Zum Begriff des Traumes und seiner Funktion
im chinesischen buddhistischen Kanon
Von Gotelind Müller, München
1. EINLEITUNG
Traum im Buddhismus ist eine Fragestellung, die an sich bereits eine
Antithese in sich birgt: Der Buddha, übersetzt „der Erwachte" (juezhc ^
steht geradezu gegen das, was man für gewöhnlich Traum (meng
nennt. Traum hat mit Schlaf zu tun. mit Nicht-Erkenntnis, zunächst
im konkret psychologischen, dann aber aucb im übertragenen Sinne.
Dieser Zustand ist aber nicht nur ein personaler, vielmehr wird der
Traum für den Buddhismus zum Seinscharakter der Welt überhaupt,
identifizierbar mit Mäyä oder Samsära.
Dies könnte zum Schluß verleiten, daß der Traum als Begriff rein
negativ besetzt und von keinem besonderen Interesse für den Buddhis¬
mus sei, der ja nach dem Ausweg, dem „Aufwachen" strebt. Als reali¬
stisch orientierter Heilspfad kann er aber nicht umhin, die gegebene
Situation als solche zunächst anzuerkennen. Durch die Ausdehnung des
Begriffes „Traum" auf eine Metapher der Welthaftigkeit, wie sie sich im
Axiom der Prajndpdramitd-LiteT&tur niederschlug: „alle Dharmas sind
wie Traum" (zhufa ru meng ||t?i$D^ )> scheint sich im buddhistischen
Rahmen auf den ersten Blick kein Raum abzuzeichnen, in dem eine
Beschäftigung mit dem Traum im konkret gefaßten Sinne Platz greifen
könnte.
Dennoch forderte das Phänomen „Traum" zu einer Auseinanderset¬
zung heraus, ist es doch eine unleugbare Realität. Mögen die Dharmas
auch Traum sein, Träume sind auch Dharmas und somit nicht ausgrenz¬
bar. In diesem Sinne sind sie allen anderen Phänomenen gleichgestellt.
Interessant ist, wie überall auf der Welt, auch für die Buddhisten das
gebrochene Verhältnis von Traum und „Wirklichkeit" (verstanden als
das, was man im sogenannten Wachbewußtsein für diese hält). Dieses
Verhältnis hat durchaus mit dem Heilsweg, den der einzelne beschrei¬
tet, zu tun, denn wie verhält es sich z.B. mit dem moralischen Gesetz
des Karman, wenn im Traum Dinge geschehen oder getan werden? Wo
kommen sie her, wie entstehen sie? Kann man im Traum Meriten sam-
mein? Darf man im Traum Erkanntes dem im Wachbewußtsein Erkann¬
ten gleichsetzen, oder ist alles Täuschung, teuflischer Trug? All dies
sind Fragen, die zunächst auf theoretischer Ebene herausfordern, im
letzten aber die konkrete religiöse Praxis betreffen.
Die Buddhisten konnten infolgedessen im Rahmen ihrer Bemühun¬
gen um Klassifizierungen, Analyse psychologischer Abläufe und episte-
mologischer Probleme gar nicht umhin, sich mit dem vielschichtigen
und faszinierenden Phänomen „Traum" zu beschäftigen, diesem reli¬
gionsgeschichtlich eminent wichtigen Thema.
Eine weitere Anregung fiir die Frage nach Begriff und Funktion des
Traumes im chinesischen Tripitaka ergibt sich aus der Tatsache, daß in
den bisherigen Untersuchungen zum chinesischen Traumverständnis
der Buddhismus nur eine bestenfalls marginale Rolle spielte'. Auch
fehlt m.W. bislang eine übergreifende Darstellung des buddhistischen
Traumbegriffes überhaupt^. Es ist jedoch wohl die Annahme eines nicht
unerheblichen Einflusses von buddhistischer Seite aufdie chinesischen
Vorstellungen (und umgekehrt durchaus ebenso) kaum von der Hand zu
weisen. Der Buddhismus selbst hat seine Einfiihrung in China durch
einen legendären Traum zu legitimieren versucht: den des //an-Kaisers
Mingdi (s. 3.2.), und Buddha höchstpersönlich kündete (wie später auch
' Zum chinesischen Traumverständnis seien hier nur die beiden größeren
Publikationen erwähnt: Lackner, Michael: Der cfiinesisctie Traumwald. Tradi¬
tionelle Ttieorien des Traumes und seiner Deutung im Spiegel der ming-zeitlichen Anthologie Meng-lin hsüen-chieh. Frankfurt 1985. Ong, Roberto: The Interpre¬
tation of Dreams inAricient China. Bochum 1985. Dort auch weiterführende west¬
liche und ostasiatische Literatur. Lackner klammert den Buddhismus ganz aus,
Ong bringt einen kleinen Überblick, ebenso der Japaner Takamine Hiroshi in
seinem Buch: MugaJcu. Tokyo 1924. In dem 1988 erschienenen Konferenzband Psycho-Sinology — TTie Universe of Dreams in Chinese Culture, Hrsg. Carolyn
Brown, Washington D.C, geht Michael Strickmann auch auf den Buddhis¬
mus ein (S. 37-42) mit Hinblick auf tantrische Rituale.
^ Von japanischer Seite gibt es einige wenige Ansätze zu spezifischen Frage¬
stellungen. Soweit relevant, wird in den Fußnoten darauf verwiesen. Was den japanischen Buddhismus anbelangt, so spielte hier der Traum eine wesentliche
Rolle insbesondere als Legitimierung dogmatischer Neuinterpretationen, man
denke etwa an Honen und Shinran. Ansonsten verbindet sich im japanischen
Buddhismus das Thema Traum vorzüglich mit einer Gestalt: Myöe, einem
Mönch der frühen KamaJcura-Zeit, der seine Träume niederschrieb als „Yume
no ki", aber dies führt über den hier gesteckten Rahmen hinaus.
Von chinesischer Seite lieferte der bekannte „Reformmönch" Taixu bereits
1932 einen Beitrag in Form eines Vortrages, in dem er in groben Zügen das
damalige westliche wie das traditionell chinesische Traumverständnis mit dem buddhistischen (im Sinne der To^äcära-Auffassung) kontrastierte. (Taixu dashi quanji Bd. 43, S. 790-802. Taipei 1959).
Zum Begriff des Traumes und seiner Funlttion 345
mancher Mönch^) laut Überlieferung der Mutter im Traum seine Geburt
an. Gerade die Legendenbildung und die Geschichten, die das buddhi¬
stische Traum vers tändnis unter die Leute brachten, übten starken Ein¬
fluß aus, der sich wiederum im literarischen Schaffen spiegelte.
Im folgenden soll der Begriff des Traumes und seine Funktion anhand
des Kanon typologisch beschrieben werden. Die Darstellung ghedert
sich wie folgt:
1. Einleitung
2. Der Begriff — 2.1. Das Entstehen von Träumen
2.2. Wertigkeit von Träumen
2.3. Traum, Wahrnehmung und Erkenntnis
2.4. Traum und Wirkung
3. Die Funktion — 3.1. Traum als Metapher
3.2. Traum und Bekehrung
3.3. Bodhisattvas und Träume
3.4. Traum und Traumdeutung
4. Anhang: Das Fayuan zhulin
5. Schluß
Zugrunde liegt die heute meist zitierte Ausgabe, der Taishö shinshü
'kyö, dessen Bände 1 -55 für den chinesischen Buddhismus relevant
sind. Der Traumbegriff wird prinzipiell nicht diachron in seinem histori¬
schen Werden untersucht, sondern der Textkorpus als Ganzes bildet
das Material, aus dem sich bestimmte Auffassungen zu Begriff und
Funktion des Traumes herauskristallisieren. Dieses Vorgehen bedarf
vielleicht einer kleinen Erläuterung.
Es ist natürlich so, daß auch das Traumverständnis je nach Schulrich¬
tung, zu der ein Text gehört, verschieden sein kann. (Dies wird im
Schluß teil noch zusammenfassend aufgegriffen.) Soweit solche Diffe¬
renzen markant sind, wird dies auch gesondert erwähnt. Was die histo¬
rische Dimension anbelangt, so ist sie insofern problematisch, als die
Auswahl indischer Texte, die ins Chinesische übersetzt wurden und
damit Einfluß auf die chinesische Gedankenwelt nahmen, ja nicht unbe¬
dingt der chronologischen Entwicklung des Buddhismus in Indien ent¬
sprach. Die zeitlichen (und damit auch phüosophischen) Dimensionen
verschoben sich dadurch gegeneinander. Im großen und ganzen läßt
sich festhalten, daß die Übersetzungsarbeit" in der Tang-Zeit abge-
' Vgl. Katada Osamu: „Söden ni wirr» mnchü takutai setsuwa". Shinsbü
Kyögaku Kenkyü 1, S. 65-75, Nov. 1977.
■* Im Taishö — künftig T. — Bände 1-32.
schlössen war'. Ein weiteres Problem liegt darin, daß nicht unbedingt
jeder der hier verwendeten Texte zur gleichen Zeit rezipiert wurde, doch
stützen sich die hier gemachten Aussagen i.d.R. nicht nur auf eine ein¬
zige Stelle, die aus dem Rahmen fiele'. Vielmehr lassen sich durchaus
„typische" Positionen und Schwerpunkte herausfiltern. In diesem Sinne
ist es nicht von sehr großem Belang, ob man den Nachweis führen kann,
daß ein Text zu einer bestimmten Zeit viel gelesen wurde'. Das Gesamt¬
bild dürfte sich deswegen nicht wesentlich verändern. (Ein kurzer
Anhang soll aber zumindest in Grundzügen anhand einer fan^-zeitlichen
buddhistischen Enzyklopädie illustrieren, was damals für das Wesent¬
lichste am buddhistischen Traumverständnis gehalten wurde).
Mit diesem hier praktizierten textübergreifenden Vorgehen soll keine
völlige Einförmigkeit des buddhistischen Traumverständnisses sugge¬
riert werden (in der Tat werden sich auch etliche Diskrepanzen auftun) ,
aber es ziehen sich doch einige Positionen durch, die einen Anhalts¬
punkt fiir das liefem können, was „der Buddhismus" in China zur
gedanklichen Auseinandersetzung mit dem Traum beigetragen hat.
