dit-on, ä Mars, que j'ai vu en 1657.«

Henri Sauval, Histoire et recherches des Antiquitäs de la ville de Paris, Bd.i, Paris 1724, S.349.

2 So nimmt etwa der Graf Caylus, berühmtester Antikenkenner der Zeit, die Befunde am Montmartre in seinen Recueil des Antiquites, Bd.2, Paris 1756, Taf.CIX und S. 367-393, auf.

Jede Metropole sah sich immer schon einer Verschiebung derjenigen Orte ausge- setzt, die man aufgrund ihrer besonderen Dynamik als »Durchlauferhitzer« aktuells- ter Befindlichkeiten bezeichnen könnte. Als katalytische Quartiere auf Zeit fabrizie- ren sie eine mythisch aufgeladene Vision, die auf Dauer ins historische Gedächtnis eingeschrieben ist. Montmartre unterlag den gleichen Mechanismen eindrücklicher Bebilderung und ist doch ein Sonderfall. Die Besonderheit erklärt sich aus der Vor- geschichte dessen, was früh schon in ein Amalgam zwischen Idyll und schönschauri- ger Stätte des Außergewöhnlichen mündete. Es ist die Geschichte dieser seltsamen Balance von Stadt und Land, Bürgertum und Arbeiterschicht, ländlicher Idylle und hektischer Betriebsamkeit, um die es hier gehen soll.

TEHPELBERG, HARTER UND IRDISCHE VERFEHLUNGEN

Als höchste Erhebung im Pariser Becken führte kein Blick am Montmartre vorbei.

Die beiden Heiligtümer vor den Toren der alten Stadt Lutetia machten den Hügel zu ihrem Hausberg. Henri Sauval bekundet in seiner Histoire et recherches des Antiqui- tes de la ville de Paris: »Auf der Anhöhe des Montmartre sieht man die Ruinen eines antiken Merkurtempels, so sagt man; und sogar im Abteigarten ... einen anderen, wie man sagt, dem Mars geweihten Tempel, den ich 1657 gesehen habe« (Abb.1).1

»So sagt man«, man weiß nichts genaues, und es sind genau jene Ungewissheiten, die der Berg wie ein Schwamm aufsaugt. Noch vor den großen Entdeckungen in Pompeji begann ab 1732 eine Ausgrabungskampagne,2 Vorspiel zur neuen Antiken- sehnsucht des Klassizismus und der Romantik. Doch hiervor steht das Mittelalter, das Montmartre zu pikanten Facetten verhilft.

Bereits die Gebrüder Limburg machen den Berg zum heraldischen Signet im Stundenbuch des Herzogs von Berry. Dies verdankt er dem ersten Bischof der Stadt, Dionysius, der um 250 auf dem Richtplatz des Montmartre enthauptet wird. Kopflos überquert er den Berg bis zum Ort seines Endes, Saint Denis, das als Grablege der französischen Könige zum identitätsstiftenden Heiligtum wird.

Es geht hier um die Versammlung folgenreicher, oft blutiger Geschichten, die den Berg zu durchtränken imstande waren. Zufluchtsort der ersten Christen, Ne- kropole, Benediktinerinnenkloster unter Königin Adelaide de Savoie - Montmartre ist eine Folge von Aufbau, Abriss und Veränderung. Von der alten, in der Revolution zerstörten Abtei gibt uns Louis Moreau ein lieblich verklärtes Ruinenbild (Abb. 2).

Montmartre, ein Umschlagplatz von Gütern und Nachrichten, Ort zweifelhafter oder hoffnungsvoller Handlungen.

Ignatius von Loyola gelobte hier in geheimer Zusammenkunft Armut und Keusch- heit, Initiation der Jesuiten. Für den Ruf des Berges schädlicher war Heinrich IV. Der

<- Rue Lepic, Moulin de la Galette im Winter, um 1900

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1 Etienne Martellange, Aspet de Labaie de Montmartre Les paris fait le 19 Mars 1625: Veue de l'Abbaye de Montmartre, 1625, Tinte und Bleistift auf Papier, 28,7x43 cm, Bibliotheque nationale de France, Paris

König habe mit der Äbtissin Marie, Claire, Claude oder Catherine de Beauvilliers (man ist sich uneins) ein Verhältnis begonnen. Die »Reputation de bordel« nimmt hier ih- ren Ausgang; nichts als ein Aufzählen lokaler Anekdoten, wenn sich die Geschichte nicht in die Gemüter nachkommender Zeiten und ferner Länder einschriebe. 1819/20 erzeugt die Atlgemeine Deutsche Real-Encyclopädie folgendes Image:

