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Archiv "Unser Gedächtnis" (08.03.1990)

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DAS EDITORIAL

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Unser Gedächtnis

Rudolf Gross

„Memory"-Forschungen

Während bis vor zehn bis zwanzig Jahren das menschliche Gedächtnis recht undurchsichtig und Gegenstand verschiedenartiger Theorien war (und zum Teil noch ist), sind in neuerer Zeit

— neben zahlreichen experimentellen Arbeiten von Neurobiologen, Neurophysiologen, Neuro- biochemikern, Informatikern, Verhaltensfor- schern, Neuropsychologen, Psychiatern — einige ausgezeichnete Zusammenfassungen erschienen, zum Teil in Deutsch, die durchweg mit einer um- fassenden Literatur ausgestattet sind und in den wesentlichen Punkten übereinstimmen Beispiel- haft seien genannt: Popper und Eccles (3), der Nobelpreisträger Eccles (1), Gerke (2), Rah- mann und Rahmann (4), Squire (5-7).

Einen neueren Höhepunkt erreichte die Dis- kussion über das Gedächtnis in dem von Prof. L.

R. Squire, San Diego/La Jolla/Kalifornien, wis- senschaftlich geleiteten Symposium vom 15. bis 19. Oktober 1989 in Bernried bei Tutzing des Veterans Administration Instituts San Diego.

Der Berichtsband mit den Diskussionen wird in absehbarer Zeit (1990?) im Schattauer-Verlag, Stuttgart/New York, erscheinen. Die Einsichten in das menschliche Gedächtnis wurden vor allem ermöglicht durch methodische Fortschritte.

Schon seit langem gibt es Naturexperi- mente und operative Eingriffe (etwa zur Be- handlung von sonst nicht beherrschbaren An- fallsleiden, bei Tumoren, Unfällen mit lokalisier- ten Defekten, ein- oder doppelseitig, sowie gene- ralisierten Krankheiten wie dem Korsakow-Syn- drom, der Alzheimerschen Krankheit und ande- ren), deren Ergebnisse inzwischen mit einer Vielzahl von Methoden über Jahre hin verfolgt und bei späterem Tod durch Elektronenmikros- kopie, Spezialfärbungen mit oder ohne monoklo- nale Antikörper (zum Beispiel 5,7) aufgearbeitet wurden.

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Dazu kommen einerseits experimentelle Eingriffe, vor allem bei Kleintieren mit nur weni- gen Tausend Neuronen wie der Meeresschnecke Aplysia, der Fliege Drosophila, Honigbienen, über Mäuse bis hinauf zu Affen, bei denen die Gruppe um Squire (5, 7) Amnesien ähnlich den menschlichen erzeugen konnte. Biochemisch und histologisch wurden einerseits Defekte, an- dererseits die Wirkung von Hirntransplantaten untersucht — funktionelle mit anterograder (ge- störter Merkfähigkeit) oder retrograder Amne- sie (Erinnerungslücken).

Die zum Teil noch bestehenden Schwierig- keiten liegen in der Ein- oder Doppelseitigkeit der Eingriffe, partieller und zum Teil ersetzbarer oder regenerationsfähiger Ausfälle. Auch ist die Grundfrage noch ungeklärt, ob Tiere über ein Langzeitgedächtnis sowie über Reflexionen über sich selbst im menschlichen Sinne verfügen.

Einige Zahlen

Unbestritten ist heute die Unterscheidung zwischen einem Kurzzeitgedächtnis (zirka 20 Mi- nuten bis maximal zwei Stunden), das im wesent- lichen die Informationen, ausgedrückt in bits = ja-nein oder 1-0-Alternativen, an den spezfi-

schen Rezeptoren und Zentren selektiv und un- ter Zuziehung von bereits vorhandenen Informa- tionen, Vorstellungen usw. speichert und später weiterleitet. So bleibt bei Störungen des Zwi- schenhirns das Kurzzeitgedächtnis intakt, nicht aber das Langzeitgedächtnis. Nach Rahmann und Rahmann (4) werden alle diese Zentren zu- sammen in der Sekunde von 10 9 bis 1011 bits an Informationen erreicht, von denen etwa 16/sec.

bei einer Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses von 103 bis 104 bits oder mehr (2) gespeichert werden. Die meisten Autoren (zum Beispiel 1, 3, 5-7) trennen davon ab das Langzeitgedächtnis (10 ° bis 10' bits), während Rahmann und Rah- mann (4) noch ein mittelfristiges Gedächtnis (10 3

bis 10 4 bits über Minuten bis Stunden) dazwischen- schalten, das seinerseits wiederum nur einen Bruchteil in das Langzeitgedächtnis überführt.