2. DER BEGRIFF
2.1. Das Entstehen von Träumen
Ausgehend von der buddhistischen Gmndaussage, daß alle Dharmas
wie Traum sind, also der Traum geradezu den Seinscharakter der Welt
ausmacht, ist — aufs Ganze gesehen — der Traum so anfangslos wie die
Verblendung. Innerhalb dieses großen Traumes jedoch verlangt das
buddhistische Gmndgesetz des abhängigen bzw. vemrsachten Entste¬
hens (und Vergehens), pratUyasamutpäda, nach einer Erklärung fiir das
Zustandekommen des Phänomens Traum.
Im Kanon finden sich verstreut Hinweise auf Ursachen, die Träume
erzeugen, teils äußere, teils innere Faktoren, wobei — wie zu erwarten —
die inneren überwiegen. Genannt werden in erster Linie die Begierde
und die mentale Verfassung. Man träumt, wonach einen verlangt bzw.
' In der Song-Zeit kam nur wenig hinzu, ohne aber die Inhalte signifikant zu verändern.
' Aus Platzgründen wird aber meist nur eine Belegstelle, die m.W. die
ursprüngliche ist oder den Sachverhalt besonders markant wiedergibt, ange¬
führt.
' Die TaisAö-Ausgabe trägt ja alles zusammen, was der modemen Buddholo¬
gie bis dato zur Verfügung stand, und ist umfangreicher als jede frühere Aus¬
gabe des Kanon in China.
Zum Begriff des Traumes und seiner Funlition 347
woran man sich innerlich hängt. So träumt ein Dürstender vom Trin¬
ken, und Männer, die von der Schönheit einer Frau gehört haben, stel¬
len sie sich im Traum vor^ Ist der Mensch in seinem Geist ethisch gut,
träumt er von Reichtümern, ist er schlecht, träumt er von Mord und Tot¬
schlag', deiui der Traum entsteht aus dem „Herzen" {xiti 4l">)'°. Weiter
werden für den Traum Verwirrung und Umkehrung der Normalität
angeführt", denn der Traum greift u.a. Tagesereignisse oder im
Wachen Gedachtes auf ist aber ein Zustand verminderter Klarheit".
Jedoch auch äußere Faktoren wie Erdbeben'^ oder Dämonen'* können
Träume verursachen. Einige esoterische Texte sprechen zudem von der
Möglichkeit, Träume bewußt herbeizuführen, indem man vor einer
Buddhastatue einen Tag und eine Nacht fastet, Räucherkerzen ab-
brermt und Mantras rezitiert, um im Traum das eigene Gute und Böse
zu erkennen' '.
Außer diesen verstreuten Aussagen finden sich aber auch Klassifizie¬
rungsversuche, von denen die wichtigsten kurz vorgestellt seien.
Im Vinaya-pitaka ist ein Vierer-Schema verzeichnet:
Es gibt vier Arten von Träumen. 1) die Vier Großen [i. e. Elemente]
sind nicht in Harmoiüe; 2) früher Gesehenes; 3) Devas [i. e. Götter] ;
4) Gedankenträume [xiang meng ). Frage: Was bedeutet
„Träume, bei denen die Vier Großen nicht in Harmonie sind?" Ant¬
wort: In Träumen, bei denen die Vier Großen nicht in Harmorüe sind,
sieht man im Schlaf Bergstürze. Man fliegt empor in die Luft
oder wird von Tigern, Wölfen oder Räubem verfolgt. Das bedeutet
„Träume, bei denen die Vier Großen nicht in Harmonie sind".
Sie sind leer und irreal.
* T. 11.431b Pitä-putra-samagama. Übers.: Narendrayasas, nördl. Qi.
T. 13.922a Bfiadrapäla-sütra. Übers.: unbekannt.
' T. 17.532a Fostiuo mayijing. Übers.: An Shigao, Spätere Han.
T. 9.584b BuddhävatarnsaJca-nämarnahävaipulya-sütra. Übers.: Buddha-
bhadra, westl. Jin.
" T. f 1.955c Pitä-putra-samägama. Übers.: Richeng u.a., Song.
T. 10.905 e Dafang guangfo tiuayanjing tntsiyi fqjingjiefen. Übers.: Deva-
prajna, Tang. T. 10.817b Buddhävatanisaka mahävaipulya-sütra. Übers.:
Prajnä, Tang. T. 33.226c Jingangjing zuanyao kandingji. Zixuan, Song.
" T. 10.474b Dasabhümikasütra. Übers.: Dharmarak?a, westl. Jin.
"* T. IS.nöc Foshuopinaiyejing. T. 19.5S3 c MaJiäsahasrapramardarM-sütra.
Übers.: Dänapäla, Song.
'^ T. \%.Mlh Mahämayüri-vidyäräjhi. Übers.: unbekannt. T. 19.297b Usni-
sacakravarti-tantra. Übers.: Amogbavajra, Tang. T. 19.300a ibid.
Früher Gesehenes träumen: Am Tage Gesehenes, ob weiß, ob
schwarz, ob Mann, ob Frau, nachts träumen, das nennt man „früher
Gresehenes". Diese Träume sind leer und irreal.
Z)em-Träume: Es gibt Devas des guten und solche des bösen
Wissens {zhishi ). Die des guten manifestieren gute Träume
und lassen den Menschen Glück erlangen. Die des bösen bringen den
Menschen böse Gedanken und manifestieren böse Träume". Diese
Träume sind wirklich.
Gedankenträume: Ein und derselbe Mensch war in seinem früheren
Leben tugendhaft oder sündig. Dem Tugendhaften kommen gute
Träume, dem Sündigen böse Träume. Die Bodhisattva-Mutt^T [i. e.
Mäyä] etwa träumte vom Bodhisattva. Als er in ihren Schoß eingehen
wollte, träumte sie, daß ein weißer Elefant vom Trayastrimsäs-
Himmel herabkomme und in ihre rechte Seite eindringe. Das ist
ein Gedankentraum. Auch wenn man von diversen Tugenden
träumt, wie den Buddha verehren, Sütren rezitieren, die Gebote
halten oder Almosen spenden, so sind das Gedankenträume".
Die letzten beiden dieser vier Traumarten bedürfen wohl einer Erläu¬
terung. Die vierte Kategorie erklärt Träume aus dem angesammelten
Karman, das — so ist hier anzunehmen — den Menschen bis ins Denken
hinein prägt und analoge Träume zeitigt. Der Traum entspricht somit
den Meriten des Träumers. Aulfällig ist die dritte Kategorie, weil sie
u. U. als vom Träumer unabhängig zu deuten ist. Es wird kein Bezug auf
dessen Moralität genommen. Die alte Idee, daß Geister gute oder böse
Träume verursachen, ist wohl hierin aufgenommen. Bemerkenswert ist
die Feststellung, daß diese Träume als „wirklich" bezeichnet werden.
Da an dieser Stelle keine weitere Erklärung beigefügt ist, kann eine
andere Stelle im Vinaya-pitaka vielleicht Licht auf diesen Sachverhalt
werfen. Hier werden fünf Arten von Träumen vorgestellt:
Es gibt fünf Arten von Träumen. Welche fünf? 1) reale Träume;
2) irreale Träume; 3) unklare Träume; 4) Traum im Traum; 5) frü¬
her Gesehenes später träumen. Diese sind die fünf. Was sind „reale
Träume"? Als der Tathägata noch ein Bodhisattva war, sah er die
liinf Träume als nicht unterschieden von der Realität. Das sind
„reale Träume". Irreale Träume sind, wenn jemand träumt und dies
nach dem Aufwachen nicht real ist. Das sind „irreale Träume". „Un¬
klare Träume" bedeutet, daß im Traum weder Vorher noch Nachher
" Die Interpunktion des Taishö ist hier wohl fehlerhaft. Die Stelle ist parallel zur vorigen zu lesen.
" T. 24.760a Vibhäsä-vinaya. Übers.: Sanghabhadra, Xiao-Qi.
Zum Begriff des Traumes und seiner Funlition 349
noch das Dazwischen sich einprägt. Das sind „unlilare Träume".
„Traum im Traum" bedeutet, daß man im Traum anderen Träiune
erzählt. Früher Gedachtes später träumen heißt, daß man das am
Tag Getane oder Gedachte nachts träumt'^
Diese PJeihung mutet etwas eigenartig an, denn hier werden verschie¬
dene Ebenen vermischt. Bleiben wir jedoch zunächst bei der obigen
Frage nach den „realen Träumen". An dieser Stelle werden wir nun
weiterverwiesen auf die fünf Träume des Bodhisattva, i. e. Buddhas in
einer früheren Inkarnation:
Der Heilige Shanhui ( §^ )" hatte in den Bergen fünf sonderliche
Träume. 1) Er träumte, daß er im großen Meer schliefe. 2) Er
träumte, seinen Kopf auf dem Berg Sumeruzu betten. 3) Er träumte,
daß alle Lebewesen im Ozean in seinen Körper eindrängen. 4) Er
träumte, die Sonne in der Hand zu halten. 5) Er träumte, den
Mond in der Hand zu halten. Aufgrund dieser Träume erwachte
er mit großer Bestürzung^".
Er fragt den „Glänzenden Tathägata" nach der Bedeutung. Dieser
erklärt:
„Daß Du träumtest, im großen Meer zu schlafen, bedeutet, daß
Du in dieser Existenz im großen Meer des Geborenwerdens und
Sterbens weilst. Daß Du träumtest, den Kopf auf den Sumeru
zu betten, ist Zeichen {xiang ) für den Austritt aus Geburt und
Tod und das Erlangen des Nirvana. Daß Du träumtest, alle Wesen
des Ozeans drängen in Deinen Körper ein, bedeutet, daß Du
Zufluchtsort wirst für alle Wesen im großen Meer von Geburt
und Tod. Daß Du träumtest, die Sonne in der Hand zu halten,
bedeutet, daß der Glanz der Weisheit die Dharmawelt bescheint.
Daß Du träumtest, den Mond in der Hand zu halten, bedeutet,
daß Du mit dem Wissen um die rechten Hilfsmittel {upäya, fangbian
^{|? ) in Geburt und Tod eindringst und mit dem reinen Dhanna
die Wesen bekehrst und sie sich lösen läßt vom Fieber der Ver¬
irrung. Diese Träume sind verursacht vom Zeichen, daß Du in Zu¬
kunft ein Buddha werden wirst."^'
Die fünf Träume des künftigen Buddha sind also insofern real, als sie
Kommendes künden. Von hier aus können wir wieder zurückgehen zum
T. 22.263 a-i-b Mahäsangha-vinaya. Übers.: Buddhabhadra und Faxian,
östl. Jin.
