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Sehnsucht nach Leben in Fülle

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Academic year: 2022

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Sehnsucht nach Leben in Fülle

Astrid Elsener

Theologische Fakultät Luzern

Predigt zum 4. Sonntag der Osterzeit, 3. Mai 2020, für die Jesuitenkirche Luzern

Evangelium: Johannes 10,1-10

1 Amen, amen, ich sage euch: Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. 2Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe. 3 Ihm öffnet der Türhüter und die Schafe hören auf seine Stimme;

er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus. 4 Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus und die Schafe folgen ihm;

denn sie kennen seine Stimme. 5 Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern sie werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen. 6Dieses Gleichnis erzählte ihnen Jesus; aber sie verstanden nicht den Sinn dessen, was er ihnen gesagt hatte.

7 Weiter sagte Jesus zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen.

8 Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. 9 Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. 10 Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.

Predigt

Liebe Brüder und Schwestern

Zum Gleichnis aus dem heutigen Evangelium sind mir Worte aus einem Gedicht der jüdischen Schriftstellerin Nelly Sachs in den Sinn gekommen. Es beginnt mit folgenden Worten:

Alles beginnt mit der Sehnsucht,

Nelly Sachs schrieb in der Nachkriegszeit des letzten Jahrhunderts viele lyrische Texte. Darin verarbeitete sie das Grauen des Holocaust mit einer

hochemotionalen, zarten Sprache. Dichtung war für sie wie «ein über den Abgrund der Vergangenheit gespanntes Rettungsseil aus nichts als Worten.»

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Dementsprechend berühren ihre Worte und regen zum Nachdenken an. So auch ihre Gedanken zur Sehnsucht.

Alles beginnt mit der Sehnsucht, schreibt sie und im Evangelium hörten wir Jesu Worte:

Ich bin die Tür, wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden, er wird Weide finden und wird Leben haben in Fülle.

Das sagt Jesus im Evangelium zu den Menschen, die um ihn herumstehen. Er spricht in seiner Rätselrede von Schafen und Hirten und von Fremden und Dieben. Er erzählt von einer Tür, die zum Leben in Fülle führen soll. Er erklärt, dass er diese Türe ist. Die Zuhörenden, Menschen wie du und ich, verstehen nicht, was er ihnen sagen will. Beim Wort Fülle, werden sie dennoch besonders aufgehorcht haben.

Die Sehnsucht nach einem erfüllten, reichhaltigen Leben, scheint Gott uns Menschen ins Herz eingepflanzt zu haben. Es ist eine nicht genau bestimmbare Sehnsucht. Vielleich hat sie mit dem Gefühl zu tun, noch nicht ganz, vollständig zu sein.

Bereits Adam und Eva liessen sich verlocken von der Sehnsucht nach einem reicheren Leben. Sie wollten den Garten, in dem sie lebten, ganz auskosten. Der Baum in der Mitte des Gartens war unwiderstehlich. Sie assen von den Früchten, die tabu waren für sie. Sie wollten erkennen wie Gott. Die Erbauer des Turmes von Babel wollten höher hinaus als alle anderen. Sie wollten bis in den Himmel hinaufbauen. Bis dorthin, wo Gott ist. Die Sehnsucht nach einem Darüber-hinaus im Leben zieht sich bis heute durch die Geschichte der Menschheit. Gerade in unserer westlichen Welt wird der Drang nach weiter, höher, mehr, deutlich sichtbar – auch mit seinen negativen Folgen, wie im Klimawandel, in der

ungerechten Verteilung der Güter auf der Welt, im verschwenderischen Umgang mit Ressourcen.

Auch für unser ganz persönliches Leben ersehnen wir Menschen Fülle im Leben.

In Buchhandlungen sind ganze Regale voll von Büchern zu diesen Themen. Die Titel sind verführerisch wie der Apfel im Garten Eden. Sie haben einige der Titel sicher schon gehört: 7 Schritte zum Glück; Das passende Leben; Der entspannte Weg zum Reichtum und so weiter. Die meisten bieten Methoden an, wie man zu der eigenen Lebensfülle kommen kann. Man muss nur selbst gut daran arbeiten, dann kommt der erwünschte Reichtum, die Liebe des Lebens, das Glücklich-Sein schon. Wenn es nicht funktioniert, hat man halt etwas falsch gemacht.

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Noch einmal möchte ich anfragen: Wie sieht das Leben in Fülle für sie aus? Wie fühlt es sich an? Welche Qualität hat ihr Leben in Fülle? – Ist Fülle, Liebe, Glück machbar?

Nelly Sachs fährt in ihrem Gedicht mit folgenden Worten weiter.

immer ist im Herzen Raum für mehr, für Schöneres, für Größeres.

Vielleicht sind in Ihnen vorhin Erinnerungen an Momente hochgestiegen, in denen etwas von einer ganz anderen Fülle durchgeblitzt ist. Momente, in denen sie sich so ganz lebendig und erfüllt fühlten. Vielleicht fühlten Sie die

Schmetterlinge im Bauch beim ersten Verliebt sein? Das Gefühl von Weite auf einem Berggipfel? Oder Sie erinnerten sich an das ausgelassene Lachen zusammen mit Freundinnen und Freunden? An das stille Staunen, wenn im Frühling die Natur wiedererwacht? Oder an etwas ganz anderes? – Diese kurzen Momente haben eine ganz besondere Qualität, nicht wahr? Es ist als würde ein bisschen Ewigkeit durchblitzen. Eine Ahnung wird lebendig, dass es mehr als alles geben muss, wie Dorothee Sölle es formulierte. Leider haben diese Momente auch etwas von einem bunten Schmetterling, der davonfliegt, wenn man ihn einfangen möchte. Der Schmetterling ist weg, die Erinnerung an ihn bleibt. Sie lässt die Sehnsucht wachsen.

