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Geschichtliche und kulturelle Relativierung der Religion bei Nikolaus Cusanus

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Markus Riedenauer

Geschichtliche und kulturelle Relativierung der Religion bei Nikolaus Cusanus

In Reaktion auf den Fall Konstantinopels 1453 verfaßte Nikolaus einen visionären Dialog der Religionen über den Frieden im Glauben. De pace fidei wurde häufig als ein früher Beitrag zur Entwicklung religiöser Toleranz gedeutet, das Motto una reli- gio in rituum varietate als Legitimierung einer bestimmten Ritenpluralität. Dabei weist der Begriff der Riten auf die kulturelle Dimension jeder Religion und das Ziel des Friedens auf die politische Dimension hin. Hinzu kommt schließlich die theologi- sche Interpretation der religiösen Pluralität, die Nikolaus auf religionsphilosophi- scher Grundlage vornimmt. Das alles ergibt ein schwierig zu analysierendes Ge- flecht von Argumentationssträngen in der Religionstheorie und politischen Ethik des Cusanus. In diesem Beitrag versuche ich, deren Hintergrund auszuleuchten, von der geschichtlichen und kulturellen Dimension religiöser Pluralität her.

Die Neuzeit ist geprägt von friedensgefährdenden Pluralisierungsschüben – ich möchte in vier Schritten zeigen, daß Nikolaus aufgrund seiner wachen Zeitgenos- senschaft mit dem Humanismus diese Herausforderungen, welche die eigene christ- liche Tradition relativierten, annahm. Sein lebenslanges theoretisches und prakti- sches Streben nach Konkordanz, Friede und Einheit muß ihn dafür besonders sen- sibel gemacht haben.

1. Humanistische Geschichtsdeutung: diachrone Relativierung von Kultur und Religion Im italienischen Humanismus brach eine Geschichtstheologie, die das Mittelalter beherrscht hatte, zusammen und machte mit einem neuen historisch- hermeneutischen Paradigma einem Bewußtwerden dessen Platz, was kulturelle Dif- ferenz, mithin was Kultur an sich ist. Jene mittelalterliche Geschichtsdeutung war von der Fiktion eines ewigen Rom mit göttlicher Berufung zur Weltherrschaft aus- gegangen. Sie verband die christliche Heilsgeschichte mit der vergilischen und überdeckte damit die Brüche zwischen Antike und Mittelalter: das Christentum, konzentriert um den lateinischen Patriarchen in der Roma aeterna, als Fortsetzung und Erfüllung der Antike (oft verbunden mit der Theorie der vier Weltreiche aus dem Buch Daniel).

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Seit Petrarca aber sprach man von der declinatio imperii Romani (vgl. Leonardo Bruni, später Flavio Biondo1), das bedeutet: Durch diese Verfallsthese wurden die geschichtlichen Differenzen nicht mehr zugunsten der Kontinuitäten minimiert.2 Von da an entwickelte sich Geschichte als Wissenschaft, von einem integralen Be- standteil der studia humanitatis bis zu der Behauptung, sie sei erhaben über alle Wis- senschaften.3 Diese humanistische und säkulare Alternative zur Fiktion einer heils- geschichtlichen Kontinuität eines imperium romanum und die Relativierung der Idee eines orbis christianus ermöglichte einen realistischeren Blick auf historische Epo- chen, Entwicklungen und Dokumente.4 Der „Momus“ des Leon B. Alberti, verfaßt vor 1450, folgert aus einer entmythisierenden Analyse menschlichen Handelns, daß die Geschichte in den Bereich des angenommenen Identischen, der ewigen Ord- nung, einbricht.5 In dieser neuen Sicht konnte Geschichte zu einem Werk des Men- schen werden – in einer Weise, welche als „demystification of politics“ (Ernst Kan- torowicz) bezeichnet wurde. Auch die Religion entfaltet sich schließlich geschicht- lich. Ich nenne die Folge dieser Wandlung des geschichtshermeneutischen Para- digmas eine diachrone kulturelle Relativierung: Im Rückblick zeigte sich die Relati- vität, Zeitbezogenheit und Wandelbarkeit aller Kultur, wobei hier die Religion eher implizit enthalten ist.

Cusanus wurde aufmerksam auf die Verschränkung von Geschichte, Religion und Kultur, theologisch formuliert: auf die Inkulturiertheit jedes Glaubens, und zwar grundsätzlich, trotz relativ geringer Kenntnisse außerchristlicher Kulturen (Ramon Lull kannte immerhin die islamische Welt aus eigener Erfahrung). Interessiert war

1 Historiarium ab inclinatione Romanorum imperii decades, Venetiae 1483. Siehe Garin, Il concetto della storia, bes. 114 ff. „Lo scrittore medievale tende ad appiattire veramente tutto il passato in un’

unica dimensione“ (114).

2 Becker bemerkt einen „sense of distance from the recent past [...] feeling of disjunction from the historical universals of the late Middle ages“ (Essay 301). Das bewirkte „a novel mode of historical consciousness“ (Essay 303).

3 Vgl. Kelley, Donald: The Theory of History. In: Schmitt/Skinner/Kessler/Kraye (Ed.): The Cambridge History of Renaissance Philosophy Kap. 21; zum Unterschied von mittelalterlichem und modernem Geschichtsdenken siehe 747. Gilmore beschreibt den Weg von einer fast naiven Annahme, daß die Geschichte unmittelbare Hilfe bei der Gestaltung der Gegenwart sei (v.a. bei Petrarca), bis zu einer Trennung von „akademischer“ Geschichtsforschung und praktischer, sys- tematischer Handlungsanleitung bei Jean Bodin.

