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Internatio¬ nale Konferenz zur Geschichte der Naturwissenschaft in China&#34

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Zum 90. Geburtstag von Joseph Needham

Überlegungen zur Naturwissenschafts- und

Technikgeschichte Chinas

Von Hans Ulrich Vogel, Heidelberg

Vom 2. bis zum 7. August 1990 fand in Cambridge die „6. Internatio¬

nale Konferenz zur Geschichte der Naturwissenschaft in China" statt.

Die Abhaltung dieser Konferenz in Cambridge war nicht nur von Bedeu¬

tung für die Selbstdarstellung von inzwischen fest etablierten akademi¬

schen und wissenschaftlichen Fachrichtungen innerhalb der Sinologie,

sondern demonstrierte auch die engen Verbindungen zwischen diesen

Fachrichtungen und ihrem Begründer. Joseph Needham, geboren am

9. Dezember 1900, war bereits ein bekannter Biochemiker, als er sich

seit den vierziger Jahren aufgrund seiner Kontakte mit jungen chinesi¬

schen Gastwissenschaftlem, darunter besonders Lu Gwei-Djen, Bio¬

chemikerin, spätere Mitarbeiterin und jetzige Gemahlin Needhams,

sowie seiner Aufenthalte in China während des Zweiten Weltkrieges als

Leiter des „Sino-British Science Cooperation Office" zunehmend mit

der Geschichte der Naturwissenschaft und Technik in China zu beschäf¬

tigen begann. 1954 erschien der erste Band seines Hauptwerkes Science

and Civilisation in China. Seine institutionelle Verankerung fand dieses

Untemehmen 1968 in der East Asian History of Science Library, später

in dem 1983 gegründeten Needham Research Institute in Cambridge.

Im folgenden soll versucht werden, die Arbeiten Needhams kritisch zu

würdigen.

Terminologische und inhaltliche Klämngen

Eine deutsche Übersetzung des englischen Titels des NEEDHAMsehen

Hauptwerkes Science and Civilisation in China (SCC) gibt nicht wenige

Probleme auf So müßte der englische Begriff 'science' mit 'Naturwis¬

senschaft' wiedergegeben werden. Ein weiteres Problem ist, daß im

Englischen das Wort „civilisation" sowohl für den deutschen Begriff

'Zivilisation' als auch für denjenigen der 'Kultur' benutzt wird. Die

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übliche deutsche Übersetzung des Hauptwerkes Needhams mit „Wis¬

sensehaft und Zivilisation in China"' ist von daher problematisch, da

„Wissenschaft" im Deutschen im weitesten Sinne des Wortes sowohl

Naturwissenschaften als auch Geisteswissenschaften umfaßt, während

im Englischen mit „science" die Naturwissenschaften meist unter Ein¬

schluß der Formalwissenschaften und in Abgrenzung zu den Geistes¬

wissenschaften gemeint sind.

In inhaltlicher Hinsicht gedachte Needham sich jedoch nicht nur mit

der Geschichte der Naturwissenschaft in China auseinanderzusetzen,

denn in seinem Vorwort zum ersten Band von SCC spricht er wiederholt

von „Naturwissenschaft, naturwissenschaftlichem Denken und Tech¬

nologie" (science, scientific thought and technology) und von „natur¬

wissenschaftlichen und technischen Entdeckungen" oder von „techno¬

logischen Entdeckungen und Erfindungen" als Gegenständen seiner

Forschung. Tatsächlich handelt ein großer Teil von SCC von den

technischen Errungenschaften in der Geschichte Chinas.