»Bald ward die Abtei Montmartre indeß aus einem Asyl der Frömmigkeit und Keuschheit in einen Tempel der zügellosesten Sitten verwandelt und die franz. Ge- schichte weiß, besonders in den Tagen der Ligue und Heinrichs IV. viel von den Ausschweifungen aller Art zu berichten, die hier von den sogenannten heil. Schwes- tern begangen wurden, die am Ende ihr Kloster ganz verließen und mit dem Heere Heinrichs IV. zogen, der eben so viel Geschmack an der jungen Äbtissin, wie seine Krieger an den Nonnen fanden, welche damals sämtlich jung waren. Später wurden die Sitten in diesem Frauenzwinger zwar wieder hergestellt, aber so versichert uns ein neuer franz. Schriftsteller, als sie eben auf dem Punkte standen, recht gut zu werden, brach die böse Revolution aus.«3 Bilder revolutionärer Propaganda, wie es bereits 1799 Ernst Moritz Arndt in seinem »Pariser Sommer« erkannte.4

ORIENTIERUNG

Weder Pariser Quartier noch entferntes Dorf auf dem Lande, ist Montmartre in Stich- werken Richtungsanzeiger: beim Aufbruch des Sonnenkönigs in den Holländischen Krieg oder der weniger noblen Rückkunft des Nachfolgers aus England. Von Natur aus Startplatz gescheiterter oder gelungener Aufstiegsversuche mit Ballon, präsen- tieren die neuzeitlichen Kartenwerke die solitäre Erhebung: prägnant in den Plänen von Vassalieu, während die Karte Jovins uns detailreich die von Abbaustätten des Gips umzingelte Kuppe zeigt. Allein die Nomenklatur der Straßen erzählt die Ge- schichte des Hügels (Rue des Abbesses, Rue Blanche; Straße der Äbtissinnen, Weiße Straße), der wie über eine Nabelschnur mit dem Mittelpunkt der Stadt kommuniziert.

Die Rue du Faubourg-Montmartre ist Lebensader des gleichnamigen Faubourgs. Die

3 »Montmartre«, in:

Allgemeine Deutsche Real-Encyclopädie, Bd.4, Leipzig 1824, S.509.

* Vgl. Ernst Moritz Arndt, Bruchstücke einer Reise durch Frankreich im Frühling und Sommer 1799, Leipzig 1802.

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5 Vgl. Annalen der Physik 27, 1807, und 24, 1818.

6 August Hermann Niemeyer, Beobachtungen auf Reisen in und außer Deutschland, Bd.4, Halle 1826, S.140.

7 Hermann von Meyer, Palaeologica zur Geschichte der Erde und ihrer Geschöpfe, Frankfurt a.M. 1832.

8 William Buckland, Geologie und Mineralogie in Beziehung zur natürlichen Theologie, Braunschweig 1839, S.97 9 Cuvier, Begründer der modernen Paläontologie, transferierte die Fossilienfunde des Montmartre in das Musee d'Histoire Naturelle. Vgl.

seine Lecons d'anatomie comparee, 5 Bde., Paris 1798-1805.

Rue Montmartre führt vom mittelalterlichen Markt (Les Halles) über den Boulevard Montmartre durch die Porte Montmartre hinaus in die Ebene (Abb. 3).

BLANC DE PARIS, ANTIKENSEHNSUCHT UND LANDPARTIE

Die auf dem Montmartre erprobten Neuerungen betra- fen nicht allein sittliche Abweichungen. Prägender waren die europaweit beschriebenen wissenschaftlichen Er- kenntnisse, etwa Cassinis Versuche zu Schall und Mag- netismus5 oder der Meridian, wie er 1807 vom nach Paris verschleppten August Hermann Niemeyer6 beschrieben wird: »Hier hat man den vollständigsten Ueberblick der Stadt ... Daher faßte schon im J. 1736 die Akademie der Wissenschaften den Plan, eine Pyramide zu errichten.«

Hermann von Meyer hingegen widmet sich 1832 dem

»Gyps« des Montmartre,7 und aus Oxford berichtet Wil- liam Buckland in seiner Geologie und Mineralogie in Be- ziehung zur natürlichen Theo/ogie: »Die Zahl der in dem Gyps des Montmartre aufgehäuften Thiere können wir daraus ermessen, dass nach Cuvier kaum ein Block aus diesen Gruben gebrochen wird, der nicht Bruchstücke

von einem fossilen Skelett enthielte.«8 Georges Cuvier entwickelte an ihnen seine Analysemethoden, die es erlaubten, aus Fragmenten auf das Ganze zu schließen.9 Was machen wir anderes?