4 Ein Beispiel dafür, daß Nikolaus Cusanus das neue historische Bewußtsein teilt, ist die Aufde- ckung, daß die „Konstantinische Schenkung“ gefälscht ist, welche ihm zusammen mit Lorenzo Valla zugeschrieben wird. Auch nach Buck, Geschichtsdenken, zeigt sich im humanistischen Ge- schichtsverständnis besonders deutlich eine Zeitenwende.

5 Vgl. Grassi, Einführung 130-144.

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Nikolaus, wie seine Bibliothek zeigt, z.B. glossierte er 1446 Marco Polo.6 Schon De conc. cath. III,6 zählt riesige Gegenden der Welt auf, was die Weite des cusanischen Horizontes zeigt: Asien, Afrika, das unermeßliche Indien mit 9000 Städten, Äthio- pien mit 70 Königen usw.7 Dabei interessieren die religiösen Vorstellungen am meisten.8 Bereits die erste Predigt des Nikolaus sammelt die Gottesnamen der alten Griechen, deren Vielfalt er systematisiert, der Lateiner, Tartaren, Deutschen, Sla- wen, Muslime und Chaldäer.9

Cusanus erkennt die Freiheit geschichtlicher Gestaltung einer Religion in der Kirchengeschichte. Der konziliaristische Autor von De conc. cath. mit seiner huma- nistisch genauen Analyse alter Konzilsakten, die auch einen Niedergang der Kir- chenstruktur zum Papismus offenbaren,10 der Mitentdecker des gefälschten Cha- rakters der sog. Konstantinischen Schenkung, der Verfasser der Hussitenbriefe, wo die kontingente, freie Ausgestaltung biblischer Vorgaben durch die Kirche gesehen

6 Vgl. Acta Cusana I 2 Nr. 150 p. 505. Allerdings zeigt sich Nikolaus in manchen Werken rein doktrinär, wenig kulturell interessiert, wie Hopkins von der Cribr. Alk. feststellt: „The Koran itself was viewed by Nicholas not as a cultural expression of the human spirit but rather as a book of doctrines“ (Pia interpretatio 272). Burgevin kritisiert Cusanus für schlechte Kenntnisse sowie eine widersprüchliche und tendenziöse Interpretation des Islam, wogegen Hopkins seine detaillierte Analyse des differenzierten hermeneutischen Instrumentariums der Cribr. Alk. stellt.

7 h XIV/3, n.343, 8-20. Biechler bezeichnet Cusanus als empfindsamen Denker mit kosmopoliti- schem Bewußtsein (Language 79). „Cusanus’ age was the first since classical times to be con- fronted so dramatically with the reality of cultural and historical diversity and it was thus challen- ged not only to account for that diversity but also to respond to it in some constructive way. De conc. cath. is a remarkable early expression of Nicholas’ awareness of historical and cultural differences“ (ebda. 81).

8 Nikolaus schließt sich weder der humanistischen Minimierung religiöser Differenzen zugunsten kultureller Feindbilder an, die Bisaha feststellt (ohne Cusanus zu nennen), noch der häufigen Identifizierung der Türken mit Skythen als Urbild der Barbaren. Für ihn scheint kulturelle Einheit nicht so nötig zu sein, da die religiösen Differenzen im Prinzip überwindbar sind.

9 „Habent itidem Graeci unius Dei diversa nomina, puta ‚ischyros‘ iuxta potentiam, ‚kyrios‘ iuxta dominationem, et proprie vocatur ‚theos‘. Ita et latine a ‚theos‘ ‚deus‘ derivatur, et tartarice ‚bir- tenger‘, id est ‚unus deus‘, et alamanice ‚ein got‘, id est ‚eine gut‘. Ita in lingua Slavorum ‚boeg‘ et in Turkia et Sarracenia ‚olla uhacber‘, id est ‚iustus deus magnus‘, et in caldaea et indica ‚esgi ab- hir‘, id est ‚creator universi‘ appellatur.“ (Sermo I, h XVI/1 n.5, 1-10) Ausgehend von dieser und Sermo CCXIII behandelt Euler das „Bewußtsein des Cusanus für die Verschiedenheit der Religi- onen“ (Unitas 170 f.). Vgl. zu den römischen Gottesnamen De docta ign. I c. 25! Inigo Bocken deutet in diesem Band die Problematik der Gottesnamen seit De docta ign. als eine Wurzel der konjektural-hermeneutischen Erkenntnistheorie.

10 Vgl. De conc. cath. II. „Es bedeutet Abstandsbewußtsein von der mittelalterlichen Entwicklung in Kirche und Reich, aber immer noch bezogen auf die mittelalterlichen Instanzen von Papst und Kaiser. Die kirchlichen Mißstände und der Verfall des Reiches führen zu einer Befremdung ge- genüber dem status quo. Dadurch ist ein neuer Blick in die Vergangenheit entstanden, denn es fragt sich, wo und warum der Niedergang begonnen hat.“ (Flasch, Nikolaus von Kues 88).

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wird (freilich in einem für die Hussiten unangenehmen Sinn)11 – dieser Mann konn- te die faktische Ausformulierung religiöser Erkenntnis und Praxis nicht mehr als a priori identisch mit dem göttlichen Willen ansehen. Wenn es erlaubt ist, einen Bo- gen von diesen frühen Werken zum Globusspiel zu schlagen, so könnte man for- mulieren, daß nun die Geschichte als Spielfeld eröffnet ist, auf dem auch verschie- dene Religionen als Mitspieler auftreten in ihren sukzessiven Versuchen, dem Zent- rum von allem entwerfend möglichst nahe zu kommen.