" i.e. eine Inkarnation des späteren Buddha.
^° T. 3.621b Guogu xiamai yinguojing. Übers.: Gunabhadra, Liu-Song.
^' T. 3.623a ibid.
24 ZDMG 142/2
Ausgangspunkt, nämlich den sog. „Z)e?)aträumen", und festhalten, daß
es sich auch hier nicht um willkürliche „geisterverursachte" Träume
handelt. Sie sind mit der Moralität des Träumers implizit verknüpft,
denn die gesammelten Meriten werden ihre Frucht im Sinne von fort¬
schreitender Befreiung tragen. Idealistisch interpretiert sind die Devas
schlichtweg Verkörperungen des moralischen Zustandes des Träumen¬
den. Diese Einsicht mag wohl im Verlaufe des Heranreifens einer Hal¬
tung wachsen, die das Illusionäre der Zweiheit von Gegenüber und
Selbst transzendiert.
Gehen wir nun wieder einen Schritt zurück zum zuvor genannten Fün¬
fer-Schema, so bedeutet „real", daß der Traum mit der Wirklichkeit
einen direkten Zusammenbang hat, im Gegensatz zum „irrealen". Beide
Kategorien befassen sich also mit dem Realitätscharakter von
Träumen. Die dritte und vierte Kategorie beziehen sich auf den
Trauminhalt, die fünfte auf einen Faktor, der Träume verursacht.
Die Reihung mutet daher recht unsystematisch an.
Es bleiben noch die beiden ersten Kategorien der ganz zu Anfang
genannten Vierer-Reihung des Vinaya-pitaka zu betrachten. Die zweite
ist an sich unproblematisch: man träumt das im Wachen Erfahrene. Zur
ersten, der Disharmonie der Elemente, wird im Rahmen eines weiteren
Fünfer-Schemas mit einigen Abweichungen in der Prajnpärämitä-Lite-
ratur folgendes ausgeführt:
Es gibt fünf Arten von Träumen. Wenn es im Körper Disharmonie
gibt, etwa wenn man zuviel heißes Qi hat, dann träumt man viel
von Feuer, Gelb, Rot. Wenn man zuviel kaltes hat, sieht
man im Traum viel Wasser und Weiß. Wenn man viel Wind-Qi hat,
dann träumt man vom Fliegen und Schwarz. Weiter träumt man
von dem, was man gehört und gesehen, weil man darüber viel
gegrübelt hat; oder weil die Devas einen durch Traum die Zukunft
wissen lassen wollen. All diese fünf Träume sind irreale Dinge und
Verblendung^'^.
Hier wird neben den bereits bekannten Kategorien: früher Erfahrenes
und Dewa-Träume (hier explizit als Vorwegnahme künftiger Realität,
aber dafür an dieser Stelle dennoch als irreal bezeichnet, denn auch
wenn der Traum wahr werden wird, ist er im Moment des Träumens
noch irreal) das Ungleichgewicht im Körper als dreigegliedert vor¬
gestellt. Die pliysischen Ursachen überwiegen hier die psychischen.
Chengguan ( ) der Tang-Zeit versucht — recht spekulativ — eine
" T. 25.103c MahäprajUä-päramitä-sästra von Nägärjuna. Übers.: Kumära¬
jiva, spätere Qin.
Zum BegrifT des Traumes und seiner Funlition 351
Beziehung zwischen diesen fiinf Trauminhalten und den fünf Existenz¬
weisen herzustellen: Feuer steht daim für Hölle, Weiß für den Men¬
schen, Schwarz für das Tier, Grübeln für die Dämonen und Devas für
eben diese". Damit integriert er letztlich die medizinische Komponente
(das Qi), die ja primär unabhängig von der Moralität des Träumenden
ist, in eine karmatische Interpretation.
Noch eine weitere Klassifizierung begegnet im Kanon: sie altemiert
zwischen fünf und sieben Ursachen, wonach Träume von Zweifel, Diffe¬
renzieren, Gewohnheit, Phänomenen und Worten von Nicht-Menschen
(gemeint sind wohl Devas) vemrsacht werden. Hinzu kommen Gehörtes
bzw. Gesehenes und Sorgen^"*. Die ersten drei sind subjektive, die bei¬
den nächsten objektive Faktoren, ergänzt mit den Kategorien gemach¬
ter Erfahmng und aktueller Probleme. Auffällig ist hier, daß überhaupt
kein Bezug genommen wird auf physische Traumursachen.
Bei den Yogäcärins wird noch eine weitere Reihung vorgestellt:
Was heißt „Traum"? Er entsteht, weil das Sichstützen geschwächt
ist^'. Oder er entsteht aus Übermüdung, oder aus zu schwerem
Essen, oder aus dem Nachgrübeln über dunkle Zeichen, oder aus
dem Schlaf, der Gewohnheiten verknüpft." Oder aus Fremd¬
ursachen, etwa dem Bewegen eines Fächers, aufgmnd eines Mantra,
wegen einer Medizin, oder durch die furchterregenden Götter ent¬
stehen wirre Träume^'.
Auch hier sind die ersten Faktoren auf das Subjekt bezogen (psycho-
wie physiologisch), nur die letzte Kategorie greift Fremdursachen auf
wobei aber letztlich wieder nur die Götter im eigentlichen Sinne als
solche zu bezeichnen sind. Die anderen genannten Fälle lassen sich im
Gmnde unter die ersten Faktoren subsumieren: „geschwächte" Wahr¬
nehmung, mentale oder physische Vorgänge. Markant ist die
„Schwäche" und „Wirrheit", die hier dem Traum zugeschrieben wird,
was jedoch nicht weiter verwundert, hält man sich die philosophische
" T. 36.595 a Dafang guangfo li.uayanjing suistiu yanyichao von Chengguan, Tang.
T. 28.145 b Abtiidharma-vibfiäsä-sästra, Kätyäyaniputra zugeschrieben.
Ubers.: Buddhavarman mit Daotai, nördl. Liang.
" i.e. Erkenntnis „stützt" sich aufdie Objekte. Diese sind irreal im Traum, daher die „Schwäche".
Wie oben: Träume entstehen aus Giewohnheiten, gewissermaßen als Konti- nuante des Wachzustandes.
" T. 30.281 a Yogäcäryabhümi-iästra. Maitreya zugeschrieben. Übers.:
Xuanzang, Tang.
24*
Position der Yogäcärins mit ihrem psychologisch-epistemologischen Akzent vor Augen.
Überblickt man all diese Aussagen zur Entstehung von Träumen, so
bleibt folgendes festzuhalten: die Betonung liegt auf den subjektiven
Faktoren; äußere Anlässe sind demgegenüber sekundär. Auch überwie¬
gen psychologische Ursachen physiologisch-medizinische bei weitem.
Wenn demnach das Subjekt im Brennpunkt des Interesses steht, drängt
sich die Frage nach der Individualität von Träumen auf In der Tat nen¬
nen die Yogäcärins in einer Reihung von 15 nicht gemeinsamen Karman
auch den Traum^*, und der Hinweis auf die Tatsache, daß wenn in einer
Menge jemand schläft, keiner das sieht, was er sieht^', kann individuali¬
stisch gedeutet werden. Insgesamt liegt das Individuelle der Träume
aber wohl kaum in den Trauminhalten, denn es werden nur „Standard¬
traumbilder" angesprochen (siehe im folgenden 2.2.). Der Bezug des
Einzelnen zu seinen Träumen besteht, wie es scheint, nur insofern, als
sie Produkte seiner mentalen Verfassung, die Giewordenheit durch
Karmanim umfassenden Sinne eingeschlossen, bilden und der Position
entsprechen, die er auf seinem Weg zur Vervollkommnung einnimmt.
Die Positionen aber sind wiederum „standardisiert" (das beste Beispiel
sind die Bodhisattva-Stufen). Dies wird nicht einmal zwingenderweise in
den Fällen negiert, in denen „Fremdursachen" Träume hervorrufen.
Der Akzent auf der psychologisch-karmatischen Auslegung hebt den¬
noch, wie sich am klarsten im Vierer-Schema des Vinaya-pitaka zeigte,
die Integration „präbuddhistischer" Elemente nicht auf: medizinischer
wie „übernatürlicher" Traumursachen, wobei aber gerade letztere eine
Herausforderung an eine buddhistische Interpretation darstellte, die im
Grunde ein geschlossenes System anstrebte. Wie sollte man „Erschei¬
nungen" in Träumen, ob erfreulich oder dämonisch, verstehen? „Offen¬
barungen" — um eine christliche Vokabel zu gebrauchen — kann es unter
dem Grundgesetz des Äamaw eigentlich nicht geben. Erklärt man jeden
Traum mit der Moralität bzw. dem angesammelten Karman des Betref¬
fenden, bleibt die praktische Tatsache, daß wohl auch solche, die schon
weit auf dem Weg zur Vervollkommnung gekommen sein müßten, mit¬
unter von üblen Traumgesichten geplagt werden. Es bietet sich hier der
Ausweg aus dem interpretatorischen Dilemma, daß der böse Mära
dahinterstecken müsse. Doch wird versichert, daß der angehende Bod¬
hisattva, hat er erst die höchsten Stufen der Erkenntnis erreicht, auch
■'^ T. 43.646b Chengweishilun zhangzhong shuyao von Kuiji, Tang.
^' T. 17.955c Dactieng xiuxing pusaxingmen zhujing yaqji. Übers.: Zhiyan, Tang.
Zum BegrifT des Traumes und seiner Funlition 353 frei von diesen Einflüssen sein wird^". Damit ist das Problem im Grunde
aber nicht gelöst, sondern nur verlagert, nämlich auf die Figur des Mära
bzw. die Frage nach dem Bösen. — Die Mädhyamika-Lösung setzt
schlicht aufdie Leere {^) des Traumes wie des Träumenden, während
die idealistische Variante das „Außen" ins „Innen" holt und alles als
bewußtseinsimmanent erklärt^'. Damit wäre darm eben auch das
Übernatürliche eingebunden ins System.
Alle Wesen, selbst Bodhisattvas, träumen, da sie noch keine Buddhas
sind und daher „Hindernisse" haben. Nur ein Buddha schläft ohne
Träume, deim er durchdringt alles und kennt keine Verwirrung mehr^^
Er hat die Traumhaftigkeit der Welt endgültig transzendiert.
