Leseprobe
Linde Knoch
Neues Praxisbuch Märchen
Mit Audio-CD
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Seiten: 191
Erscheinungstermin: 25. März 2013
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Märchen – die geheimnisvollen und doch so wahren Wegweiser des Lebens
Linde Knoch gilt bundesweit als die Märchenerzählerin und blickt auf eine 27-jährige Erzählpraxis zurück. Ihr »Praxisbuch Märchen« hat sich als Grundlagenwerk zum Thema etabliert.
Ihr »Neues Praxisbuch Märchen« ergänzt den ersten Band um rund 50 neue Märchen in eigener Erzählfassung. Der Schwerpunkt des Buches liegt auf Bildworten, die die Autorin als klassischen Zugang zu Märchen
überhaupt versteht. In einer umfassenden Einleitung erläutert Linde Knoch die Grundlagen zum Verständnis von Märchen, ihrer Deutung und Umsetzung. Erfolgreich einsetzbar auch im Krankenhaus, Seniorenheim und Hospiz.
Autor
Linde Knoch
Linde Knoch, geb. 1940, Bibliothekarin, pädagogisch geschulte und ausgebildete Märchenerzählerin, 1995 bis 2001 Vizepräsidentin der Europäischen
Märchengesellschaft e. V. in Rheine/Westfalen, rege
Seminar- und Vortragstätigkeit, Autorin zahlreicher
Bücher zum Thema, lebt mit ihrer Familie auf der
Insel Sylt.
Märchen
NEUES
PRAXISBUCH
Gütersloher Verlagshaus
Linde Knoch
4 Inhalt 5
Teil 1
Vom Schlausein und wahrer Klugheit
Der süße Brei Stompe Pilt
Der alte Großvater und der Enkel
Von Mitleid und Hilfe
Die Sterntaler
Vom Mannl Spanneland Vom Schnee
Die Wichtelmänner
Von Gehorsam und Ungehorsam
Der Wolf und die sieben jungen Geißlein Die Hexe im Wald
Die Heckentür
Das Ei des armen Mannes
Vom Leben, wie es ist
Die Mäuse und der Kater
Manchmal schlagen Worte Wurzeln Kleine Geschichte von den Füßen Der Schweigetrank
24 26 30
33 36 41 43
47 53 57 60
63 66 68 70 24
33
47
63
6 Inhalt 7
Teil 2
Vom Mut, der gut tut
Die Königstochter Die drei Federn Der Froschkönig Die Rätselprinzessin
Vom Übermut, der selten gut tut
Der Märchen erzählende Kater Kännchen voll
Der aufgeblasene Hahn
Vom Verwünschtsein und Erlöstwerden
Der Dummling und die Schlange Der Igel
Das Waldhaus
Von unglücklichen Kindern, die ihr Glück machen
Die Kristallkugel Frau Holle
Von helfenden Tieren
Die weiße Schlange Chawroschetschka
74 80 87 94
98 103 107
110 118 124
132 138
144 151 74
98
110
132
144
6 Inhalt 7
Von Ereignissen, die uns etwas von der Welt erklären
Die Scholle Mani
Der Polarstern
Die Schwalbe und die Schlange
Von Ereignissen wie in der Bibel
Der Himmel, der Mond und das Meer Sie haben das Sonnenlicht gesehen Der Bambus
Von Tod und Leben, Trauer und Trost
Das Totenhemdchen
Die alte Frau, die das Land der Toten besuchte Morgen ist morgen
Nachwort Anmerkungen Literatur
Quellennachweis 155
157 160 165
167 169 172
175 177 182 155
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190
8 Einführung 9 motherapie ihre Haare verloren hatte. Als ich sie daran erinnerte, sagte sie:
»Ach ja, deshalb!« Und dann erzählte sie, dass ihre Mutter ihr als Kind die langen Haare, auf die sie so stolz war, abgeschnitten hatte.
Ein Kind will voller Überzeugung seine Schwester »verbrennen«, und eine erwachsene Frau gerät außer sich, wenn sie an vergangenes Unrecht und an eine überwundene Krankheit erinnert wird, ausgelöst durch das Wort »Haar« in einem Märchen. Was ist da geschehen? Märchen können auf seelisch-geistiger Ebene starke Gefühle freisetzen, und zwar durch das Wiederbeleben persönlicher Erfahrungen oder durch archetypische, kollektive, unbewusst gespeicherte »Erinnerungen«. Zu den kollekti- ven Erinnerungen gehört das Wissen, dass die »Hexe« (die peinigende Schwester) »verbrannt« werden muss, damit das Kind »nach Hause«, d. h. zu sich selbst finden kann. Das Verbrennen steht im Märchen für eine Verwandlung: Das Böse wird zu Asche. Zu den persönlichen Erfah- rungen gehört Inas Verlust der Haare im Kindes- und Erwachsenenalter.
»Haar« wird als mit Kraft aufgeladen erlebt, wie wir schon aus der Ge- schichte von Simson3 in der Bibel wissen. Früher durften die »Freien«
lange Haare tragen, den Sklaven wurden sie geschoren.