Es sei hier daraufhingewiesen, daß im Unterschied zu Needham in

der modemen deutschen Technikhistorie die Worte „Technik" und

„Technologie" begrifflich unterschiedlich verwendet werden. So kann

„Technik" bedeuten: a) die Artefakte selbst, b) deren Herstellung durch

den Menschen und c) deren Verwendung im Rahmen zweckorientierten

Handelns. „Technologie" hingegen wird davon abgegrenzt entweder als

eine von vielen Technikwissenschaften aufgefaßt, deren Gegenstand die

mittels technischer Systeme an Arbeitsgegenständen innerhalb des

Produktionsprozesses durchgefiihrten Bearbeitungsvorgänge sind,

oder sie bezieht sich gmndsätzlich auf ein objektsprachliches Aussage¬

system, meint also soviel wie 'Wissenschaft von der Technik'.^ Diese

Unterscheidung deutet auf das Problem des Verhältnisses zwischen

Theorie und Praxis in der Technik sowie auf die Frage der Systematisie¬

mng und Generalisiemng technischer Erkenntnisse, d.h. der Verwis¬

senschaftlichung der Technik, hin.*

' Siehe z.B. Joseph Needham: Wissenschaft und Zivilisation in China.

Band I der von Colin Ronan bearbeiteten Ausgabe. Frankfiirt a.M. 1988.

^ Siehe Ulrich Troitzsch und Gabriele Wohlauf (Hrsg.): Technik-

Geschichte: historische Beiträge und neuere Ansätze. Frankfiirt a.M. 1980, S. 10- 14.

' Zu 'Wissenschaft' und 'Technik' siehe die entsprechenden Einträge in

JosEF Speck (Hrsg.): Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Göttingen 1980.

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142 Hans Ulrich Vogel

Needhams Annahmen, Fragestellungen und Methoden

Needham geht davon aus, daß bis zur naturwissenschaftlichen Revo¬

lution in der Spätrenaissanee der Westen durch chinesische und ost¬

asiatische Entdeckungen und Erfindungen in Naturwissenschaft und

Technologie nicht nur im technischen Bereich, sondem auch in den

gesellschaftlichen Stmkturen nachhaltig beeinflußt worden sei. Im

Unterschied zur modemen Naturwissenschaft seien die mittelalterli¬

chen Naturwissenschaften [verschiedener Zivilisationen] eng an die

ethnische Umgebung ihres Entstehungsortes gebunden gewesen, so

daß ein interkultureller Austausch sehr schwierig gewesen sei, ganz im

Gegensatz zu technologischen Elementen, die sich kreuz und quer in der

Alten Welt verbreitet hätten. Trotzdem habe ein bedeutender naturwis¬

senschaftlicher Austausch zwischen verschiedenen Zivilisationen exi¬

stiert, so daß damit Naturwissenschaft und Technologie der Alten Welt

als ein Ganzes gedacht werden müßten. Eine Aufgabe, die sich in die¬

sem Zusammenhang stelle, sei die Datiemng der naturwissenschaftli¬

chen und technischen Entdeckungen und Erfindungen in Ost und West,

um somit den jeweiligen Verdiensten und Beiträgen der einzelnen gro¬

ßen Zivilisationen gerecht zu werden. Ausgehend von dieser ökumeni¬

schen und universalistischen Siehtweise der naturwissenschafts- und

technikgeschichtliehen Entwicklung schließt sich fiir Needham die

Frage an, wamm die modeme Natunvissenschaft mit all ihren Implika¬

tionen fiir die fortgeschrittene Technologie ihren steilen Aufstieg nur im

Westen zur Zeit Galileis genommen habe. Ebenso wichtig ist fiir ihn die

Frage, wamm in dem Zeitraum zwischen dem 2. Jh. v.Chr. bis zum

16. Jh. n. Chr. die ostasiatische Kultur in der Anwendung menschlichen

Wissens auf die Natur zu nützlichen Zwecken erfolgreicher als der euro¬

päische Westen gewesen sei. Die Lösung dieser Fragen bedingt fiir

Needham, interzivilisatorische Vergleiche durchzuführen, die sich

allerdings nieht nur auf eine intemalistische, rein naturwissenschafts-

und technikgeschichtliche Interpretation erstrecken, sondem die auch

philosophische, sprachliche, religiöse und ideologische Faktoren und

vor allem soziale, wirtschaftliche und geographische Faktoren berück¬

sichtigen.''