Meuthen erkennt bei Nikolaus ein historisch-antiquarisches Interesse, eine Ver- wertung der Geschichte für seine praktischen Ziele, die historisch-kritische Be- trachtungsweise und bemerkenswerte Ansätze zu einem grundsätzlich geschichtli- chen Verständnis.12

De pace fidei differenziert die Religionsgemeinschaften sowohl extern als auch in- tern: Die Zusammenstellung der Teilnehmerliste des Weisenrates nimmt verschie- dene Glaubensrichtungen („Konfessionen“), die sich innerhalb großer Religionen entwickelt haben, ernst: innerislamisch deutet sich der Unterschied von Sunniten und Schiiten an (Arabs – Persa – Turkus), innerchristliche Denominationen13 wie Hussiten, Nestorianer, Orthodoxe und Monophysiten lassen sich in den Figuren des Bohemus, Chaldaeus, Graecus, Armenus wiedererkennen. Freilich werden hier Völ- ker und nicht dogmatisch voneinander abgegrenzte Glaubensgruppen vertreten, so wie auch der Indus nur vage mit hinduistischem Polytheismus in Verbindung ge- bracht wird.14 Denn es sollen ja Weise zusammenkommen, vielleicht könnte man sagen: Religionsphilosophen aus verschiedenen religiösen Kulturen.

Die Wahl nationaler Bezeichnungen kann darauf hindeuten, daß sich Nikolaus der kulturellen Einbettung jeder Glaubensrichtung bewußt ist. Impliziert das die Erkenntnis, daß man es immer schon mit historisch gewachsenen zivilisatorischen Gebilden zu tun hat und nie mit abstrakten religiösen Ideen? Oder ist das nur eine unbedeutende Übernahme der Sitte, bei den Konzilien die Vertreter nach Sprach- gruppen zusammenzufassen? Gegen diese minimalistische Interpretation spricht auch die These von Doris Gebel, „die Begriffe ‚secta‘ und ‚natio‘ überlagern sich so, daß ‚secta‘ die ‚natio‘ unter religiösem Aspekt kennzeichnet.“15

11 Vgl. Flasch, Nikolaus von Kues 73-88. Heinemann attestiert Nikolaus in diesem Zusammen- hang „das tolerante Bewußtsein von der geschichtlichen Relativität ritueller Gewohnheiten“

(Einheit 13).

12 Siehe Meuthen, Geschichte, mit vielen aufschlußreichen Belegen!

13 Eine binnenchristliche Differenzierung hatte Ramon Lull nur im Liber de quinque sapientibus vor- genommen.

14 Zur Zusammenstellung der Weisenliste aus den Quellen vgl. MFCG 16; 108 und 165.

15 Spiegelung 151. „ In terms of geographical scope the ‚ecumenical dialogue‘ of the De pace fidei set a new record of inclusiveness.“ (Biechler / Bond XXX).

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Jedenfalls ist festzustellen: Verglichen mit Abaelards und Lulls Religionsdialogen gewinnen die Gesprächspartner an Profil und kultureller Diversität. Das bedeutet:

Es diskutieren nicht nur divergierende Ideen und Dogmen, sondern es geht um geschichtliche Gebilde, die wir heute als „Religionen“ beschreiben.16

Nicht in De pace fidei, aber in anderen Werken deutet Cusanus einen Begriff von Religion als Entwurf an. So stellt er im Comp. 2 und 6 oder in Sermo CCXVI die Re- ligionen in eine Reihe mit der Erfindung von Künsten und Ethiken.17 Auf das krea- tive Moment in der geschichtlichen Ausgestaltung auch von Religion werden wir unten (4.) zurückkommen.

2. Erfahrungen des Fremden: Synchrone Relativierung

Nicht nur diachron, durch ein neues geschichtliches Verstehen, sondern auch syn- chron fand eine Relativierung der gewohnten christlich-abendländischen Zivilisati- on statt: Einerseits durch binnenchristliche Pluralisierungen, im persönlichen Ein- satzbereich des Nikolaus vor allem die Hussitenfrage und der Schmerz des morgen- ländischen Schismas, andererseits durch die Erfahrung eines „clash of civiliza- tions“, als die Truppen Mehmets II. Konstantinopel stürmten. Als die türkischen Eroberer in Europa standen, war neu gegenüber den Kreuzzügen, daß die Ausei- nandersetzung mit dem Islam nicht mehr am Rande der christlichen Welt stattfand, sondern das Abendland sich nach dem Untergang des christlichen Ostens direkt bedroht fühlte.18 Angst kam auf, daß sich die Machtverhältnisse umkehren könn- ten, daß das christliche Europa marginalisiert werden könnte. Die Eroberung des

„neuen Rom“ hatte eine Symbolkraft, die ungleich stärker wirkte als Reiseberichte aus den Weiten Asiens und Chinas. Nun war nicht nur das antike erste Rom als geschichtlich vergangen erkannt, sondern auch die Vergänglichkeit Ost-Roms er- fahren. Andersheit scheint erst als Bedrohung ganz wahr und ernst genommen zu werden. Eine aggressive anti-islamische Stimmung breitete sich aus.

16 Man unterscheide religio als Religiosität, als eine Tugend, von ihrer Ausprägung, einer bestimm- ten Form, Tradition (unser eher soziologischer Begriff von Religion). Inwieweit der moderne Begriff früher schon (meist unter anderem Namen) gegeben war, untersucht Feil. Gegen seine Folgerung, daß Cusanus noch keinen neuzeitlichen Religionsbegriff entfaltete, behaupte ich hier einen schon stärker modern geprägten Begriff von religio – und das als einen Erkenntnisfort- schritt.