Die 35 Millionen Jahre alte Formation bestimmte bis zur Mitte des lg.Jahrhun- derts nicht nur die Narbentopografie, sondern auch das Sozialgefüge. Die im Ta- gebau oder in unterirdischen Gängen abgebauten Vorkommen regten ein Heer von Zeichnern zu mythischen Ruinenlandschaften oder erhabenen Bergformationen an.

Als der Erwerbszweig des Montmartre diktierte der Gips das Leben und seine Be- hausungen. Gipsarbeiter und Gipsöfen sind Thema der Künstler seit dem i8.Jahr-

2 Louis-Gabriel Moreau, Demolition de l'abbaye de Montmartre, 1794, Öl auf Leinwand, 67x48 cm, Musee du Louvre, Paris

3 Georges Michel, Vue de Montmartre, um 1800, schwarze Kreide und Aquarell, 18,1x29,8 cm, Musee du Louvre, Paris

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hundert. Louis-Desire Thienon (Abb. 4) zeigt uns einen Steinbruch, dessen wilde Er- scheinung bereits an die Stadt grenzt. Man gewinnt den Eindruck eines Naturraums, wie er in Italien hätte gesehen werden können - eine Einladung zu Landausflug und gefahrlosem Abenteuer (Abb.5).

1611 wurde bei den Fundamentarbeiten in der Chapelle des Martyrs die Kryp- ta eines Vorgängerbaus entdeckt. Das bescherte Montmartre eine erste Welle von Touristen (prominent Maria de Medici im Gefolge ihrer Hofdamen). Publikationen wie der Abrege des antiquites de l'abbaye de Montmartre von 1669 sollten die Antiken- sehnsucht zusätzlich befördern, der Montmartre wurde zum Magnet für akademische Archäologen und Hobbyausgräber zugleich. Nach dem Abflauen der Pilgerströme seit der Revolution und der Auflösung der Abtei erhielt das Leben eine beschauli- che Existenz zurück, geprägt von Weinbauern, Müllern und Arbeitern, unterbrochen vom Rhythmus des Kanonendonners, der je nach Lage Attacke oder Verteidigung bedeutete.

10 »Spaziergänge durch Paris«, in: Morgenblatt für gebildete Leser 58, 1864, S.257.

EINSCHNITT

Die Industrialisierung, befeuert mit dem Bau der großen Bahnhöfe (ab 1846), ließ die Einwohnerzahl auch des Montmartre explodieren. Die einschneidendste Verän- derung war die im Zuge der Haussmannschen Stadterneuerung vollzogene Einge- meindung und das Hereinfräsen der Grands Boulevards (1860-69) als Nahtstelle von bürgerlicher Flaniermeile und gedrängter Bebauung des Berghangs. Mit dem Abbauverbot schenkte Napoleon III. den Parisern einen Ring von Parks um die Stadt, darunter den ab 1864 aus der fantastischen Kraterlandschaft modellierten Parc des Buttes Chaumont. Dieser Wandel wurde auch anlässlich der Weltausstellung regis- triert: »Nachdem sie sich lange genug geputzt hat mit Hotels und Palästen und Mo- numenten, denkt sie jetzt an wohnliche Bürgerhäuser, an breite Straßen mit breiten Trottoirs; dem Fußgänger wird zuletzt auch sein Recht zuteil und die Demokratie hat ihr Gutes.«10 Kaiser wie Morgenblatt dachten hier ans Bürgertum. Der soziale

4 Louis-Desire Thienon, Carridres ä l'est de Montmartre, 1832, Grafit auf Papier, 22,8 x 32 cm, Bibliotheque nationale de France, Paris

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5 Charles Ransonnette, Montmartre, Fontaine, um 1837, braune Tinte und Aquarell auf braunem Papier, 14,7x21 cm, Bibliotheque nationale de France, Paris

11 »Ein Spaziergang auf dem Montmartre«, in: Der Sammler 38, 29.31834, S. 154-155.

12 »Vous eussiez reprim^ ces desordres par la sev^rite de vos ordonnances les lieux de prostitution et de debauche publique et scandaleuse«. Archives Nationales, Ze, 2397.