Problematik des Needham'schen Ansatzes

Einerseits geht Needham davon aus, daß nicht alle Teile antiker und

mittelalterlicher chinesischer Naturwissenschaft zur Entwicklung der

* Siehe Joseph Needham: TÄe Grand Titration: Science and Society in East

and West. London ^1979, S. 11-16.

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modemen Naturwissenschaft beigetragen hätten und daß naturwissen¬

schafthche Erkenntnisse eng an die jeweils ethnische Umgebung gebun¬

den gewesen seien; andererseits resultiert seine ökumenische und uni¬

versalistische Auffassung der geschichtlichen Entwicklung zur moder¬

nen Naturwissenschaft hin in einer Betrachtungsweise, die sich eng an

die Einteilung moderner Naturwissenschaft und Technologie hält. Dies

läßt sich an der Unterteilung von SCC erkennen, welche sich an den

Bereichen modemer Naturwissensehaft und Technologie, wie Mathe¬

matik, Astronomie, Meteorologie, Geologie, Ingenieurwesen, Textil-

technologie, Bergbau, Metallurgie, Botanik, Zoologie, Medizin usw.

orientiert. Eine solche Unterteilung läßt sich zwar rechtfertigen, aller¬

dings nur unter der Voraussetzung, daß ihre beschränkte erkenntnis¬

theoretische Aussagekraft klar konstatiert wird. Es besteht die Gefahr,

daß ähnhch wie in der älteren europäischen Technikhistoriographie der

retrospektive Eindmek erweckt wird, daß die Geschichte der Natunvis¬

senschaft und Technik gradlinig und von Höhepunkt zu Höhepunkt in

Richtung modeme Naturwissenschaft, Technik und Technologie verlau¬

fen sei. Durch das Zugrundelegen moderner Naturwissenschaft als

Maßstab läßt sich Needham nicht nur vorwerfen, eine teleologische

Sichtweise zu vertreten, sondem auch innerhalb der vormodemen chi¬

nesisehen Naturwissenschaft diejenigen Strömungen und deren Reprä¬

sentanten besonders hervorgehoben zu haben, die als Vorläufer moder¬

ner Naturwissenschaft identifziert werden konnten. Solche Strömungen

jedoch, bei denen keine auf eine moderne universalistische Entwicklung

hinfiihrenden Elemente festgestellt werden konnten, seien von ihm

sogar als hinderlich für die Entwicklung modemer Naturwissenschaft

bezeichnet worden, ohne den emsthaften Versuch unternommen zu

haben, kulturspezifische integrale Denksysteme aus sich selbst zu in¬

terpretieren.^

An Needhams früheren Arbeiten wurde zudem bemängelt, daß sein

linguistisches Verständnis nicht von höchstem Standard sei. Dies

bezieht sich vor allem auf Needhams Übersetzungen vormodemer chi¬

nesischer Texte, in die modeme naturwissenschaftliche Tugenden und

Einsichten chinesischer Gelehrter dort hineininterpretiert wurden, wo

nach Needhams Auffassung vorherige Historiker aufgmnd mangeln¬

der Kenntnisse nicht in der Lage gewesen seien, diese naturwissen¬

schaftlichen Bedeutungen zu erkennen.

' Siehe Willard J. Peterson: „'Chinese Scientific Philosophy' and some

Chinese Attitudes towards Knowledge about the Realm of Heaven-and-Earth" . In:

Past and Present 87 (1980), S. 20-30.