Das menschliche Zentralnervensystem um- faßt 10 11 bis 1012 Neuronen, die mit einem langen Achsenfaden (Axon, bis über 1 m!) bis zu 1000 bis 10 000 Kurzverbindungen (Dendriten) mit ande- ren Nervenzellen verbunden sind. So ergeben sich 1014 bis 10 15 interneuronale Kontaktstellen (4).

Bei biochemisch und morphologisch etwas verschiedenem Bau ist das Grundschema in der Sequenz Neuronenzelle — Präsynapse — Zwischen- raum — Postsynapse — Neuronenzelle ubiquitär.

Bei der rein elektronisch arbeitenden Synap- se beträgt der Extrazellularraum rund 2 nm; da- mit kann die Kontinuität der elektrischen Lei- tungen durch den Ionenstrom bei sehr geringer Verzögerung erfolgen („gap junction"), siehe auch bei (4). Demgegenüber ist des Extrazellu- larraum zwischen den meisten Nervenzellen auf 20 bis 50 nm erhöht und damit rein elektrisch nicht zu überbrücken. Zur Vermittlung von Informatio- nen sind sogenannte Neurotransmitter oder pep- tide erforderlich (osmotisch-elektrische über- mittlung [4]). Die Transmission durch Öffnung von zum Beispiel Kalziumkanälen, Transmitter- ausschüttung, Diffusion, Rezeption, Auslösung eines postsynaptischen Potentials führt zu der be- deutsamen Verzögerung von 0,3 bis 0,5 m/sec. (4).

A-770 (64) Dt. Ärztebl. 87, Heft 10, 8. März 1990

(2)

Das Gehirn ist also über diesen elektrochemi- schen Weg den hohen Geschwindigkeiten gut lei- tender Elektronenrechner deutlich unterlegen.

Vielleicht liegt darin eines seiner Geheimnisse Während die Computer, mindestens der 1.

bis 3. Generation, nach dem Prinzip J. v. Neu- manns die einprogrammierten Aufgaben se- quentiell (erst A, dann daraus B, dann C . . . usw.) mit einer 104 bis 105 mal so hohen Ge- schwindigkeit wie das Gehirn lösen, arbeitet die- ses (und zum Teil die Computer der 4. und 5.

Generation) parallel, was wesentliche Vorteile zu bieten scheint und zum Teil mit verantwortlich für die ersten differentialdiagnostisch brauchba- ren Expertensysteme ist. Wie der Informatiker Gerke (2) in seinem Buch immer wieder betonte, ist das menschliche Gehirn eines der (zwischen den Neuronen) am stärksten „verdrahteten" Sy- steme, die wir kennen.

Abrufbar gespeichertes Wissen über ein Menschenleben hin (Langzeitgedächtnis) um- faßt 0,1 bis höchstens 1 Mio. bits. Wie und wo diese abrufbaren Einzelheiten (zum Beispiel ein- zelne Erinnerungen aus der Jugend) individuell gespeichert sind, ist bei maximal 100 Aminosäu- ren, Enzymen, etwa gleich vielen Gangliosiden, 30 bis 50 Botenstoffen (Neurotransmittem), Kanä- len für Kalzium, Kalium, Natrium und vielleicht weiteren Ionen dem Referenten unklar. Darüber wurde auch in Bernried nicht gesprochen. Betont wurde aber allgemein die außerordentliche Plasti- zität des Gehirns und die Fähigkeit, sich den jewei-

ligen Situationen anzupassen. Adaptation durch Lernprozesse ist die Integration früherer Erfah- rungen im Langzeitgedächtnis.