»Zuerst war ich in den sogenannten Gingettes oder Vergnugungslocalen für die Bürgerfamili- en und Handwerker, die lieber eine Stunde weit hinausgehen, um an der Flasche Wein zwey Sous zu ersparen. Nach ihnen besuchte ich ...

zuletzt das Dorf Montmartre auf der Oberfläche. Wer's nicht weiß, daß es ein Dorf ist, wird es gleich an den Misthaufen und Hühnerställen sehen. ... Es gibt im ganzen Departement der Seine keine Windmühlen als auf diesem Fleck der Erde, auf diesem kleinen Monte Picino der Hauptstadt.« August Taxel schreibt dies 1834 in der Wiener Wochenzeitung Der Sammler.11

1770 erwarb die Müllerdynastie Debray die Mühlen Moulin de la Turlure und Mou- lin de la Galette von 1622 im Doppelpack. 1810 zählte Montmartre 16 autorisierte bals, Tanzveranstaltungen, die aus dem höfischen Umfeld des Mittelalters stammten, in der Regence-Zeit als bals publics öffentlich gemacht wurden und sich mit der Re- volution vervielfachten. 1834 eröffnete der Bal Debray, der sich schnell zum Moulin de la Galette entwickelte. Eugene Ciceri gibt uns ein Bild der Moulin Blute-fin, die von der Moulin de la Galette später den Namen erhielt (Abb.6). Die bals sind keine Erfindung der Belle Epoque. Auch die Cabarets sind älter. Von 1560 stammt das De- kret, welches den Schenken gestattete, »den Leuten vor Ort zu trinken zu geben«.

Früh assistierte dem Gastwirt, dem sogenannten cabaretier, eine cabaretiere, die bisweilen auch Tänzerin war, zu einer Zeit, die mit actrice

auch Kurtisane meinte. Die Etablissements im Faubourg erfuhren einen sprechenden Wandel der Namen. Taufte man sie im 17. Jahrhundert etwa Image Sainte-Anne, wur- den im 18. Jahrhundert animalische Etiketten (La Pie, Les Rats; Die Elster, Die Ratten) bevorzugt. Man machte Anlei- hen am Thema der Galanterie (Tle d'Amour; Insel der Liebe) oder bezog sich auf die lokale Geschichte (Aux Armes de Madame l'Abbesse; Zum Wappen - oder den Waffen - der Äbtissin). 1749, so lässt sich in den Polizeiakten der Archi- ves Nationales nachlesen,führte ein Kontrollgang zur Ent- fernung von die guten Sitten missachtenden Bildern der Venus, des Merkur und des Bacchus über den Türen der Cabarets: »Ihr hättet diese Liederlichkeiten mit aller Stren- ge der Ordnungsgewalt zu ahnden, die Orte der Prosti- tution und der öffentlichen und skandalösen Ausschwei- fungen«.12 Die Klientel war noch nicht bourgeois und die Quelle beklagt das Fehlen »geistiger Nahrung«. Die Kund- schaft setzte sich aus den Arbeitern der Kalkwerke, Solda- ten und Priestern zusammen. Erst mit der Aufklärung hielt

6 Eugene Ciceri, Le Moulin de la Galette ä Montmartre, 1856, Öl auf Leinwand, 41,5x30,5 cm, Musee Carnavalet, Paris

Druck auf die Arbeiterschicht hingegen führ- te zu einer Verschiebung des Sozialgefüges, zum Mikrokosmos einer Halbwelt mit gehöriger Sprengkraft. Mit seinen unzähligen Abraumhal- den, Kavernen und Mulden wurde der Montmar- tre mit zunehmender Bevölkerung auch größter Mülleimer der Stadt.

MÜHLEN UND CABARETS

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das Bandenwesen Einzug. Cabarets wie etwa das Veau qui Tette wurden zu Ver- stecken mit rückwärtigen Gipsstollen zum Logieren von Dieben. Das Tableau eines verruchten Laboratoriums des späten 19. Jahrhunderts ist Halbwahrheit, die das alte Gewerbe in neuen Schläuchen verkauft. Bis dato gab es nur keine Bilder. Neu ist die Inszenierung des alten Stücks.

KLIHAX DES ELENDS

Die erste Jahrhunderthälfte ergibt sich den Kriegen. Hier gibt es auch Bilder: Blü- chers Entsatz gen Montmartre und endlich der Einmarsch des Zaren mit Friedrich Wilhelm vom Berg in die Stadt. Die Macht der Frauen, seit jeher Gravitationszentrum des Berges, spielt auch auf politischem Parkett eine Rolle, unter ihnen Louise Michel, die mutige Aktivistin der Kommune. Der Orientmaler Jules Giradet malt ihr Porträt noch ganz den Topoi der historischen Reportage verbunden. Die Brisanz scheint fast folgerichtig der Soziologie des Montmartre zu erwachsen. Zwischen die Unter- haltungslokale mischen sich Debattierklubs wie der Club de la Revolution oder der Frauenclub Boule Noire. Und dann? 1873 kommt es zur Ikone der Dritten Republik, zum Bau des nationalen Keuschheitsgelübdes Sacre-Cceur, auch ein Höhepunkt des Pariser Beckens.