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144 Hans Ulrich Vogel

Weitere Kritiken beziehen sich auf den enzyklopädischen Aufbau von

SCC. Needhams Hauptwerk vermittle ein zeitloses, sogar statisches

Geschichtsgefühl, ergebe nur ein unscharfes Bild über Geisteswelt und

soziale Interaktion im Umfeld von Naturwissenschaft und Technik und

differenziere nur ungenügend nach Zeit und Region. Wiederholt wurde

auf die Problematik kontrafaktischer Fragen Needhams aufmerksam

gemacht. SCC bestehe aus einer Mischung von größtenteils soliden

Erkenntnissen, plausiblen, aber nicht unbedingt unbestreitbaren In¬

terpretationen, persönlichen Spekulationen und manchmal Irrtümern. *

Verdienste Joseph Needhams

Gerechterweise sollte festgehalten werden, daß es im Lichte neuer

Entwieklungen in der Naturwissenschafts- und Technikhistorie einfach

ist, retrospektiv Kritik an den NEEDHAMSchen Ansätzen zu üben, die

seinerzeit durchaus auf der Höhe der Zeit waren. Bei Needhams

Lebenswerk handelt es sich um ein gigantisches Untemehmen teilweise

synthetischen Charakters, mit welchem wissenschaftlich, akademisch

und institutionell Neuland betreten wurde. Diese Unternehmung wurde

möglich durch eine Persönlichkeit, die sich durch heroische intelek-

tuelle Großzügigkeit, Breite des Wissens, titanische Energie und

Enthusiasmus," Menschlichkeit, humanistische Gesinnung und Kritik¬

fähigkeit auszeichnet. Während des Kongresses in Cambridge äußerte

Needham, niemals glücklicher gewesen zu sein als während seiner

[mehr als vierzigjährigen] Arbeit flir SCC. Sein Lebenswerk hat zu

einem exponentiellen Wachstum der Forschungstätigkeit auf dem

Gebiet der chinesischen Naturwissenschafts- und Technikgeschichte

geführt. So nahmen am Kongreß in Cambridge an die 160 Teilnehmer

aus allen Kontinenten teil, wobei über 100 Vorträge gehalten wurden.

Dieses Wachstum hat auch dazu geführt, daß Needham nicht mehr in

der Lage ist, all die neu entdeckten Quellen und die anwachsende For¬

schungsliteratur allein zu bewältigen. Heute sind an der Fertigstellung von SCC über zwanzig Mitarbeiter beteiligt, von denen viele — sicherlich

ganz im Sinne Needhams — neue Ansätze erproben. Diese Entwicklung

° Mark Elvin: „Symposium: The Work oJ Joseph Needham. In: Past and Pre¬

sents! (1980) S. 17-25;Nathan Sivin: „Chinesische Wissenschaft:Ein Vergleich der Ansätze von Max Weber und Joseph Needham", in W. Schluchter (Hrsg.):

Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus: Interpretation und Kritik.

Frankfurt a.M. 1983, S. 350.

' Elvin, S. 18.

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gleicht durchaus der Auffassung Needhams von der Geschichte der

Naturwissenschaft als eines ökumenischen und kumulativen Prozesses.