2.2. Wertigkeit von Träumen
Sind Träume entstanden, so gilt es, sie zu werten. Im Vinaya-pitaka
werden dementsprechend drei Kategorien aufgestellt:
Es gibt gute, böse und neutrale [Träume]. Träumt man davon,
sich vor dem Buddha zu verneigen, den Dharma zu hören oder zu
predigen, so ist das gut und verdienstvoll. Träumt man von Töten,
Raub und Unzucht, ist das böse. Träumt man von roter, weißer,
grüner oder gelber Farbe, ist das ein neutraler Traum'\
Interessant sind natürlich insbesondere die guten und bösen Träume.
Zunächst zu den Guten: Insgesamt gilt, daß gute Trauminhalte stets
glückverheißend sind und i. d. R. aufdie Tugend des Träumers schließen
lassen. Gute Trauminhalte sind all die, die mit Buddhasymholen (z. B.
Lotos) oder Buddhas und Bodhisattvas selbst zu tun haben'". Der Träu¬
mer sieht daraus, daß er auf dem rechten Weg ist, und sollte er krank
Vgl. Mitsukawa Bungei: „„Yume" to bosatsu no gyö" S. 141-143, einer Studie über die 108 Traumzeichen und ihre Zuordnung zu den Bodhisattva- Stufen. (Dazu 2.2.) Dieser Artikel erschien in Ryükoku kiyö, Nr. 4/1, S. 121- 147, August 1982.
^' Taixu bringt in seiner Erklärung die Möglichkeit der Verbindung des
Bewußtseins, i. e. der Alaya, mehrerer Personen ein, z. B. könnte die „Bewoißt- seinskraft" einer Mutter, die ihr in der Ferne weilendes Kind liebt, bei diesem ihr TraumbUd hervorrufen. (Taixu, op. cit. S. 799).
" T. 10.1039e Zuisheng wen pusa shizhu chugou duanjiejing. Ubers.: Zhu Fonian, Yao-Qin. T. 2T .194 & Ahhidharma-mahävihhäsä-sästra. Übers.: Xuan¬
zang, Tang. T. 35.225c Huayanjing tanxuanji von Fazang, Tang. T. 28.145b
s. Anm. 24.
" T. 24.760a s. Anm. 17.
^" z.B. T. 7.927a Mahäprajnäpäramitä-sütra. Übers.: Xuanzang, Tang.
sein, kann er auf Gesundung hoffen'\ Gute Träume sind etwa — folgt
man der Reihung der „zwölf Traumkönige" —: fliegen und mit einer
Flagge bedeckt werden; Statuen, Pagoden, Tempel und DharmaveT-
sammlungen; ein Gott auf einem weißen Pferd; auf einem weißen Ele¬
fanten einen Fluß überqueren; auf einem Kamel einen hohen Berg
erklimmen; vom hohen Sitz herab die höchste Weisheit verbreiten;
unter einem Baum [dem Bodhibaum] ordiniert werden; weiterhin
Träume von praktizierenden Mönchen, Meditation, einem Großkönig
und seiner Gemahlin". Auf den Bodhisattva bezogen stehen die Träume
im Zusammenhang mit der Stufe seiner Vollendung, so daß er sich
den Dhanna lehren sieht u.ä. (Es werden ganze 108(!) Traumzeichen
genannt^'). Hat man die Vollendung erreicht, träumt man z.B. von
Feuer auf dem Kopf und Wasser unter sich und sich selbst im leeren
Raum'*. Träumt man in Krankheit von Schätzen, Blumen und Him¬
melspalästen, vrird man in den Himmel kommen", ebenso wenn man
von Amitäbha oder Ksitigarbha träumt. Besonders in den esoterischen
Texten wird betont, daß der Strebende durch gute Träume sich seines
Erfolges vergewissern kann"", etwa weil ihm im Traum ein Buddha den Kopf streichelt und ihn lobt"'.
Gerade die esoterischen Texte bemühen sich um eine Reihung von
Träumen nach ihrer Wertigkeit. Erzählt wird die Geschichte eines Brah¬
manen, der träumt, in Jambudvipa*^ gebe es einen großen Lotos mit
einem Mondrad darin, und in diesem vriedemm sei ein Mann, dessen
Glanz alles bescheine und der alle Wesen aufs Höchste erfreue. Erfragt
daraufhin den Buddha, der ihm erklärt, daß es vier gute Träume gebe:
einen Lotos sehen, beschirmt zu sein, die Mondscheibe und eine Bud-
dhagestsdt zu erblicken"'. An einer anderen Stelle werden Träume nach
gut und böse in mehreren Vierergmppen zusammengefaßt:
T. 8.485 a-l-b Dasasahasrilcä prajnäpäramitä. Ubers.: Zhiqian, Wu.
'' T. 46.189b Zliiguan fuxing chuanhongjue von Zhanran, Tang.
" T. 11.81-83 Vinisodhana-nirdesa. Übers.: Dharmaraksa, westl. Jin. Vgl.
dazu Mitsukawa, op. cit. Die Zahl 108 spielt ja auch sonst eine besondere Rolle im Buddhismus, man denke nur an die 108 Befleckungen.
" T. 10.1039c s. Anm. 32.
^' T. 12.228a Vyäsa-pariprcchä. Übers.: Prajnäruci, östl. Wei.
T. 18.752b SMÖöÄM-jaanprcc/iä. Übers.: Dharmadeva(?), Song. T. 18.763c Ruilingyejing. Übers.: Amoghavajra, Tang. T. 18.773a-l-b -I- 775c s. Anm. 14.
"' T. 17.904b Zhancha shane yebaojing. Übers.: Bodhidipa(?), Sui.
Einer von sieben Kontinenten um den Sumeru.
"^ T. 17.892a Foshuo chustieng putixinjing. Übers.: Jfiänagupta, Sui. Zum
Erblicken eines Buddha im Traum siehe Honbu Enjö: „Muchü kenbutsu ni
Zum Begriff des Traumes und seiner Funktion 355 Der Bodhisattva hat vier Arten von Z)ÄarTOahindemis-Träumen.
Welche vier? Er träumt, der Mond falle in einen Brunnen in der
Ebene. Er träumt, der Mond erscheine in trüben Quellen und
Tümpeln. Er träumt, der Mond Vierde im Himmel von großen Wol¬
ken verdeckt. Er träumt, der Mond werde im Himmel von Rauch
und Staub getrübt. Diese sind die vier.
Weiterhin hat der Bodhisattva vier Arten von Ä<irma?!-hindernis-
Träumen. Welche vier? Er träumt, in einen großen Abgrund zu stür¬
zen. Er träumt von hohen und tiefen Wegen. Er träumt von felsigen
krummen Wegen. Er träumt, die Orientierung zu verlieren und
erschrickt. Diese sind die vier.
Weiterhin hat der Bodhisattva vier Arten von Leidenschaftshinder-
nis-Träumen. Welche vier? Er träumt von Unruhe stiftenden Gift¬
schlangen. Er träumt von bösen Tierrufen. Er träumt, Räubem
in die Hände zu fallen. Er trämnt, sich mit Staub zu bedecken.
Diese sind die vier.
Weiterhin hat der Bodhisattva vier Arten von Dhärani-Träumen.
Welche vier? Er träumt, der versteckte Speicher sei voller Schätze.
Er träumt, daß sich Blumen in einem reinen Teich ausbreiten.
Er träumt, ein paar reine Baumwollstoffe zu bekommen. Er träumt,
alle Devas hielten eine Decke über ihn. Diese sind die vier.
Weiterhin hat der Bodhisattva vier Arten von Samä<iÄivollendungs-
Träumen. Welche vier? Er träumt, ehrenwerte Jungfrauen über¬
reichten ihm feierlich Blumen. Er träumt, weiße Gänse flögen im
Himmel in Formation umher. Er träumt, der Tathägata streiche
ihm mit der Hand über den Kopf Er träumt, der Tathägata sitze
auf einer Lotosblüte im Meditationssitz in Samädhi. Diese sind die
vier.
Weiterhin hat der Bodhisattva vier Arten von Tathägataseh&u-
Träumen. Welche vier? Er träumt, der Mond komme hervor. Er
träumt, die Sonne komme hervor. Er träumt, eine Lotosblüte
öffne sich. Er träumt. Brahman ruhe in Erhabenheit. Diese sind
die vier.
Weiterhin hat der Bodhisattva vier Arten von Träumen über das
Erlangen des Zeichens eines großen Menschen. Welche vier? Er
träumt, ein Teakbaum sei voller Samen von wunderbaren Blüten.
Er träumt, ein Bronzebehältiüs sei voller Schätze. Er träumt
tsuite". Der kurze Artikel findet sich in Indogaku bukkyögaku kenkyü Nr.
28/1 S. 373-376, August 1979.
von der Feierlichkeit einer Flagge. Er träumt, der Cakravartin
führe die Welt mit dem Dhanna. Diese sind die vier.
Weiterhin hat der Bodhisattva vier Arten von Träumen über das
Zeichen des Nichtmehr-Zurückfallens"". Welche vier? Er träumt,
sein Haupt sei von weißer Seide umschlungen. Er träumt, eine
Almosengemeinschaft ohne Hindernisse zu errichten. Erträumt, auf
dem Dharmasitz zu sitzen. Er träumt, Buddha lehre den Dharma
am Erleuchtungsort. Diese sind die vier.
Weiterhin hat der Bodhisattva vier Arten von Träumen zur Über¬
windung von Märas Haß. Welche vier? Er träumt, der starke
Krieger dränge den schwachen zurück und trage das Siegesbanner
davon. Er träumt, der mutige General gewinne den Kampf. Er
träumt vom Empfang der esoterischen Weihe. Er träumt, unter
dem Bodhibaum zu sitzen und alle Teufel zu besiegen. Diese sind
die vier.
Weiterhin hat der Bodhisattva vier Arten von Träumen über das
Sitzen am Erleuchtungsort. Welche vier? Erträumt, die glückverhei¬
ßenden Vasen seien voll'*^ Er träumt, alle gingen rechts um ihn
herum. Er träumt, daß, wohin er geht, alle Bäume die Zweige
neigten. Er träumt, Goldglanz scheine überall. Diese sind die
vier"'.