17 Comp. in h XI/3; Sermo CCXVI (h XIX n.13, 1-21).

18 Vergleichbar sind nur die erste arabische Expansion bis nach Frankreich und später der türki- sche Vorstoß über den Balkan. Wenngleich die Türken seit 1353 in Europa Fuß gefaßt hatten und seither mit wachsendem Erfolg gegen christliche Städte und Heere kämpften, brach offenbar erst ein Jahrhundert später ein akutes Gefahrenbewußtsein durch.

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Cusanus hingegen sah die faktische religiös-kulturelle Pluralität, welche sich im 15. Jahrhundert verstärkt ins Bewußtsein drängte, als moralische, religiöse und the- oretische Herausforderung. Das Erstaunliche ist, daß sie nicht in neuplatonischer Tradition einfach als Abfall von der Einheit oder der einen Wahrheit, sondern auch positiv gedeutet wurde: als Entfaltung des Reichtums, der im schöpferischen Einen eingefaltet ist. Des Nikolaus Antwort auf die Situation 1453 ist zunächst, vor aller inhaltlichen Betrachtung, ein Dokument eines neuen Bewußtseins und der Aner- kenntnis der Notwendigkeit, sich explizit in ein neues Verhältnis zu setzen zu der fremden und bedrohlichen Kultur. Zugleich erkenne ich darin den Ausdruck eines Respekts vor der Würde des Individuums in seiner epistemologischen Perspektivi- tät und kulturellen Besonderheit.19

Die kulturelle Vielfalt geschichtlich gewachsener Glaubensgemeinschaften kommt in De pace fidei außer in der Differenzierung der Gesprächspartner durch drei weitere Indizien zum Ausdruck:

Die Überbringer der Klagen der von Gewalt gepeinigten Völker sind offenbar so etwas wie die „Engel der Nationen“, wobei das Interessante ist, daß der König des Universums sie „ab initio super singulas mundi provincias et sectas“ eingesetzt ha- be.20 Gott sorgt also für alle Regionen und Religionen gleichermaßen!21 Nikolaus spricht im Kap. III n.9 auch allen Sprachgemeinschaften Engel zu (die Sprachen prägen ja die religiösen Auffassungen).22 Daraus läßt sich schließen, wie selbstver- ständlich er Religionen, Sprachen, regionale Besonderheiten und Identitäten als phänomenal zusammengehörig sieht.

Das sich wandelnde Bewußtsein zeigt sich auch begrifflich in der Unterschei- dung von religio und ritus oder auch cultus. Zwar ist die cusanische Terminologie nicht konsequent durchgehalten,23 aber das erscheint selbst als sachlich begründbar:

weil es sich um interne Differenzierungen eines Gesamtphänomens handelt. Auf

19 Vgl. unten Abschnitt 4.

20 Gebel bringt das in Zusammenhang mit der Klimatheorie ptolemäischen Ursprungs (Spiege- lung 162-167). Sie verzeichnet die Neigung des Nikolaus, auch hier die Einheit in der Vielfalt zu suchen: „Durch die Engel wird einerseits die Einheit der Menschheit vermittelt, andererseits aber auch die Verschiedenheit der Völker akzentuiert“ (168).

21 Vgl. I Cor. 4,7 und h VII, Adnot. 3 und 4; dort p. 67 viele Belege für die biblische begründete und in der Patristik nachweisbare Vorstellung von Engeln der Nationen, nicht nur im christli- chen, sondern auch im jüdischen und neuplatonischen Bereich. Für die Idee, daß die diversen Religionsgemeinschaften eigene Engel bekommen hätten, gibt es signifikant weniger Belege; Ni- kolaus dürfte in arabisch–astrologischen Werken davon gelesen haben. Wie bereitwillig er sie aufgriff, bezeugt seine schöpfungstheologisch begründete universal-religiöse Sicht.

22 Vgl. De coni. II c. 13 (h III n.139): „praesidentiales spirituales administrationes, quas speciebus, nationibus, linguis, congregationibus, regnis ecclesiisque quasi a summo maximo universorum imperatore legati sollerter impendunt [...].“

23 Vgl. Euler, Unitas 224 / 290 und Heinemann, Einheit 76 f.

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jeden Fall sehen viele Autoren im cusanischen Ritenbegriff stark das kulturelle Element, die Formen des Religiösen.24 Nach Bilaniuk ist „eine religiös und kulturell geschlossene Kultusgemeinde gemeint [...] aus einer oder mehreren ethnischen Gruppen“.25 Die Differenz von Glaubensinhalt und Äußerungsform thematisiert Cusanus schon in der Auseinandersetzung mit den Hussiten 1433-34: „In eadem quidem ecclesia remanente unitate: varium posse ritum esse sine periculo nemo du- bitat“.26

Schließlich referiert De pace fidei Außenansichten des christlichen Abendlandes, so wenn Nikolaus den Perser feststellen läßt, daß die Inkarnation von fast allen ab- gelehnt werde – außer einigen wenigen in Europa27 – oder wenn der Tartar die Eu- charistie als besonders abscheuliche Gottesverschlingung bezeichnet.28

3. Andersheit und Vielfalt als theoretische Herausforderung

Es scheint, als hätte Nikolaus nicht immer, aber mit zunehmender Klarheit die Konfrontation mit dem Anderen und die Pluralität als philosophische und theolo- gische Herausforderung angenommen. Im Lauf seines Lebens hat sich die Wahr- nehmung religiöser Differenzen offenbar gewandelt. In der Epiphaniepredigt von 1431 herrscht ein naiv erscheinender Optimismus in bezug auf einen universalen Glauben an Christus und die Trinität, dem gegenüber der Schock von 1453 einen Lernprozeß forderte:

24 Ritus versteht Biechler als „a combination of doctrine and usage“, „dogmas as expressed in credal symbols“ (Language 90). „Mit Riten meint Nikolaus in ‚De pace fidei‘ nicht nur einfache liturgische Riten ohne dogmatische Relevanz, sondern um Riten handelt es sich da, wo der Glau- be in Gemeinschaftsformen ausgeprägter Gestalt sichtbar wird“ (Gebel, Spiegelung 136). Gruss sieht in den „Riten“ auch das soziologisch-strukturelle Element: „Sie sind der Inbegriff aller ir- gendwie erfaßbaren Äußerungen des religiösen Lebens bis hin zum Bereich des Institutionellen“

(Friede 179). Noch deutlicher Haubst: „Das Wort ritus hat bei Cusanus einen sehr weiten Sinn.

Es besagt nicht nur Zeremonien, auch nicht nur Sakramente, es besagt die ganze konkrete Ver- fassungsstruktur der Kirche mit, und es besagt die ganze kulturelle Apperzeptionsweise des Ei- nen, der una fides oder una religio in den verschiedenen Völkern“ (MFCG 16, 78).

25 MFCG 16, 109; vgl. 210.

26 Ep. II De usu communionis ad Bohemos: Pariser Ausgabe 1514 (p) II 6v; vgl.: „Diversus ritus in concordanti unione ecclesiae catholicae aequaliter laudatur“ (Ep. III: p II 10v) und: „diversis temporis alius et alius ritus sacrificiorum et etiam sacramentorum stante veritate invenitur“ (Ep.

III: p II 7r). Der Böhme Martin Lupáč hielt Cusanus noch 1452 entgegen, daß die unitas ecclesie keine conformitas rituum erfordere, siehe Hallauer, Das Glaubensgespräch mit den Hussiten 71:

War De pace fidei eine kirchenpolitisch weniger brisante Zustimmung des Cusanus zu Lupáč?

27 De pace fidei c. 9 (h VII n.30, p. 31): „Negamus enim hoc paene omnes, paucis in Europa demptis“.

28 De pace fidei c. 16 (h VII n.54, p. 51): „[...] videtur abhominabilius. Devorant eum quem colunt.“

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„Creditur enim per uniuersum mundum Christum Dei filium de Uirgine natum.

Hoc credunt Indi, hoc Machmetani, hoc Nestoriani, hoc Armeni, hoc Jacobini, hoc Graeci, hoc Christiani occidentales ut sumus nos. Hoc Tartari non in- ficiunt, immo communiter credunt, licet non aduertant. Et nulla est hodie mundi natio quin credat Christum uerum Messiam, quem expectabant antiqui, uenisse, exceptis Judaeis, qui eum credunt uenturum. Est enim omnium viven- tium una communis fides, unius summi cunctipotentis Dei et sanctae Trini- tatis.“29

Zum Vergleich: 1455 sieht der Prediger das religiöse Gemeingut aller Völker kon- zentriert auf einen monotheistischen Begriff Gottes als ewiger Wahrheit: „apud omnes nationes est certissimum deum esse et ipsum esse veritatem aeternam. Ne- que concipi potest ipsum non esse.“30 Der gemeinsame Nenner der Einheit ist we- sentlich geringer geworden. Vermutlich ist der Konkordanzoptimismus des Drei- ßigjährigen nach zwei Jahrzehnten kirchenpolitischer Erfahrungen ernüchtert wor- den. Offenbar beobachten wir eine Entwicklung zu stärkerer Wahrnehmung der realen religiösen Differenzen.

Systematisch betrachtet, ist die Spannung zwischen dem cusanischen Streben nach Einheit und der faktischen Pluralität besonders groß, weil Nikolaus Vielfalt grund- sätzlich positiv wertet auf ontologischer und epistemologischer Ebene.31 Es mögen einige Hinweise genügen: Kein endliches Seiendes kann die unendliche Fülle des absoluten Ursprungs widerspiegeln. Das Urbild von allem, die unendliche Weisheit kann von keinem so eingefangen werden, wie sie ist. Darum bedarf es der Vielfalt zur besseren Explikation des eingefalteten Reichtums:

„[...] a nullo capi potest uti est [...] immultiplicabilis infinitas in varia receptione melius explicatur, magna enim diversitas immultiplicabilitatem melius exprimit.“32

29 Sermo II Ibant Magi zur Epiphanie 1431 (h XVI/1 n.8, 4-16). Wo Nikolaus die religiöse Plurali- tät doch als besonders einheitsresistent bewußt war, griff er zunächst in die Tradition wie zu einer Notbremse, so in seiner IV. Predigt von 1431: „Omnes autem homines ad unum divinum debi- tum obligati sunt; ergo erit una fides. Et quicquid contra hunc debitum cultum et unam fidem est, error est igne et ferro exstirpandus.“ Als vielleicht formelhaftes Zitat (aus Wilhelm von Auvergne:

De fide et legibus) sollte man diesen Satz nicht überbewerten – jedenfalls in De pace fidei muß der geschuldete Kult nicht mehr so einheitlich sein.

30 Sermo CC von 1455 (Cod. Vat. Lat. 1245 f. 118ra).

31 Manche Autoren sehen die Spannung als unaufgelöste Ambivalenz (z.B. Biechler, Language 86 f.). Inwieweit Cusanus die Herausforderung durch die Pluralität überzeugend bewältigen konnte, ist hier jedoch nicht zu entscheiden, mir kommt es zunächst auf deren Wahrnehmung an.