Die 7oer-Jahre des 19. Jahrhunderts mag man auch als Klimax des Elends be- schreiben, die bis 1914 den Weg freigibt für eine Belle Epoque, die das Etikett des Montmartre gezeichnet hat. Aus Sicht des Bürgertums ein Panoptikum des Häss- lichen: Schindanger der jährlich 12000 Pferdekadaver, in deren Abdeckereien die Blutseen zur Würmerzucht genutzt wurden, Fäkaliengruben, die aus Tonnen menschlicher Exkremente den im französischen fast schon kosmetisch klingenden Dünger (poudrette) gewannen, mit einem Kleingewerbe zur Herstellung von Seifen, Leinwänden und Tinten.13 Doch das Kabinett des Absonderlichen steht noch in auf- fälligem Kontrast zum blinden Fleck im Auge der Künstler. Immerhin, ein subversives Klima der Kontraste, das dem Widerständigen auch in der Kunst entgegenkommt.

7 Theodore Gericault, Le Four ä plätre, um 1821, Öl auf Leinwand, 50 x 61 cm, Musee du Louvre, Paris

OPTIONEN DER BILDER

Montmartre als Staffage von Allerweltsthemen vor der großen künstlerischen Revo- lution? Wer sind die ersten Künstler von Rang, die auf dem Hügel wohnen? Horace Vernet, Historienmaler, der die Barrikade von Clichy von 1814 verewigt. Theodore

Gericault zeigt uns eine Gipsbrennerei (Abb. 7), die mit düsterem Kolorit zwischen ländlichem Genre und leiser Sozialkritik changiert. Camille Corot, der um 1830 auf dem Montmartre lebt, hat uns unter anderem - in einer Reihe mit sei- nen idealisch schönen Ansichten von Italien und der Provinz - eine Ansicht von Montmart- re hinterlassen. Man geht kaum fehl, wenn man die vielen hier entstandenen Landschaften auch einer Italiensehnsucht der Daheimgebliebenen zuschreibt, derjenigen ohne Mittel zur Kava- lierstour.

Sieht man von großen Namen ab, so ist Georges Michel zu nennen. Als Vorläufer der Pleinair-Schule prägte er mit der Übernahme malerischer Eigenarten eines Ruysdael oder

13 Vgl. Annales d'hygiäne publique et de mädicine lägale, Paris 1832, Bd.8, premiere partie, S.127.

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8 Giuseppe Canella, Vue du boulevard Montmartre o Paris, 1830, Öl auf Holz, 22x31,5 cm, Musee d'art Thomas-Henry, Cherbourg-Octeville

Hobbema das Bild des windmühlenbestandenen Bergs. Doch auch hier: urwüchsi- ger Naturraum, kein Brennglas sozialer Interaktion. Was das musee imaginaire des großen Publikums betrifft, ist die Unzahl der Pariser Journale prägend. Ganze Bilder- serien erscheinen und Adolphe-Felix Cals füllt ein Skizzenbuch zum Berg.

Idyllische Landschaften, geologische Momentaufnahmen, Genrebilder vorstädti- schen Lebens oder politische Ereignisbilder - es scheint, als fußten die Bilder Mont- martres auf alten Kategorien, der Eco/e du Nord mit ihrer holländischen Sicht auf die raue Landschaft und auf der idealisierten Landschaft der Italienfahrer. Die Bilder können nur das ins Visier nehmen, wofür eine Passform der Gattungen existiert. Die Sujets sind darstellungswürdig, weil sie der akademischen Klassifikation entspre- chen, die der Kunst ihre Aufgaben zuweist. Nicht von ungefähr wird sich die Befrei- ung der Kunst fernab der Akademie formieren, in einer Flucht an die Peripherie. Mit seinen neuen Perforationen sorgt das Zusammenrücken an der Nahtstelle städti- scher Welten von bürgerlich mondäner Pracht und bedrängter oder überbordender Lebenslust für den Inkubationstubus des Aufbruchs in die Moderne (Abb.8). Das in Auflösung begriffene System der Künste trifft hier auf die Fata Morgana sozialer Be- freiung und die fruchtbare Implosion der Konventionen. Ein Blätterteig geschichteter Imagination, der immer neue Spiegelbilder erzeugt.

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