Die Beispiele sind im Grunde leicht verständlich, mit vielen gängigen
Symbolen versehen und recht konkret. Aus dem Inhalt selbst ergibt sich
somit direkt ihre Wertigkeit. (Ausnahmen werden im Rahmen der
Traumdeutung noch zur Sprache kommen) . Es scheint in der Tat so zu
sein, daß je besser jemand sein „inneres Auge" entwickelt hat, desto
klarer er Gut und Böse zu schauen vermag. Dennoch wird nicht aus¬
geschlossen, daß auch ein guter Mensch schlimme Träume haben kann.
In diesem Fall zieht man Karmanreste oder teuflische Einflüsse zur
Erklärung heran"'. Entscheidend ist letztlich die Haltung, die man dem
Traum gegenüber einnimmt; daher der Rat, sich nicht zu sehr über
glückverheißende Träume zu freuen"* und bei bösen sich zu denken,
daß, träumt man z. B. von Feuer, dies auch sein Gutes hat (es brennt die
"" i.e. daß man auf der Stufenleiter der Bodhisattvas keine Rückschritte mehr erleben wird.
"^ Ein Bild für bodhi.
"' T. 17.710aH-b Catuskanirhärasütra. Übers.: Siksänanda, Tang.
"' T. 15.450b Foshua fangbqjing. Übers.: unbekannt. T. 17.154a Saddhar- masmrtyupasthäna-sütra. Übers.: Prajnäruci, östl. Wei. Vgl. auch das oben in 2.1. Gesagte.
"* T. 18.276c Zhufo jingjie she zhenshijing. tjbers.: Prajfia, Tang.
Zum Begriff des Traumes und seiner Funlition 357
Leidenschaften weg) , desgleichen Schlamm (der sie wegspült) , und so
auch Böses zum Guten zu wenden. Ansonsten raten die esoterischen
Texte, Gelübde und Mantras gegen böse Träume zu praktizieren"',
wogegen Reine-Land-Texte die Amitäbha-Anrufung anempfehlen'". Bei
aller Systematisierung bleiben die Träume ja doch, absolut gesehen,
illusionär.
2.3. Traum, Wahrnehmung und Erkenntnis
Wie oben beim Entstehen von Träumen schon angemerkt, liegt der
Ursprung derselben vornehmlich im Herzen des Träumers, der aber im
Zustand des Träumens in seiner Erkenntiüsfähigkeit besonderen
Bedingungen unterliegt. Es stellt sich daher die Frage nach den psycho¬
logischen Abläufen beim Phänomen Traum. Der Traum ist im Zusam¬
menhang mit Wahrnehmung und Erkenntnis deshalb so bedeutend,
weil mit ihm die Buddhisten das Argument zu widerlegen suchten, daß,
wenn man Objekte wahrnimmt, diese real sein müßten. Im Traum sieht
man nämlich, und doch ist in Wahrheit kein Objekt da. (Hier zeigt sich
die enge Verbindung von epistemologischen und ontologischen Aspek¬
ten). Dies realisiert man aber erst im Augenblick des Erwachens" —
eine klare Parallele zum Leben selbst.
Laut buddhistischer Erkenntnistheorie, wie sie insbesondere bei den
„idealistischen" Richtungen entwickelt wurde, gilt als Grundsatz:
Die Dinge [i.e. Traumobjekte] sind nicht unabhängig vom Traum,
und der Traum ist nicht unabhängig vom Menschen'^.
(Daher ja auch die grundlegende These im Vorigen, daß gute Men¬
schen Gutes träumen usw.) Nach dem Prinzip der Prajnäpäramitä-Lii^-
ratur umgedreht, heißt das: die Organe und ihre Objekte sind an sich
leer. Der Traiun „stützt" sich auf den Schlaf*', und er hat, wie beim Ent¬
stehen von Träumen dargelegt, mit „Anhängen an etwas" zu tun, mit
der mentalen Verfassung, die das Wollen miteinbegreift. Dies wiederum
wird lokalisiert im sechsten Bewußtsein (bei Yogäcära erweitert um
KLista-manas und Älaya als siebtes und achtes Bewußtsein).
T. 18.775a s. Anm. 14. T. 18.776b (^ngjing fasfien piluzherm xindi famen cfiengjiu yiqie tuoluoni sanzhong xidi. Ubers. : unbekannt.
T. 47.277a-c Longshu zengguang jingtuwen von Wang Rixiu, Song.
^' T. 31.76b-l-c Vidyämätra3iddhivonVamha,ndhu. Übers.: Xuanzang, Tang.
" T. 44.311c Qixirdun shubi xiaoji von Zixuan, Song, bringt dies am
prägnantesten zum Ausdruck.
" T. 44.569b Daeheng yizhang. Ausgewählt von Huiyuan, Sui.
Nach einer Reihe von Texten wird im Traum keine Aktivität der fünf
Sinnesorgane angenommen''', und es erscheinen im Traum Objekte, die
aus einer früheren Erkenntnis erinnert werden". Da auch ein Blinder
träumt, nimmt man Erinnerungen aus früheren Leben als Grund an"
oder rein die Begierde", die das Begehrte visualisiert. Der Charakter
dieser Erkenntnis ist jedoch an sich irreal {feiliang g; ), da die
Erkenntnisobjekte „nur Schatten" (duying f§ ^ ) bzw. „nur im Kopf
(dutov 55 W. ) sind'*. Da aber andererseits auch angenommen wird,
daß Träume die Zukunft anzeigen können (s.o. 2.1.), kann man nicht
generell Träume nur als Schäume bezeichnen. Daher wird auch von
„Traumerkenntnis" gesprochen, die allerdings nur als Analogie {biliang
tk Ä ) verstehen ist, somit aber einen Bezug zur (künftigen) Realität
bekommt".
Andererseits wird auch mancherorts die Fremdverursachung auf¬
gegriffen im Sinne äußerer Eindrücke während des Schlafes. Die Sinne
agieren demnach schon, aber die adäquate Koordinierung im sechsten
Bewußtsein fehlt. Daher interpretiert man das Wahrgenommene fehler¬
haft:
Wenn einer fest auf seinem Lager schläft und jemand von seinen
Hausgenossen, während er schläft, Reiskörner stampft, dann macht
jener im Schlaf aus dem vernommenen Stampfgeräusch etwas
anderes, etwa Kriegstrommeln oder Glockenschläge. Im Traum
wundert er sich noch, daß die Glocke wie Holz und Stein klingt.
Dann erwacht er plötzlich und begreift, daß es der Ton des Stö¬
ßels war. Er sagt zu den Seinen: „Als ich träumte, hielt ich fälsch¬
licherweise dieses Stampfgeräusch fiir Trommelklang." Ananda, wie
hätte die Erinnerung dieses Menschen im Schlaf ruhig oder er¬
regt, geöffnet oder verschlossen, durchgängig oder verstopft sein
können? Äußerlich schlief er zwar, aber sein Hören war nicht ver¬
dunkelt"".
z.B. T. 36.594c-595b s. Anm. 23.
T. 21.715b Dafaju tuoluonijing. Übers.: Jnänagupta, Sui. T. 29.346a
Nyäyänusära-sästra von Sahghabhadra. Übers.; Xuanzang, Tang.
" T. 41.491b Jiishelun shu. Ausgewählt von Fabao, Tang.
" T. 12.181a Bhadrapälasresthipariprcchä. Übers.: Diväkara, Tang.
'* T. 41.491b s. Anm. 56. T. 45.471 b ßosÄi gTiijMbMzÄM. Ergänzung von Putai, Ming.
^' T. 34.124b Miaofa lianhuajing wenju von Zhiyi, Sui.
T. 39.890b Shoulengyan yishu zhujing, zusammengestellt von Zixuan,
Song.
Zum BegrifT des Traumes und seiner Funlition 359
Hier wird bestätigt, daß die Sinne durchaus im Traum wahrnehmen
können und man daher nicht nur aus Erinnerung träumt, aber daß die
dem Sinneneindruck entsprechende Intellektion fehlt. Das Problem
liegt ja nach buddhistischer Erkenntnistheorie weniger in falschen
Wahrnehmungen, als in der Verarbeitung derselben. Diese passiert auf
der Stufe des sechsten Bewußtseins, der Ebene, die auch fiir andere
Bewußtseinszustände wie Samädhi oder Zerstreutheit verantwortlich
ist". Nicht geklärt wird im obigen Beispiel aber, wieso der Träumer
gerade Trommeln oder Glocken assoziiert. Zu vermuten ist, daß er diese
eben aus Erfahrung kennt, und nur die Verknüpfung mit dem aktualen
Sinneseindruck fehlerhaft ist. So gesehen träumt man dann nicht nur
aus Erinnerung, aber diese macht erst ein „Wiedererkennen" von
Objekten möglich'^. Diese Interpretation bietet sich an, da auch selt¬
same Erscheinungen im Traum, wie z.B. ein Mensch mit Hörnern, aus
der fälschlichen Zusammensetzung zweier früher an verschiedenen
Orten gemachter Erfahrungen/Erkenntnisprozesse erklärt werden"'.
Anders gewendet bedeutet das, daß äußere Impulse im Traum unmittel¬
bar mit der vorhandenen „Prägung" des träumenden Bewußtseins inter¬
agieren. Diese wiederum bestimmt sich (nach Fbg-acara-Auffassung)
nach dem „Parfümieren der Samen" (i. e. dem achten Bewußtsein bzw.
Älayaf'.
Es ergibt sich also, daß der Traum insofern vom Wachen zu unter¬
scheiden ist, als seine Objekte jeder Realität entbehren (zumindest im
Moment des Träumens), und die Umsetzung der Wahmehmung (die,
werm von „Innenobjekten" erregt, selbst Täuschung, werm von tatsäch¬
lichen Sinneneindrücken provoziert, selbst richtig ist) fehlerhaft ist.
" T. 45.470c-471b s. Anm. 58. T. 48.623c Zongjinglu, zusammengestellt von Yanshou, Song. Hier zeigt sich z.B. die recht enge Bindung, die zwischen
den Phänomenen Traum und Meditationsschau besteht, worüber bereits
Huiyuan Kumärajiva befragte. (T. 45. 134b-135a Dacheng dayizhang von
Huiyuan und Kumärajiva, östl. Jin). Im übrigen gilt fur Samädhi und Zerstreut¬
heit Analoges bzgl. der Bewußtseinsunmanenz der Objektsphäre und ihrer
Erkenntnis.
" T. 41.491b 8. Anm. 56.