Mit den Worten von Nelly Sachs gesagt:

Das ist des Menschen Größe und Not:

Sehnsucht nach Stille, nach Freundschaft und Liebe.

Und wo Sehnsucht sich erfüllt, dort bricht sie noch stärker auf.

Könnte unsere Sehnsucht nach Fülle die liebende Sehnsucht Gottes nach uns sein? Könnte es sein, dass unsere hilflose und überbordende Suche nach ihm uns so antreibt? Immer wieder, weiter, höher, mehr? Das volle Leben? Manchmal verwirrt durch irreführende Stimmen, die uns dieses Weiter, Höher, Mehr als die Lebensfülle anpreisen? Liegt in unserer Sehnsucht vielleicht der Ruf nach

unserem Namen?

Nelly Sachs fragt:

Fing nicht auch Deine Menschwerdung, Gott,

mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?

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Gott ist in Jesus Mensch geworden – das feiern wir jedes Jahr an Weihnachten. Er ist Mensch geworden, weil er Sehnsucht nach uns Menschen hat. Er ruft uns bei unserem Namen. Er bietet uns Geborgenheit und Nahrung an. All das bietet er uns an, ohne Wenn und Aber. Ganz offen und ehrlich tritt er uns gegenüber. Er verstellt sich nicht. Er kommt durch den Haupteingang. Er ist diese liebende Sehnsucht, die will, dass wir Leben haben, in reicher Fülle.

Durch den Glauben, dass Gott in Jesus Mensch geworden ist, wird Jesus für uns die Tür, durch die wir Gott und seine Liebe zu uns erfahren können. Wie Gott das für uns meint, können wir in den Evangelien auf vielfältige Weise hören. Auch im Johannes Evangelium wird anhand der Taten Jesu erzählt, wie Gott sich unsere Rettung vorstellt. Wie Gott sich ein Leben in Fülle vorstellt. Auf der Hochzeit von Kana verwandelt Jesus Wasser in guten Wein – Leben in Fülle! Der Junge des Beamten von Kafarnaum lebt – Leben in Fülle! Der Gelähmte am Teich von Bethesda erfährt Heilung – Leben in Fülle! Aus fünf Gerstenbroten und zwei Fischen wird genügend Nahrung viele Menschen – Leben in Fülle! Der Blindgeborene sieht und erkennt in Jesus den Sohn Gottes – Leben in Fülle!

Mit folgenden Worten beendet Nelly Sachs ihr Gedicht:

So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen,

Dich zu suchen, und lass sie damit enden,

Dich gefunden zu haben.

So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen, Dich zu suchen, und lass sie damit enden, Dich gefunden zu haben…

Liebe Sucher und Sucherinnen nach Lebensfülle

Alles beginnt und endet mit dieser Sehnsucht. In der Sehnsucht von uns

Menschen nach Fülle, nach Gott, scheint die grosse Sehnsucht Gottes nach uns Menschen zu liegen. Dorothee Sölle sagte einmal: «Wir beginnen den Weg zum Glück nicht als Suchende, sondern als schon Gefundene.» Man könnte auch sagen: «Wir beginnen den Weg zum Leben in Fülle nicht als Suchende, sondern schon als Gefundene.» Aus dieser Gewissheit heraus zu leben, kann uns

Gelassenheit geben. Wir müssen und können nicht alles selber machen. Wir dürfen uns leiten und begleiten lassen auf unserem Weg durch das Leben.

Und doch kann Lebensfülle bereits hier und jetzt wachsen. Sie ist uns als Geschenk und Aufgabe gegeben. Sie kann wachsen und gedeihen durch unsere Mitarbeit. Wir können zwar nicht Wasser in Wein verwandeln, aber wir können uns für sauberes Wasser für alle einsetzen. Wir können uns für Zugang zu

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medizinischer Versorgung für alle engagieren. Wir können für gerechte Arbeitsbedingungen für alle kämpfen. Es gibt vieles, was wir tun können.

Das Leben in seiner ganzen Fülle und endgültigen Entfaltung, das gibt es noch nicht. Noch nicht ganz, noch längst nicht für alle. Das Leben in Fülle bleibt momentan vorallem eine grosse Sehnsucht. Es ist eine Sehnsucht, die mit der Auferstehung von Jesus Christus von den Toten für uns Christen immer wieder neu eine Perspektive erhält – auch über dieses Leben hier auf Erden hinaus.

Uns bleibt als Aufgabe, diese Sehnsucht nach dem Leben in Fülle wachzuhalten und zu nähren. Dann kann das grosse göttliche Versprechen durch dich und mich manchmal schon aufblitzen. Hier und jetzt – mitten im alltäglichen Leben.

Diese Erfahrung wünsche ich uns allen und diese nicht nachlassende Sehnsucht.

Hören wir zum Abschluss das ganze Gedicht von Nelly Sachs:

Alles beginnt mit der Sehnsucht Alles beginnt mit der Sehnsucht, immer ist im Herzen Raum für mehr,

für Schöneres, für Größeres.

Das ist des Menschen Größe und Not:

Sehnsucht nach Stille, nach Freundschaft und Liebe.

Und wo Sehnsucht sich erfüllt, dort bricht sie noch stärke auf.

Fing nicht auch Deine Menschwerdung, Gott,

mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?

So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen,

Dich zu suchen, und lass sie damit enden,

Dich gefunden zu haben.

Nelly Sachs 1891 - 1970

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