Trotz seiner Kritik an Needhams Schließen von chinesischer Überle¬

genheit im technischen Bereich auf eine solche in der „Naturwissen¬

schaft auf hohem Niveau" (high-level science) , seiner zu hohen Gewich¬

tung der Rolle der „merkantilen Bourgeoisie" und des „Handelskapita¬

lismus" für die Entwicklung der modemen Naturwissenschaft sowie sei¬

ner Nichtberücksichtigung der europäischen „Renaissance des zwölften

Jahrhunderts", der außergewöhnlichen gesellschaftlichen und politi¬

schen Differenziemng der westlichen Welt, des religiösen und ethischen

Universalismus des christlichen Denkens und der Bedeutung der christ¬

lichen Religion für den naturwissenschaftlichen Fortschritt, sprach der

1977 verstorbene amerikanische Soziologe und Historiker Benjamin

Nelson von zwei Herausfordemngen Needhams an die WEBERSche

Tradition einer humanwissenschaftlichen Soziologie. Die erste seiner

Herausfordemngen bestehe in seiner üntersuchung geschichtlicher

Prozesse, vor deren Untersuchung Weber, der sich hauptsächlich für

eine differentielle Typologie und die Etabliemng von Idealtypen inter¬

essierte, sich gescheut habe. Die zweite Herausfordemng handele von

interzivilisatorischen Begegnungen, welche die Aufmerksamkeit auf

den unausweichlichen Zug zum Universalen und zur Überwindung alles

lokal Partikulären lenke. Weber hingegen habe jede Zivilisation als

diskrete Einheit behandelt, obwohl er sich sicherlich der Durchlässig¬

keit und Veränderlichkeit der Grenzen bewoißt gewesen sei. Für Need¬

ham hingegen gebe es fast keine Entwicklung, die nicht mit Grenzüber¬

schreitungen zu tun gehabt habe. Needham habe auch zum Weber-

schen Untemehmen insofem beigetragen, als er die Bedeutung der

Naturwissenschaft für das Schicksal des Orients und Okzidents erkannt

und auf die Bedeutung der Religion und anderer kultureller Faktoren

flir die Entwicklung der Naturwissenschaft aufmerksam gemacht habe.

Er liefere somit Bausteine für eine vergleichende historische differen¬

tielle Soziologie zivilisatorischer Komplexe und interzivilisatorischer Begegnungen.*

Neuere Ansätze zur Naturwissenschafts- und Technikgeschichte Chinas

Die Probleme, die sich mit den NEEDHAMschen Annahmen, Frage¬

stellungen und Methoden ergaben, führten zu neuen Ansätzen, die sich

^ Benjamin Nelson: Der Ursprung der Modeme: Vergleiehende Studien zum

Zivilisationsprozeß. Frankfurt a.M. 1986, S. 13-14, 51-52, 66-69. Siehe auch Sivin: „Chinesisefie Wissenschaft" , S. 342-362.

10 ZDMG 142/1

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146 Hans Ulrich Vogel

an der modemen europäischen Naturwissenschafts- und Technikhisto¬

rie orientierten. Es war vor allem Nathan Sivin von der University of

Pennsylvania, Verfasser zahlreicher Arbeiten über die Geschichte der

chinesischen Alchemie, mathematischen Astronomie und Medizin und

Mitarbeiter von Needham im SCC-Projekt, der diese neuen Ansätze

formulierte. Sivin geht davon aus, daß sich die Definition des Wortes

„Naturwissenschaft" (science) begrifflich zwischen zwei Extremen

bewegt: a) „Naturwissenschaft" wird in der Bedeutung von 'heutiger

modemer Naturwissenschaft' gebraucht. Von diesem Standpunkt aus

sind folglich alle früheren Systematisierangen und Abstrahiemngen nur

Proto-Naturwissenschaft oder falsche Naturwissenschaft, weil sie sich

im Lichte der jetzt gültigen Naturwissenschaft als veraltet oder falsch

herausgestellt haben, b) Als Naturwissenschaft gelten all diejenigen

gedanklichen Anstrengungen, mittels derer in der Vergangenheit ver¬

sucht wurde, in integraler Weise Phänomene der Natur abstrakt urid

systematisch zu erfassen. Sivin tritt eindeutig für die letztgenannte

historische Betrachtungsweise ein und erweitert sie durch ein zivilisa¬

tionsspezifisches Moment: Da davon auszugehen sei, daß Erkenntnis¬

ziele und -mittel vormodemer Naturwissenschaften sich von Zivilisa¬

tion zu Zivilisation unterschieden und in einem Verhältnis wechselseiti¬

ger Beeinflussungen mit politischen, philosophischen, religiösen, wirt¬

schaftlichen und sozialen Zuständen und Entwicklungen gestanden hät¬

ten, sei es irreführend, sich nur auf diejenigen Ermngenschaften vor¬

moderner Naturwissenschaften zu konzentrieren, die den Eindmek

einer kumulativen, zielgerichteten Entwicklung auf eine moderne

Naturwissenschaft hin zu repräsentieren scheinen. Im Gegensatz zu

Needhams Einteilung vormodemer chinesiseher Naturwissenschaft in

SCC schlägt Sivin, basierend auf seiner historischen, kulturspezifischen Betrachtungsweise, eine Einteilung vor, die sich begrifflich in den chine¬

sischen Quellen nachweisen läßt, wobei er eine (allerdings in den Quel¬

len nicht vorhandene) Zweiteilung in quantitative und qualitative

Naturwissenschaften vomimmt:

Quantitative Naturwissenschaften:

— Mathematik (suan, später shuxue)

— mathematische Harmonielehre (lü oder lülü)

— mathematische Astronomie (li oder Ufa)

Qualitative Naturwissenschaften:

— Astrologie (tianwen)

— Medizin (yi)

— Materia medica (bencao)

(8)

— Alchemie (waidan, fulian)

— Geomantie (dili, kanyu, fengshui)

— physikalische Studien (umli, umlei, xianglei, geiouuaw.)

Sivin betont zudem, daß kein dem lateinischen 'scientia' entspre¬

chender übergeordneter chinesischer Begriff existiert habe, so daß im

chinesischen Falle von „(Natur)Wissenschaften" (sciences), d. h. im Plu¬

ral, gesprochen werden müsse. Zudem sei in China 'Wissen' eine gei¬

stige Aktivität gewesen, in welcher die rationalen Operationen des In¬

tellekts nicht scharf von dem getrennt gewesen seien, was wir als Intui¬

tion, Imagination, Illumination, Ekstase, ästhetische Wahmehmung,

ethische Verpflichtung oder sinnesmäßige Wahmehmung bezeichnen

vriirden. Die Naturvrissenschaften im vormodemen Ghina hätten sich

voneinander weitaus unabhängiger als in Europa entwickelt und schei¬

nen im Vergleich zu Europa auch weniger stark durch zeitgenössische

Philosophien umschrieben noch durch zeitgenössische theologische

Konzepte dominiert worden zu sein. Die typische Auffassung, die für

die Nützlichkeit dieser Naturwissenschaften gegolten habe, sei die

gewesen, daß naturwissenschaftliche Erklämngen beschränkte Aus¬

kunft über gewisse Aspekte von Beziehungsmustem für finite und prak¬

tische Zwecke geben könnten, daß jedoch diese Beziehungsmuster zu

subtil und zu vielfältig wären, als daß sie vollständig empirischer Unter¬

suchung oder mathematischer Analyse zugänglich wären.'

Zu den Einteilungen und Auffassungen Sivins seien hier einige Be¬

obachtungen geäußert. Aus Gesprächen und Vorträgen während der

„6. Intemationalen Konferenz zur Geschichte der Naturwissenschaft in

China" ergab sich, daß zumindest unter einigen vormodernen chinesi¬

schen Naturwissenschaften zwar nicht explizite, aber zumindest doch

implizite hierarchische Beziehungen existierten. So wurde etwa von

Jiang Xiaoyitan vom Shanghaier Observatorium der Academia Sinica

geäußert, daß die mathematische Astronomie flifa) größtenteils der

Astrologie (tianwen) dienstbar gemacht worden sei.Astrologie wieder-

° Ibid.; Nathan Sivin in Shigeru Nakayama und N. Sivin (Hrsg.):

Chinese Science: Explorations of an Ancient Tradition. Cambridge & London

1973, S. xiii-xxvii (siehe in diesem Band auch weitere Besprechungen von

Needhams Arbeiten); Nathan Sivin: „Science and Medicine in Imperial China

- The State of the Field". In: Journal of Asian Studies, 47.1 (February 1988), S. 41-90; idem, „Shen Kua: Preliminary Assessment ofhis Scientific Thoughtand Achievements". In: Sung Studies Newsletter 13 (1977), S. 47-48.

Jiang Xiaoyuan: „Political Astronomy in Chiim". Paper presented to the 6th Intemational Conference on the History of Science in China. Cambridge, UK, 2-7 August, 1990.