" T. 27.194b s. Anm. 32.
" T. 16.555b Lankävatära-mtra. Übers.: Bodhiruci, nördl. Wei. T. 16.578c ibid. T. 33.226c s. Anm. 12. Über die Entsprechung der Träume zur Reinheit oder Unreirüieit des Alaya ergibt sich wiederum der Brückenschlag zur karmati-
schen Interpretation, daß der Gute Gutes träumt und der Böse Böses.
2.4. Traum und Wirkung
Das Phänomen Traum stellt aber nicht nur ein Problem fiir die Psy¬
chologie des Erkenntnisprozesses, sondern auch fiir die Lehre vom Kar¬
man, also die Moralität, dar. In anderer Form kreist dies wieder um die
Frage, wie die Verbindung des Traumes zum Wachen zu fassen ist. Ein¬
schlägig sind hier zunächst einmal wieder die Fimya-Regeln. Darin
wird festgelegt, welche Vergehen gebeichtet werden müssen, wozu eine
Reihe von Vorschriften zählen, die mit Sexualität zu tun haben.
Da war ein Mönch, dessen Sinn {yi ^) im Schlaf verwirrt war
und der im Traum Samen ergoß.
Er fragt sich, ob er eine Sünde begangen habe, und läßt den Erhabenen
fragen.
Darob berief der Erhabene alle Mönche zusammen und sagte ihnen:
Schläft man mit verwirrtem Sinn, so kommt es zu fünf Fehlern:
1) bösen Träumen; 2) die Devas schützen einen nicht; 3) das Herz
weilt nicht im Dharma; 4) man hält sich im Traum nicht an helle
Zeichen [i.e. Positives]; 5) man ergießt im Traum Samen. Diese
sind die fiinf Fehler.
(Dem gegenüber stehen entsprechend fiinf Verdienste). Doch der
Buddha legt anschließend klar fest:
Im Traum Samen ergießen ist kein Vergehen"'.
Und an anderer Stelle wird die Frage, ob Zweifel, die man im Traum
hegt, Vergehen seien, mit nein beantwortet, weil der Traum eben irreal
sei"". Zwar wird klargestellt, daß solche Träume kein gutes Zeichen sind, Schuld aber sind sie nicht, weil kein absichtliches Tun vorliegt"'.
Außerdem ist im Traum das Wirken des „Herzens" nicht in vollem
Umfang gegeben, weshalb es auch karmatisch nicht wirksam ist"*.
Diese frühe Auffassung wird in der Prajmpäramiiä-Literatur relati¬
viert. Da sie ausgeht vom Grundgesetz, daß alles, was ist, durch Ver¬
ursachung entstanden ist, wird dem Traum hier weniger Autonomie
zugestanden. Demnach soll der Buddha gesagt haben:
„Zwischen Traum und Wachen gibt es keinen Unterschied.""'
"' T. 22.579b+c Dharmagupta-vinaya. Übers. : BuddhayaÄas mit Zbu Fonian, spätere Qin.
" T. 22.263a s. Anm. 18.
" T. 23.14b Sarvästiväda-vinaya. Übers.: Punyatara mit Kumärajiva, spä¬
tere Qin.
T. 24.760a s. Anm. 17. T. 43.1002c-1003 a Weishi ershilun shuji, aus¬
gewählt von Kuiji, Tang.
T. 7.832 a s. Anm. 34.
Zum Begriff des Traumes und seiner Funlition 361
Dies ist wohl eine eigene Interpretation des bereits genannten Mahäyä-
TWi-Axioms, daß alle Dharmas wie lYaum seien. Vom Mädhyamika-
Standpunkt her gesehen ergibt sich die Identität aufgrund der Leere
bzw. — anders formuliert — dem Fehlen der Eigennatur (svabhäva, zixing
)•
Es entspinnt sich zu diesem Thema ein Dialog zwischen Subhüti und
Säriputra über den Wert dessen, was ein Bodhisattva im Traum tut. Sub¬
hüti vertritt dabei die Ansicht, daß der Traum eine Fortsetzung des
Wachens ist, und daher die Bodhisattvaprsixis auch im Traum geübt
wird, wobei man sich weiter vervollkommnet. Damit wäre der Traum
ebenso karmatisch wirksam, denn:
Ob im Traum oder im Wachen, kein mentales Karman entsteht
ohne Verursachung'".
Damit wird einerseits die „Realität" des Traumes vordergründig positi¬
ver gefaßt, jedoch ist absolut gesehen das Ziel, das Wachen auf die
gleiche Ebene mit dem Traum zu drücken, wodurch eben die Traumhaf¬
tigkeit des Karmangesetzes betont wird.
Diese Gleichsetzung wird bei den Yogäcärins abgelöst von dem Bemü¬
hen um Differenzierung des Verhältnisses von Traum und Wirklichkeit.
Erfahrungsgemäß zeitigen ja Träume zuweilen schon Wirkungen, ande¬
rerseits sind manche Träume völlig jenseits der Realität". Auch hat das
Bewußtsein im Schlaf nicht seine volle Kraft". Zuweilen bewirken
Träume etwa eine analoge physische Reaktion, während andere Traum¬
inhalte rein traumimmanent bleiben''. Im Sinne der „Schwäche" im
Traum kann im Toö'öcära jedoch eine karmatische Wirkimg nicht ange¬
nommen werden, womit sich wiederum ergibt, daß Traum und Wachen
(für Yogäcära wie auch fiir den frühen Buddhismus) zu unterscheiden
sind'".
Wirksamkeit können Träume aber auch insofem besitzen, als sie Mit¬
tel fiir Bodhisattvas oder andere Wesen sein können, um jemanden et-
'" T. 6.691c s. Anm. 34.
" T. 31.74c s. Anm. 51.
'^ T. 31.76c s. Anm. 51.
" Besonders anschaulich fiihrt das Kuiji in T. 43.986b s. Anm. 68 aus:
„Wenn man im Traum von Geschlechtsverkehr träumt, ist zwar die Objektwelt irreal, aber beim Mann gibt es eine Wirkung in Gestalt von Samenerguß, bei der Frau von Blutverlust. Ebenso gibt es, wenn man sich für eine Entlohnung bis zur
Erschöpfung abrackert, die Wirkung des Schweißvergießens, doch das im
Traum erhaltene Greld hat keinerlei Wirksamkeit."
'" Taixu betont entsprechend in seiner Darstellung des Verhältnisses von Traum und Wirklichkeit, daß in diesem Sinne der Vergleich des Erwachens aus einem Traum mit dem „Großen Erwachen", bodAi, hinkt, (op. cit. S. 801-802).
was anzuzeigen oder mitzuteilen. Sie stehen dann in direktem (z.T.
zeitlich verschobenem) Bezug zur Wirklichkeit. Im Grunde sind aber
nicht die Träume selbst wirksam, sondern sie spiegeln nur das, was ist
oder kommen wird. Erwähnt sei hier eine nette Greschichte über einen
Chan-Mönch, der seinem Freund, einem Beamten, einen Brief schrieb:
Ein gewisser Mensch hat noch sechs Erdenjahre, die ihm übrig
sind. Ohne dich zwingen zu wollen, möchte ich doch, daß er in
deiner Familie geboren wird. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.
In der folgenden Nacht träumt die Ehefrau, der Mönch käme ins
Zimmer.
Ohne zu erwachen rief sie unversehens: „Das ist kein Ort für
Mönche hier!"
Ihr Mann fragt sie, was gewesen ist, und zeigt ihr den Brief Die Frau
wird in der Folge schwanger und gebiert einen Sohn, der nach sechs
Jahren stirbt".
Es zeigt sich, daß im Buddhismus die Bewertung bezüglich des Ver¬
hältnisses von Traum und Wirksamkeit nicht einheitlich war. Yogäcära
differenziert nach Wirkungen, die jedoch nicht karmatisch gedacht
werden. Nur die Prajnäpäramitä-lÄtera,txir möchte die Scheidung der
Ebenen Traum und Wachen (auch in Bezug auf Karman) aufheben.
3. DIE FUNKTION
3.1. Traum als Metapher
Die augenfälligste und häufigste Funktion, in der der Traum im
Kanon verwendet wird, ist die der Metapher. Der metaphorische
Gebrauch richtet sich nach der Intention eines Textes", wie ja etwa
auch das bereits genannte Diktum „alle Dharmas sind wie Traum" nicht
einheitlich interpretiert wurde.
Die wohl ursprünglich intendierte Aussage ist die, daß der Traum Illu¬
sion (huan £3) ist, ein Bild für die Scheinhaftigkeit der Weit wie des ein¬
zefnen Subjektes. Er steht als Metapher in einer Reihe mit Schaum,
Echo, Blitz u.ä., woraus sich ergibt, daß neben dem Scheincharakter
auch die Augenblicklichkeit als Argument galt. So wie nach dem Auf¬
wachen der Traum vorbei ist, wird es auch im Zustand der Erleuchtung
mit dem Samsära sein. Stand noch zuerst die Traumhaftigkeit der
" T. 47.954b Dahui pujue chanshi zongmen wuku von Daoqian, Song.
'" Vgl. den kurzen Artikel Hattori Shömyös, der auf Mädhyamika und
Yogäcära eingeht: „Yume no hiyu ni tsuite'' . Indogaku bukkyögaku kenkyü 3/1 S. 252-254, 1944.
Zum Begriff des Traumes und seiner Funktion 363
Begierde und ihrer etwaigen Befriedigung, also die moralische Ebene,
im Vordergrund'', so wendet sich die Interpretation im Mädhyamikahin
zur ontologischen Aussage: der Traum steht für die Leere des Seins,
über die Begriffe nur hinwegtäuschen wollen'*. Diese Leere wiederum
konstituiert die grundsätzliche Nicht-Zweiheit von Nirväna und Sam¬
sära, Traum und Wachen".