32 De sap. I (h 2V n.25, p. 52 f.). Das all-sehende Bild von De vis. Dei, dessen Blick aus verschiede- nen Perspektiven aufgefangen und erwidert wird, kann auch auf die verschiedenen Religionen übertragen werden, vgl. die Einleitung von Jos Decorte zur niederländischen Ausgabe von De pace

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Nikolaus hält Einheit und Vielheit nicht abstrakt auseinander oder gegeneinander und übernimmt auch nicht die neuplatonische axiologische Differenz beider, wel- che in der Vielfalt allzu rasch einen Abfall von der göttlichen Einheit sieht.33 Viel- mehr blickt er immer auf die Einheit im Verschiedenen oder auf das in alle Verglei- chung und Verrechnung des Verschiedenen einbrechende, aber so den Dialog er- möglichende Eine.34 Aus prinzipiellen Gründen, die mit der Konstitution des Uni- versums zusammenhängen, findet sich auch der Glaube in gradueller Ungleich- heit.35

Die Pluralität der Ausfaltungen wird immer wieder positiv dargestellt, auch im Schlußkapitel von De visione Dei: Der Schöpfer wird einem Maler verglichen, der sich selbst nicht vervielfältigen kann, aber seine Ähnlichkeit am besten ausdrückt, indem er sich in vielen Figuren abbildet: „Multas autem figuras facit, quia virtutis suae infinitae similitudo non potest nisi in multis perfectiori modo explicari“.36 Die bleibende positive Bedeutung der Differenz drückt Nikolaus im Axiom aus: „Om- nis autem concordantia differentiarum est“.37 Paradigmatisch für die cusanische Ansicht von Vielheit in ihrem Bezug zur Einheit ist auch seine positive Wertung von Pluralität und Differenz der Sprachen ohne relativistische Nivellierung (gegen die biblische Abwertung der babylonischen Sprachenvielfalt).38

Auch in praktischer Hinsicht sind Vielheit, Unterschiede, Widersprüche, ja sogar Gegensätze nicht negativ bewertet, sondern in eine dynamische Sicht integriert:

Konkurrierende religiöse Lehren und Riten steigern insgesamt die Gottesvereh- rung.39 All jenes ist auch Ermöglichung einer Einigung, die menschliche Aufgabe ist;

fidei, 18 f., de Certeau (The Gaze, besonders 26 f. und 30). Die Rolle der Perspektivität in der Religionstheorie möchte ich in einer eigenen Publikation untersuchen.

33 Vgl. De doct. ign. III c. 1 zur Freude am Besonderen, an der Vielfalt in Religionen, Schulen, Landschaften, ohne Neid – als gegenseitige friedliche Bereicherung. Die ontologische Problema- tik der Andersheit (im Gegensatz zur Einheit), welche Nikolaus Cusanus laut Michael Thomas negativ bewertet, ist nicht identisch mit der Frage nach der Vielfalt alles Menschlichen.

34 Siehe dazu ausführlich die Interpretation von De vis. Dei bei de Certeau, The Gaze.

35 „Quoniam fidem in diversis hominibus in gradu inaequalem esse recipereque ex hoc magis et minus necessarium est, hinc ad maximam fidem, qua nulla potentia maior esse possit, nemo de- venire potest, sicut nec pariformiter ad caritatem maximam.“ De docta ign. III c.12 (h I, p. 157, 17- 20). Vgl. De docta ign. III c.1 (h I, p. 122,15-123,9)!

36 De vis. Dei c. 25 (h VI n.117, p. 88).

37 De conc. cath. I,1 (h XIV/1 n.6,4, p. 31). Die Differenzen der Religionen sind nach einer Formu- lierung von Quillet keine zufällige Fatalität, sondern der Einheit konsubstanziell (Paix de la foi 246).

38 Vgl. seine Theorie des Verhältnisses von erkannter Sache / verbum und Ausdruck in Sprache / nomina, etwa in De mente c. 2. Zur cusanischen Sprachtheorie siehe Gadamer, Wahrheit und Me- thode 438-442.

39 De pace fidei c.1 (h VII n.6, p. 7): „ut diversitas sit devotionis adauctio.“

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concordantia ist herzustellen. Deutet sich hierin ein wachsendes Bewußtsein der ge- schichtlichen Verantwortung des Menschen an? Vielleicht ist aufgrund der Erfah- rungen des 15. Jahrhunderts mit seinen massiven Differenzen der Einheitsbegriff und das mittelalterliche Ideal eines harmonischen ordo qualitativ verändert worden:

weniger eine vorgegebene, punktuell gestörte Ordnung, sondern ein Ziel, in den Raum von zu gestaltender Geschichte eingerückt?

Damit würde die religiös-kulturelle Pluralität noch einmal relativiert, nämlich be- zogen auf die geschichtsmächtige Gestaltungskraft und -aufgabe des Menschen.

Bevor wir auf die praktische Dimension zu sprechen kommen, ist noch die Frage zu klären, wieso die Vielfalt nicht von vornherein ein friedliches multikulturelles und multireligiöses Szenarium ergibt. Eine Analyse der religiösen Pluralität als Kon- fliktursache in De pace fidei, die ich anderswo versucht habe,40 ergibt folgendes Er- gebnis: Nikolaus nennt vier Gründe für religiöse Differenz an sich und fünf Ursa- chen dafür, daß sie gefährlich und gewalttätig werden kann. Vielfalt an sich wird begründet durch:

1. Die schöpfungstheologisch legitimierte Vervielfältigung des ersten Menschen bringt notwendig Verschiedenheit hervor; es gibt gar keine Vielfalt als numerische Replikation des Gleichen.