10*

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148 Hans Ulrich Vogel

um diente fast ausschließlich politischen Zwecken, was verdeutlicht,

daß eine Beschränkung auf den Bereich der Naturwissensehaften nur

einen Ausschnitt einer vielfaltigen Vernetzung wiedergibt. Interessant

ist in diesem Zusammenhang auch die Äußerung des Mathematik- und

Philosophiehistorikers Ulrich Libbrecht (Leuven), daß ein großer

Teil der Mathematik in China technischen Bereichen wie Architektur,

Wasserbau und Militärwesen gedient habe und daß sich daher die Frage

stelle, ob Mathematik in China nicht eher eine Technologie [als eine

Wissenschaft] gewesen sei. " Daraus ergibt sich die Folgerung, daß eine

stärkere Berücksichtigung der Beziehungen zwischen den von Sivin

identifizierten Naturwissenschaften einerseits und der Technik, dem

politischen Bereich sowie den „Geisteswissenschaften" (als Bestandteil

der Wissenschaften im deutschen Sinne des Wortes) andererseits ein

zutreffenderes und vollständigeres Bild der zivilisationsspezifisehen

Einbettung vormodemer chinesischer Naturwissenschaften ergäbe. In

diese Richtung zielt wohl auch die Äußemng Ho Peng Yokes, Direktor

des Needham Resarch Institute, daß, während [im Westen] die Mathe¬

matik als „Königin der Naturwissenschaften" gegolten habe, in China

shu, eine Kombination von Mathematik, Numerologie und Kunst der

Zukunftsdeutung, als „Königin der traditionellen chinesischen Kultur"

bezeichnet werden könne.

" Ulrich Libbrecht: „The Social Position of a Mathematician in China".

Paper presented to the 6th International Conference on the History of Science in China.

Siehe Needham Research Institute Newsletter 8 (June 1990), [S. 2].

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in Szechwan (China)

By Florian C. Reiter, Würzburg

Travelling from the capital of Szechwan province, Ch'eng-tu, to

Kuang-yüan in the north-east ofthis province, the road winds halfway

through hilly land. Suddenly the red walls of fairly extended temples

appear, stretching upwards on the slope of Mt. Ch'i-ch'ü. On both sides

ofthe road pavilions and towers rise amidst beautiful old trees. On the

right hand side we see the "Great Temple" (Ta-miao) which is devoted

to Wen-ch'ang ti-chün. Some other divinities ofthe Chinese pantheon,

e. g. Kuan-ti, also have temples within this compound'. On the left hand

side we see two pavilions alongside a small path with many steps lead¬

ing upwards to the top of a hill. The first small pavilion houses a huge,

flat and more or less round stone which is called P'an-t 'o shih^. Standing

in front of this pavilion and tuming towards the slope of the hill we

notice that on the right hand side a stone enclosure protects an old and

seemingly dead tree, which heavily bends to the downhill side. The tree

has neither skin nor leaves and looks very old indeed. Probably we

would not take any notice of it, if there were not the well-designed enclo¬

sure. It is a monument of good masonry. Visitors had offered incense,

which the remains of incense sticks prove. Stuck in the cracks and cor¬

ners of the enclosure they signal that there is mueh more to be said

than an old tree and its enclosure would suggest at first sight.

Many beautifully adomed roofs, thick red walls and wooden constmc¬

tions, like the two towering upper storeys of the Chung-hsiao Gate ofthe

"Great Temple" just across the road (Ta-miao), combine to make a

strong impression on the visitor. They display a flair of antiquity and

particularly ofa once intense religious life. Today some pilgrims, visi¬

tors and local people of any age still offer prayers, incense, and bum

' See Ssu-ch 'uan feng-wu chih, (Ch 'i-ch 'ii shan ta-miao), in : Chung-kuo feng-wu chih ts'ung-shu. Ch'eng-tu: Ssu-ch'uan jen-min Comp. 1985, 181-183.

^ For this stone and all the other facilities which are being mentioned in this article, see above note 1 and especially the map of the Mt. Ch'i-ch'ii area in Tzu- t'ung hsien-chih. Taipei: Ch'eng-wen rpr. 1976, 1, 47.

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