Der Traum wird aber auch eingesetzt, um die Zeit zu relativieren
(objektiv kurze Träume scheinen dem Träumer Jahre zu umspannen,
doch das Aufwachen geschieht plötzlich und mit ihm die Erkenntnis der
zeitlichen Kürze*"). Das Bild des Traumes ist zwar an sich negativ
besetzt, doch wird auch hervorgehoben, daß der Traum die Bedingung
darstellt, um überhaupt zur Erleuchtung zu kommen*'. Er stellt gewis¬
sermaßen schon eine bestimmte Stufe im Erkenntnisprozeß dar (und
man versuchte dementsprechend, als minderbewertete Schulen hierin
einzuordnen, deren Grad des Bewußtseins bezüglich der Traumhaftig¬
keit proportional zur Erkenntnis steht*^). Das sogenannte „Wachen"
ist, absolut gesehen, immer noch Traum, wie die Geschichte des Chanr
Mönches Yunmen illustriert, der aus einem Traum hochschreckte und
verstand, daß er sich noch immer im Traum befand, der sogenannten
„Realität"*'. Ähnlich wie bei Zhuangzi gilt es, ein doppeltes Erwachen
zu erlangen, erst vom kleinen, dann vom großen Traum bin zur Erkennt¬
nis, daß das Traumherz nicht unterschieden ist vom Erleuchtungsher-
3.2. Traum und Bekehrung
Eine wichtige Funktion des Traumes ist es, den Einzelnen mit seiner
momentanen Befindlichkeit zu konfrontieren, ihn zu loben oder zu mah¬
nen und zum Dharma zu bekehren. Nach buddhistischer Geschichts-
" z.B. T. 1.774c Madhyamägama-sütra. Übers.: Sanghadeva, östl. Jin.
'* T. 8.231a PaUcavimsati-sähasrikä-prajnäpäramitä. Übers.: Kumärajiva, spätere Qin.
" T. 8.593 a-l-b Aßtasähasrikä-prajnäpärarnilä-sülra. Übers.: Dänapälaf?), Song.
T. 33.497 e Renwang huguo banruo boliwmiduojing shu von Liangben,
Tang.
T. 22.263a s. Anm. 18.
" T. 37.671 c Dahan niepanjing yiji von Huiyuan, Sui. T. 38.700a-Hb Weimo- jing lüeshu von Zhiyi in der Kurzfassung Zhanrans, Tang.
T. 47.843 b Dahui pujue ehanshi yuhi, zusammengestellt von Yunwen,
Song.
*" T. 44.347 a s. Anm. 52.
Schreibung kam der Buddhismus ja durch einen Traum nach China und
leitete damit die Bekehrung des Fernen Ostens ein. Die Rede ist vom
Traum des i/an-Kaisers Mingdi ( ):
Mingdi sah im dritten Jahr der Periode Yongping () [60 n. Chr.]
im Traum einen gottartigen Menschen, dessen goldener Leib sechs
zhancf^ maß. Von seinem Nacken ging Sonnenglanz aus, und er
schwebte vor dem Palast. Er [der Kaiser] war darob hoch erfreut.
Am folgenden Tag befragte er seine Minister: „Was für ein Gott
war dies?" Der verständige Fuyi ( ) sagte: „Euer Untertan hat
gehört, daß es in Indien einen gel)e, der den Weg erlangt hat.
Er heißt Buddha, schwebt in den Lüften, und sein Leib strahlt wie
die Sonne. Sollte man diesen Gott nicht herbitten?"*"
Und so kamen die ersten Missionare nach China.
Diese Legende korrespondiert mit der Aulfasssung, daß allein schon
das Erscheinen eines Buddha oder anderer Figuren des Pantheon im
Traum sowohl Glück verheißen als auch zur Umkehr gemahnen. Meist
beschränken sich diese Gestalten nicht nur darauf zu erscheinen, son¬
dern sie lehren den Träumenden. Träumt man von einer Diamantgestalt
auf dem Kopf eines weißen Elefanten, der mit einem Diamentstößel
Reinigung oder Buße anzeigt, soll man entsprechend verfahren*'.
Solche Erscheinungen weisen einen demnach weiter auf dem persönli¬
chen spirituellen Weg**. Der typische Bekehrungstraum beinhaltet das
Bild der Goldtrommel, die in Anwesenheit von Myriaden strahlender
Erleuchteter zum Bü&gäthä geschlagen wird*'.
Drastischer werden die chinesischen Autoren: Böse Träume können
„therapeutisch" gemeint sein, indem sie den Einzelnen ängstigen und
so aufrütteln'". Im Jinglü yixiang { j^W^^ > seltsame Zeichen aus
Sütren und Vinaya) ist folgende Geschichte verzeichnet:
1 zhang = ca 3,3 m.
T. 52.363 b-364c Ji gujinfodao lunheng, ausgewählt von Daoxuan, Tang.
*' T. 9.390c Foshuo guanpuxianpusa xingfajing, übers.: Dharmamitra, Liu-
Song.
'* Vgl. auch die Geschichte einer Königin, die im Traum aufmerksam gemacht wird auf den Bodhibaum in ihrer Nähe, und deren Herz der Erhabene mit golde¬
nem Glanz berührt. T. 10.866a Gandavyüha (Auszug), übers.: Shengxian, westl.
Qin.
*' T. 16.336b Suvarnaprabhäsasütra. Übers.: Dharmaraksa, nördl. Liang.
T. 16,365b Hebu jinguangmingjing, zusammengestellt von Baogui, Sui.
T. 16.411a Suvarnaprabhäsotta,maräjasülra, übers.: Yijing, Tang. T. 16.423a ibid.
T. 37.711c + 713c s. Anm. 82.
Zum BegrifT des Traumes und seiner Funlition 365
Es war einmal ein Mann, der weder an Strafe noch an Lohn
glaubte. Er war bereits fünfzig Jahre alt, als er träumte, der
Töterdämon wolle kommen und ihn holen. Er schreckte hoch aus
dem Schlafe und suchte einen Meister auf, der ihm den Traum
deuten sollte. Der Meister divinierte über das Omen und sagte:
„Der Töterdämon will Dir binnen zehn Tagen ein Leid zufügen.
Wenn Du etwas dagegen tun willst, dann mußt Du ab heute
innerhalb von zehn Tagen die fünf Buddhagebote empfangen,
Räucherkerzen abbreimen, Lampen entzünden, Bilder und Banner
aulhängen. Glaubst Du fest an die Drei Schätze {triratna) , kannst Du
für diesmal dem Tod entgehen." Er tat demgemäß und glaubte
mit ganzem Herzen; und als der Töterdämon an seine Tür kam
und seine Meriten sah, konnte er ihm nichts anhaben und ver¬
schwand. Dieser Mann hatte eine Lebensspanne von hundert Jahren
und kam nach seinem Tod in den Himmel".
3.3. Bodhisattvas und Träume
In Korrespondenz zum Vorigen, dem Traum als Aufruf zur Umkehr,
kann Traum den Stand des Träumers auf seinem Weg zur Erleuchtung
anzeigen. Der Idealtyp ist der Bodhisattva, an dem dies exemplifiziert
wird. Einerseits zeichnet er sich dadurch aus, daß ihn auch die wilde¬
sten Träume, so er sie überhaupt haben sollte, nicht aus der Fassung
bringen können'^ Ist der Traum vorbei, hält er auch nicht daran fest
(was ja erst Grund für Sünde sein könnte)". Andererseits strebt er nach
Vervollkommnung bis in seine Träume hinein und bekommt in ihnen
auch Beweise, daß er nicht mehr zurückfallen wird. Zeichen dafür sind
— folgt man dem Mahäprajnäpäramitä-sütra —. im Traum erkennen, daß
alles Traum ist; von Buddhas Erleuchtung zu träumen; seine 32 Merk¬
male zu sehen; bei Alpträumen unerschrocken zu bleiben und nicht
darüber nach dem Traum zu grübeln; Traum und Wachen als nicht ver¬
schieden zu erkennen; bei Höllenträumen folgendes Bodhisattva-
Gelübde zu tun:
„Wenn ich bereits das Zeichen der Irreversibilität erlangt habe und
der höchsten Erleuchtung teilhaftig werden soll, dann will ich,
daß dieses große Feuer [Höllenfeuer] sofort erlischt und zu er¬
frischender Kühle wird." Wenn der Bodhisattva ein solches Gelübde
" T. 53.201b Zusammengetragen von Baochang u.a., Liang.
T. 6.703a s. Anm. 34. T. 7.283 a-c ibid.
'' T. 6.481a ibid.
25 ZDMG 142/2
getan hat und das Feuer im Traum sofort erhscht, weiß er, daß
er das Zeichen der Irreversibihtät erlangt hat.
Gleiches gilt im übrigen auch analog im Wachen. (Der Text gehört
ja zur Mä#?/amiÄ;a-Richtung).'" Bestimmte Traumbilder bzw. das Ein¬
treten dessen, was der Bodhisattva zum Wohle der Menschen gelobt,
beweisen seinen Status als Bodhisattva^^.
Er kann seinen genauen Rang aus seinen Träumen herleiten, und
dazu werden die schon zuvor erwähnten 108 Träume (s. 2.2.) entspre¬
chend den zehn Bodhisattvastufen zugeordnet'". Da er eben noch kein
Buddha ist, hat ein Bodhisattva Träume. Auf der siebten Stufe fällt er
zwar nicht mehr zurück, wirkt aber noch im Traum. Auf der achten
beginnt er zu erwachen, doch es bleibt noch ein Rest, nämlich die
Traumsphäre". Erst im letztgültigen Erwachen läßt er auch sie hinter
sich. (In diesen Zusammenhang gehören auch die fünf Bodhisattva-
träume, die bereits in 2.1. genannt wurden).'*
Aufgrund seiner Gelübde, zum Wohl der Wesen zu wirken, bedient
sich der Bodhisattva der verschiedensten Mittel, u. a. auch des Traumes,
um diese zu führen". Ist man krank, kann man Äkäsagarbha anrufen,
der einem im Traum die Mittel zur Heilung nennen wird'"". Ksitigarbha fuhrt den Gläubigen im Traum"", Amitäbha vergewissert ihn, ins Reine
Land zu kommen, und erscheint, wenn man sich nach ihm sehnt oder
T. 7.283b-l-c ibid.
Weitere Zeichen werden in T. 8.532 c Dasasahasrilcä-prajnäpäramitä-sü,tra,
übers.: Dharmapriya mit Zhu Fonian, frühere Qin, genannt.
" T. 11.81b-85c (Vinijsodhana nirdesa, übers.: Dharmaraksa, westl. Jin.
" T. 36.337 c s. Anm. 23.