2. Es gibt keine unmittelbare Ursprungsbeziehung zum Deus absconditus, nötig ist Vermittlungsarbeit – das leistet Religion.

3. Diese wird behindert durch ein mühsames Leben voll Last, Not, Sorge und politischer Unterjochung (eine bemerkenswerte sozialkritische Sensibilität).

4. Die allgemeine Lebensbedingung des Menschen in der Welt des Veränderli- chen und Ungenauen bedingt eine hermeneutische Variabilität menschlichen Spre- chens und Erkennens.

Gefangenschaft, Mord, Versklavung, Zwangskonversionen, Waffengewalt, Neid und Haß entstehen aus:

1. Mißverständnissen der von Gott zu allen Völkern gesandten Propheten, ihrer Botschaften und Institutionen: Fälschlich wird darin eine Unmittelbarkeit zu Gott angenommen.

2. Gewohntes wird als Quasi-Natürliches für die Wahrheit selbst gehalten (Consuetudo-Argument).

3. Irregeleiteter frommer Gehorsam vermeint, einen Auftrag zu haben, Anders- gläubige zu verfolgen.

40 Siehe Riedenauer, Religiöse und kulturelle Pluralität.

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4. Die Verführbarkeit des Menschen, der Mißbrauch seiner Freiheit und deswe- gen eine falsche Lebensweise.

5. Außerdem sehe ich eine Andeutung psychologischer Motive wie Heilsneid und Angst vor Identitätsverlust.

Ich möchte erwähnen, daß sich insbesondere an De coniecturis (II c. 8 und c. 15) zeigen läßt, daß Nikolaus menschliche Religion außerdem in den Dimensionen ih- rer natürlichen Bedingtheit und ihrer individuell verschiedenen Verwirklichung sieht.41 Auch damit wird sie relativiert. Dies zuzugeben ist Cusanus sachlich mög- lich, weil er jede konkrete Formulierung und Form der Religionsausübung, also Dogma und Kultus, als theologisch relativ und relativierungsbedürftig ansieht. Er formuliert in De docta ign. deutlicher als in De pace fidei, daß cultura, die mit Bildern und Vorstellungen zu tun hat, als via affirmativa immer durch fides (via negativa) gelei- tet werden müsse – andernfalls arte die Gottesverehrung, der Kult aus in Idolat- rie.42

4. Freiraum für kreative Praxis und Politik

Wir wissen, wie sehr Nikolaus um die Herstellung von Einheit in der Vielfalt, um Versöhnung und Übereinstimmung rang, angefangen von De conc. cath. (kirchen- und reichspolitisch), über seine verschiedenen diplomatischen Missionen bis hin zur interreligiösen und interkulturellen Problematik. Dieses Bemühen hat auf höhe- ren Reflexionsebenen spezifische Legitimationen anthropologischer, theologischer und kulturphilosophischer Art.

Der Bedingungszusammenhang von Pluralität und Individualität43 prägt die cusanische Religionstheorie. Deren Besonderheit liegt darin, daß Nikolaus die Frei- heit des Menschen als Gabe und individuell zu realisierende Aufgabe begreift. Der Einzelne erfährt ein unendliches Streben (nach Weisheit, Selbstverwirklichung, bea-

41 Siehe ebda.

42 „[...] semper culturam per fidem, quam per doctam ignorantiam verius attingit, dirigendo; cre- dendo scilicet hunc, quem adorat ut unum esse uniter omnia, ... Et ita theologia negationis adeo necessaria est quoad aliam affirmationis, ut sine illa Deus non coleretur ut Deus infinitus, sed potius ut creatura; et talis cultura idolatria est, quae hoc imagini tribuit, quod tantum convenit veritati“ (De docta ign. I c. 26, h I n.86, p. 54).

43 Zur Individualität allgemein kann hier nichts ausgeführt werden (Hinweise bei Riedenauer, Individualismus und Hummel, Individualitätsprinzip). Zum principium individuationis bei Nikolaus, zu den Auseinandersetzungen mit dem Averroismus noch im 15. Jahrhundert vgl. Cassirer, Indi- viduum 137; zur singularitas in der Altersphilosophie des Cusanus siehe von Bredow, Im Gespräch 31-39, zu De ven. sap. ebd. 217-231!

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titudo).44 Die Dignität dieser wesensnotwendigen Suche nach Wahrheit und Heil in der epistemologischen Perspektivität konjekturalen Erkennens45 und kulturellen Partikularität ist ein Ansatzpunkt, um religiöse Toleranz zu rechtfertigen (nicht ein theologischer Agnostizismus oder eine aufklärerische These von der Irrelevanz re- ligiöser Wahrheitsansprüche).

Wesentlich ist die dahinter stehende Würdigung menschlicher Kreativität, wie sie sich in der Renaissance in Ökonomie, Kunst, Politik etc. entfaltet. Die biblische Bestimmung des Menschen als imago Dei interpretiert Nikolaus von der göttlichen Schöpfungstätigkeit her: Während alles Geschaffene Abbild-Charakter hat, ist der menschliche Intellekt dem absoluten Geist am nächsten, im strengen Sinn dessen lebendiges, nämlich kreatives Bild (mens viva imago Dei).46 Diese Göttlichkeit (Deus humanus, alter Deus u. ä.) ist Gabe und Aufgabe, die Wesenswürde nunmehr als Po- tenz gedeutet. Die Selbstaktivität des Individuums findet in operatione ihre Bestim- mung. In diesem Verständnis wird der Homo-mensura-Satz des Protagoras transfor- miert: Der menschliche Geist muß sich einerseits am göttlichen anmessen, während er für die Dinge der Welt selbst maßgebend ist47 – nicht allein erkennend, sondern auch Ordnung schaffend. So ist in bezug auf die Welt der Mensch mensura, wenn- gleich nicht absolut. Cusanus entwirft dafür das schöne Kosmographengleichnis:

Der Mensch konstruiert ein Zeichensystem und schafft so eine abbildhafte Welt:

mundus similitudinarius (Compendium c. 8).