Morphogenese und

Physiologie des Gedächtnisses

Während zum Beispiel von Eccles (1) und anderen noch vor zwei Jahrzehnten angenom- men wurde, daß „Gedächtnis" allen oder den meisten Neuronen zukäme, wird das (Langzeit-)- Gedächtnis heute einer relativ begenzten Zahl von Neuronen (zum Beispiel Rauschecker, bei 7) im vorderen und mittleren Teil des Schläfenlap- pens (Sherry, bei 7) und besonders im phyloge- netisch älteren Teil des Zwischenhirns (zum Bei- spiel mediodorsaler Teil des Thalamus — an er- ster Stelle aber dem Hippocampus zugeschrie- ben [5, 7]). Vermutlich wirken die untereinander verbundenen Neuronen im Sinne einer Arbeits- teilung zusammen. Squire (6) unterscheidet da- bei: Informationsaufnahme — Konsolidierung — Aufbewahrung (Speicherung). In dieser Rich- tung sprechen schon die ganz verschiedenen an- terograden und retrograden Amnesien bei den eingangs genannten einseitigen oder partiellen Verletzungen. Immerhin dominiert der Hippo-

campus unter den derzeit bevorzugten Regio- nen. So haben auch Rahmann und Rahmann (4) unter ihren derzeit aktuellen Gedächtnismodel- len das Hippocampusmodell besonders heraus- gestellt (neben den von ihm besonders herausge- stellten Gangliosiden [8]).

Für die Übertragung von Impulsen (Polari- sation, Depolarisation) im beschriebenen che- moelektrischen Sinn kann man heute 30 bis 40 sogenannte Neurotransmitter unterscheiden.

Die wichtigsten von ihnen sind Dopamin, Adre- nalin, c-AMP, Noradrenalin, Acetylcholin und besonders das Serotonin ( = 5-Hydroxytrypta- min), bei den Aminosäuren Glutamin, Aspara- ginsäure, Gamma-Aminobuttersäure (GABA).

Als Hemmstoffe bestimmter Gedächtnisfunktio- nen sind Scopolamin und Atropin, an Antagoni- sten besonders Cycloheximid eingehender unter- sucht worden. Die Pharmakologie des Gedächt- nisses steht aber wegen der komplizierten Ver- hältnisse an den genannten Synapsen und der Blut-Liquorschranke erst am Anfang. Jedenfalls sind Störungen des (Langzeit-)Gedächtnisses kein „alles oder nichts" (6). Auch die Rolle der Glia (Stützfunktion? Stoffwechsel? Aktive Mit- wirkung?) gegenüber den Neuronen ist noch nicht ausreichend geklärt

Ausblick

Wenn auch noch vieles von den molekula- ren, morphogenetischen, physiologischen und pharmakologischen Grundlagen des mensch- lichen Gedächtnisses unklar ist, so sind doch die Fortschritte in unseren Kenntnissen gerade wäh- rend der letzten zehn bis zwanzig Jahre beein- druckend. Die relativ einheitlichen Reaktionen von niedrigen Lebewesen bis zum Primatenmo- dell lassen erhoffen, daß auch für die Pathophy- siologie und Pharmakologie des Menschen, zum Beispiel das Verständnis der Alzheimerschen Krankheit (Defekt am Chromosom 21? Price bei [7]), der Behandlung von Alterungsprozessen, sich neue Perspektiven eröffnen.

Literatur

1. Eccles, J. R.: Das Gehirn des Menschen; deutsch bei Piper, München, 1984

2. Gerke, P. J.: Wie denkt der Mensch? München, Bergmann, 1987 3. Popper, K. R.; Eccles, J. L.: Das Ich und sein Gehirn; deutsch

bei Piper, München, 1982

4. Rahmann, H.; Rahmann, M.: Das Gedächtnis. München, Berg- mann, 1988

5. Squire, L. R.: Mechanism of Memory. Science 232 (1986) 1612 6. Squire, L. R.: Memory and Brain. London, Oxford Univ. Press,

1989

7. Squire, L. R. (Edit.): Memory. Stuttgart, Schattauer, 1990 (im Druck)

8. Rahmann, H.: Fundamentals of memory foundation. Fischer, Stuttgart 1990 (im Druck)

Prof. Dr. med. Dr. h. c. Rudolf Gross Herbert-Lewin-Straße 5, 5000 Köln 41 Dt. Ärztebl. 87, Heft 10, 8. März 1990 (65) A-771

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