" Eine andere Reihung der fünf Bodhisattvaträume fmdet sich in
T. 27.194b: 1) Ein König liegt aufder Erde, sein Haupt auf wunderbare hohe
Berge gestützt; mit der Rechten rührt er das westliche große Meer um, mit der Linken das östliche, mit den Füßen das südliche. 2) Glückbringendes Kraut, das aus dem Nabel wächst. 3) Insekten und Vögel mit weißen Körpern und schwar¬
zen Köpfen, die aufdie Füße des Bodhisattva bis zum Knie hinaufsteigen und
wieder herunterfallen. 4) Vierfarbige Vögel kommen aus allen Richtungen und
werden beim Bodhisattva einfarbig. 5) Auf einem Berg von Unrat umher¬
gehen, ohne beschmutzt zu werden, (s. Anm. 32).
" T. 9.407 b s. Anm. 10. Laut T. 10.218c ist dies eine von zehn Taten, die der
Bodhisattva leistet. (Buddtiävatamsaka mahävaipulya sütra. Übers.: Sik^ä-
nanda, Tang).
100 rp 13 65gb Akäsagarbha-bodhisattva-dfiärani-sütra. Übers.: unbekannt.
T. 13.788a Ksitigarbha-sütra. Übers.: Siksänanda, Tang. T. 13.823a
Pusa nianfo sanme.ijing. Übers.: in Liu-Song. T. 13. S68a, Dafang dengdajijing
pusa nianfo sanmeifen. Übers.: Dharmagupta, Sui.
Zum Begriff des Traumes und seiner Funktion 367
ihn durch Mantras beschwört"'^ Bodhisattvas erscheinen demnach
aus eigener Initiative, können aber auch herbeigerufen werden
(insbesondere nach esoterischer Auffassung) , ist ja ihr Ersclieinen letzt¬
lich nicht real"". (Als Mittel, Bodhisattvaersche\nur\gen im Traum
zu bekommen, werden sieben Tage Meditation'"'', Mantras'"^ und
Mudros'"'' sowie das Schlafen auf bestimmten Kräutern'"' empfohlen.
Im übrigen kann man damit auch testen, ob man die Mantras und
Mudras beherrscht).'"* Auch wenn der Bodhisattva im Traum droht, ist
dies nur zum Besten des Menschen, weil sein einziger Beweggrund das
Mitleid ist. Dazu gibt es eine kleine Geschichte im tor?^eitlichen
„t^uanfa putixinji" { WS ^ i} ^ ■ Sammlung zur Mahnung, das
Erleuchtungsherz zu entwickeln):
Es war einmal ein König namens Dighiti (Langes Leben), der mit
dem rechten Gesetz sein Land regierte. Er mißbrauchte das Volk
nicht, im Reich herrschte großer Friede, und das Land erlebte
Sicherheit und Ruhe. Der König des angrenzenden Reiches,
Meluluona ( ^ ^ Sü SP'' neidete ihm sein Land und griff ihn
mit Waffengewalt an. Er tötete den König Dighiti und blieb in
seinem Palast. Der Körüg Dighiti hatte nur einen Sohn, der gerade
aiüing zu sprechen, aber noch nichts begriff. Als des Königs Dighiti
Ende nahte, befahl er seinem Gefolge: „Wenn mein Sohn Mäna
(Jüngling) erwachsen ist, soll er keine Rache wegen des Landes
üben. Ist er wahrhaft mein Sohn, will ich, daß er keinen Haß
hegt und keine Rachegedanken aufkommen läßt. Der Haß muß
enden, sonst ist es wie mit der Umdrehung der Wagenräder: nie
gibt es ein Ende."
Der Sohn, um dessen Identität der Usurpator nicht weiß, geht bei ihm
unter dem Namen Wuzi ( ein und aus. Er ist außerordentlich klug.
'"^ T. 12.292a Amitäyusa-vyüha. Übers.: Lokaraksa(?), östl. Han.
T. 13.905a Pratyutpanna-buddhasammulchävasthita samädhi Übers.: Loka-
rak8a(?), östl. Han. T. lS.73h Mahävaipulya mahäsannipäta sütra. Znsa,mmen- gestellt von Sengjiu, Sui.
T. 10.91 Ib-l-c Dafang guangrulai busiyi jingjiejing. Übers.: Siksänanda, Tang.
T. 10.911c ibid.
'" T. 13.73 b s. Anm. 102.
106 rp ]g 264a Jingang fenglouge yiqie yujia yuqijing. Übers.: Vajrabodhi, Tang.
T. 39.627b Dapiluzkena chengfojing shu von Ybdng, Tang.
T. 18.773a-l-b / 775c s. Anm. 14.
25*
Eines Tages geht er mit dem König auf die Jagd und bewacht seinen Schlaf
Als der König fest eingeschlafen war und nichts mehr vemahm,
entstand Zom in Wuzis Innerem. Er zog das Schwert und wandte
sich dem König zu. „Heute ist die Gelegenheit, meinen Vater
zu rächen. Wie könnte man da verzeihen?" Aber er überlegte
weiter: „Mein Vater hinterließ in seiner Todesstunde die Mahnung
an mich, daß ich nur, wenn ich keine Rache übe, sein wahrer
Sohn sei. Wenn ich es dennoch tue, ist das gegen des Vaters
Wille, und ich wäre kein pietätvoller Sohn."
Er steckt das Schwert in die Scheide, und der König erwacht vor
Schreck, denn er hat all das im Traum gesehen. Die Geschichte endet
versöhnlich: Der Usurpator überläßt dem rechtmäßigen Erben seinen
Thron, denn dieser hat ihn durch den Traum belehrt über das von ihm
verübte Unrecht, die Schuld aber vergeben, denn ein Bodhisattva kennt
keine Rachegelüste mehr"".
3.4. Traum und Traumdeutung
Der Traumdeutung sind im Buddhismus relativ enge Grenzen
gesteckt, da die Haltung ihr gegenüber überwiegend negativ war. Man
wollte sich ja gerade abheben von solchen „volkstümlich-abergläubi¬
schen" Praktiken, mit denen sich „Scharlatane" (meist auf Brahmanen
bezogen) nur zu bereichern suchten. Immer wieder begegnet daher im
Kanon das Mißtrauen der Traumdeutung gegenüber, die man gem zu
den sogenannten „äußeren Wegen" (waidao ^\'^ ) rechnet"". Im
Extremfall wird sogar für einen sie praktizierenden Mönch die Relaisie-
mng gefordert, denn:
Wer dem folgt, was Mära sagt, gehört zu den Seinen; wer dem
folgt, was der Buddha sagt, der ist ein Bodhisattva' ''.
Die Distanz zur Traumdeutung insbesondere des frühen Buddhismus
hängt eben auch mit dem Problem der Seele zusammen, denn landläufig
galt ja das Phänomen des Traumes als Beweis für das Ätman, das zu
leugnen der Buddhismus aufgestanden war. Daher rührt wohl die ver¬
stärkte Bemühung der Buddhisten, die Ursachen und psychologischen
T. 45.3900-391 b von Huizhao, Tang.
z.B. T. 1.84c-85c Dirghägama sütra. Übers.: Buddhaya^as mit Zhu
Fonian, spätere Qin.
"' T. 12.644b Mahäparinirväna-sütra. Übers.: angefertigt im Huiyan-Tem- pel, Song.
Zum BegrifT des Traumes und seiner Funktion 369
Abläufe des Traumes zu untersuchen, um eben diesen Schluß zu negie¬
ren" l
Den Traum ganz negativ zu beurteilen, wollte man sich aber doch
nicht entscheiden, schließlich wird berichtet, daß vor Buddhas Geburt
seine Mutter träumte, ein goldener Himmelsknabe auf einem weißen
Elefanten dringe ihr in die Seite"'. Auch der Lieblingsjünger Ananda
soll sieben Träume gehabt haben, die voller schlimmer Bilder waren.
Buddha beruhigt ihn:
„Was Du träumtest, wird künftig in den fünf verdorbenen bösen
Generationen geschehen. Du wirst nicht zu Schaden kommen,
darum mache keine traurige Miene."""
Im Folgenden legt er ihm dar, welche Degeneration im Sangha kommen
wird.
Ahnlich ist es bei der bekanntesten und am häufigsten zitierten
Traumdeutung, die Buddha persönlich vorgenommen haben soll: den
zehn Träumen eines Königs"'.
Als der König Prasenajit des Nachts schlief, hatte er zehn Träume.
Welche zehn? 1) Er sah drei Vasen, die äußeren voll, die mittlere
leer. Die beiden Vasen waren voller Tränen, und sie tauschten
sich aus, ohne daß etwas in die mittlere kam. 2) Er sah, daß ein
Pferd mit Maul und Schwanz fraß. 3) Er sah, daß auf einem kleinen
Bäumchen Blüten wuchsen. 4) Er sah, daß das kleine Bäumchen
Früchte trug. 5) Er sah jemanden, der ein Seil abschnitt, und hinter
ihm der Besitzer des Schafes das Seil aß. 6) Er sah einen Fuchs"',
der auf einem schönen Bett saß und aus Goldgeschirr aß. 7) Er
In T. 28.791 c-792 a wird betont, daß dieser Schluß im mangelnden Ver¬
ständnis für die Verursachung begründet liege. {Zunpoxumi pusa suojilun.
Übers.: Sahghabhüti u.a., frühere Qin).
'" Mäyä ist ein ganzes Sütra gewidmet: T. nr. 383 (Mahämäyäsülra. Übers.:
Tanjing, nördl. Q i). Die betreffende Stelle findet sich in T. 12.1012 b. (Zur mögli¬
chen Deutung dieser Erscheinung als präbuddhistisches Sonnensymbol und
einer Verbindung zur Cakravarlin-WovsißWxmg vgf. Katada, op. cit. S. 69 -I- 72, mit einem Verweis auf Tokiwa Daijös Shakamuniden). Im übrigen soll Mäyä auch
von schlimmen Zeichen geträumt haben, als ihr Sohn ins Nirväna einging.
(T. 12.1012a).
"" T. 14.758a-l-b Anan qimengjing. Übers.: Dharmaraksa, östl. Jin.
"' Die Geschichte wird in T. 2.829b-830b (Ekoltarägama-sülra. Übers.:
Sanghadeva, östl. Jin) erwähnt und dann zu einem eigenen Sütra. Es gibt eine Reihe von Varianten, aber die wesentliche Aussage bleibt sich gleich.
' An manchen Stehen steht statt „Fuchs" „Barbar", also das gleichlautende C^) m\thu (^) ersetzt, z.B. inT. 2.812 a Foshuo shcweiguowaruj shimeru/jing.
Übers.: unbekannt.