Cassirer jubelt, darin habe „jetzt die menschliche Kultur ihre wahrhafte Theo- dizee erfahren. In ihr bewährt sich die Freiheit des menschlichen Geistes, die das Siegel seiner Göttlichkeit ist“.48 Auch bei anderen humanistischen Schriftstellern wird nun die Würde des Individuums in der Potentialität seiner Freiheit gesehen.49

44 Cassirer vermutet, daß hierin „die Faustische Grundstimmung der Renaissance ihren klarsten philosophischen Ausdruck und ihre tiefste philosophische Rechtfertigung erhalten“ habe (Indivi- duum 73).

45 Diese fundamentale epistemologische Dimension kann hier nur angedeutet werden, zugleich auf die Analyse von Inigo Bocken in diesem Band verweisend.

46 Siehe De mente c. 3-5, De beryllo c. 6 , De pace fidei c. 9 und 1 (Anthropologie des Erzengels). Vgl.

Gerda von Bredow: Der Geist als lebendiges Bild Gottes. In: Im Gespräch 99–109 sowie den Beitrag von M. van der Meer in diesem Band.

47 „Coniecturas a mente nostra, uti realis mundus a divina infinita ratione, prodire oportet. Dum enim humana mens, alta Dei similitudo, fecunditatem creatricis naturae, ut potest, participat, ex se ipsa, ut imagine omnipotentis formae, in realium entium similitudine rationalia exserit.

Coniecturalis itaque mundi humana mens forma exstitit uti realis divina.“ (De coni. I c. 1, h III n.5, p. 7)

48 Cassirer, Individuum 46.

49 Vgl. Garin, Il concetto della storia. Dessen Gegensatz zwischen Mittelalter und Humanismus könnte zwar überzeichnet sein, doch ist die Quintessenz des neuen Bewußtseins klar: „gli uma- nisti sanno ed insegnano che la storia dell‘uomo è fatta dall‘uomo“ (118).

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Am bekanntesten ist das emphatische Lob der Freiheit zur Selbstbestimmung in Picos Rede über die Würde des Menschen.50 Auch Gianozzo Manetti (der seiner- seits u.a. von Bartolomeo Facio beeinflußt ist) singt „das Hohe Lied des schöpferi- schen Menschen, der in der Betätigung der ihm verliehenen Gaben sein eigenes Reich auf Erden errichtet“.51 Dieser kommt vor allem in seinen mannigfaltigen Möglichkeiten in den Blick. Bildet diese humanistische Anthropologie, von Cusa- nus ontologisch und theologisch vertieft, nicht den Hintergrund für eine weitge- hende Anerkennung auch religiöser Pluralität sowie für die Annahme der Aufgabe, inmitten konflikthafter Vielfalt kreativ und verantwortlich für Konkordanz und Frieden zu kämpfen?

Es erscheint als ein Verdienst des frühen Humanismus, daß die Bühne der Welt frei wurde für das erfinderische Zusammenspiel der Menschen im geschichtlich zu entwickelnden, kulturellen und politischen Raum und für eine entsprechende Ver- antwortung als Basis einer Sozialethik. In Blick kommt so die Bestimmung zu einer unabtretbar persönlichen Selbstverwirklichung in Anerkenntnis personaler Relatio- nen, sowohl der existenziellen Ursprungsbeziehung als auch der Berufung zu einer freien, vernünftigen, gemeinsamen Gestaltung unserer Geschichte.

Somit ist klar, daß der im Titel gebrauchte Begriff der Relativierung nicht im vulgä- ren, pejorativen Sinn zu verstehen ist, sondern als Anerkennung der mehrdimensi- onalen Bezüge menschlicher Religiosität und historisch entfalteter Religion. Auch sachlich ist diese Bewußtwerdung nicht negativ zu werten, hat sie doch den Frei- raum für größere, auch religionspolitische Verantwortung geschaffen. Für Cusanus bleibt dabei das Bezogenwerden und Sich-Rückbeziehen auf den absolut Einen im Zentrum und gibt Grund für die Hoffnung, daß die erfahrene Relativität des Glau- bens, die in (nicht ungefährlicher) geschichtlicher, kultureller und individueller Viel- falt manifest wird, weder in relativistischer Gleich-gültigkeit noch in fundamentalis- tischen Ansprüchen auseinanderbricht, sondern im Rückbezug auf Gott von ihm, aber mit uns zusammengehalten werden kann.

50 Der Schöpfer spricht zu Adam: „Medium te mundi posui, ut circumspiceres inde commodius, quicquid est in mundo. Nec te caelestem neque terrenum neque mortalem neque immortalem fecimus, ut tui ipsius quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor, in quam malueris tu te for- mam effingas. Poteris in inferiora, quae sunt bruta, degenerare, poteris in superiora, quae sunt divina, ex tui animi sententia regenerari“ (Pico della Mirandola: Oratio de hominis dignitate. Stuttgart 1997, 8).

51 Vgl. Buck, Studien 332; Manetti: De excellentia et dignitate hominis (1452, Basel 1532), dt. Ham- burg (Meiner) 1990; besonders Buch III.

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