In den Volksmärchen wird nicht etwas beliebig in der Fantasie Erdach- tes erzählt. Es verdichten sich darin die Erfahrungen der Menschheit in Bildern, die durch Symbole deutbar werden. Wir können sie auch Sinnbilder nennen, die unbewusst wirken, die wir uns aber vergegen- wärtigen können. Und warum sollten wir das tun? Offenbar wollen viele Erwachsene es, weil ihnen durch die Bewusstmachung von Sinnbildern die Märchen und sie selbst sich verständlicher werden, und der Sinn des Lebens dahinter zum Vorschein kommt. Kinder fragen nicht nach dem Sinn der Märchen, sie »verstehen« sie ohnehin besser als wir. Ein wichtiger Schlüssel zum Märchenverständnis für Erwachsene sind die Bildworte.
10 Einführung 11
Bildworte – ein Widerspruch in sich?
Ein Bild ist zuerst einmal ein konkretes Ding, sichtbar, greifbar, dauerhaft, wir können es immer wieder ansehen. Ein Wort besteht aus Lauten, ist unsichtbar, abstrakt und mit dem Aussprechen vergangen. Aber beides, Bild und Wort, können in uns weiterleben, als inneres Bild und als Gedan- ke oder in der Empfindung. Das Sichtbare wird unsichtbar geschaut, das Hörbare wird stumm gehört. Und mehr: Wir vermögen Unsichtbares im In- neren mit allen Sinnen zu erleben, wir sehen, hören, schmecken, riechen, fühlen, ausgelöst durch ein Wort, das bildhaft ist.
Wenn ich sage »ich bin im Bilde« meine ich, Bescheid zu wissen, begriffen zu haben, Kenntnis zu haben. »Im Bilde sein« bedeutet eigentlich mehr als »wissen.« Das Wissen habe ich von einer Sache oder einem Zusammen- hang; ich betrachte etwas von außen. Bin ich im Bilde, stehe ich erlebend in einer Erfahrung, an der ich gefühlsmäßig und mit meinen Sinnen be- teiligt bin.
Diese innere Beteiligung erleben Kinder beim Märchenhören viel stärker als Erwachsene, bei denen wiederum das »Bilderbewusstsein« und das Verste- hen symbolischer Sprache weitgehend verlorengehen oder vom logischen Denken überdeckt werden kann. Erwachsene denken vorwiegend in abstrak- ten Begriffen und Prozessen, Kinder hingegen erleben die Welt weitgehend bildhaft, lernen aber das diskursive Denken heute schon sehr früh. Dis- kursives Denken und symbolisches Erleben wirken unterschiedlich stark in jedem Menschen, im Kind wie im Erwachsenen. Ein Beispiel: Über Ertrag und Nutzen eines Waldes nachzudenken ist das Eine; sich innerlich erlebend in einen Wald hineinzuversetzen ist das Andere: Dann sind wir im Bild Wald.
Märchen erzählen von Erfahrungen, die wir Menschen machen, sie haben sich uns ein-ge-bildet. Beim Märchenhören erscheinen sie vor unserem in- neren Auge. Manche Erwachsene halten Märchen für unwahr und nutzlos, vielleicht fehlt ihnen der Schlüssel zur inneren Welt? Bildworte erleben lässt sich üben. Mit den Märchen in diesem Buch und den dazugehörigen
10 Einführung 11 Betrachtungen werden sie angeschaut, befragt und dadurch hoffentlich auch erlebt.
Bildworte als Schlüssel zum Märchenverständnis
Wenn wir einen nicht gut formulierten Text lesen, urteilen wir: »Das ist keine gute Sprache!«, obwohl wir Buchstaben auf Papier vor uns haben, die keinen Laut von sich geben. Unser Empfinden und der Ausdruck stam- men aus der schriftlosen, »mündlichen« Zeit. Die Menschen konnten nicht lesen, ihre Verständigungsmittel waren Sprache und gemalte Bilder. Seit Erfindung des Buchdrucks liegen Texte als tote Sprache auf den Buchsei- ten, wie in Schneewittchens Glassarg. Wenn wir sie lesen und mit dem Verstand erfassen, schlagen sie die Augen auf. Geben wir den Worten Atem und Klang, fangen sie an zu leben. Eine Gebrauchsanweisung für ein Küchengerät verstehen wir oft schon durch Zeichen und Überfliegen des Textes mit den Augen. Aber wer hat sich nicht schon dabei ertappt, beim Montieren eines Bausatzes dem Verstehen durch lautes Lesen nach- zuhelfen! Sprache mit Ton und Betonung, mit Pausen und verschiedener Lautstärke ist eindrücklicher als stummes Lesen. Erst dadurch fängt ein Märchentext an, zu uns zu sprechen, wir machen uns Bilder von dem Ge- schehen, wir gewinnen Einblick.
Wen Informationen und Statistiken z. B. über die Haltbarkeit von Schuh- sohlen aus einem bestimmten Material interessieren, dem wird ein Mär- chenheld nichts sagen, der zehn Paar eiserne Schuhe durchlaufen muss, um einen geliebten Menschen zu erlösen. Der nüchterne, sehr sachliche Mensch wird sagen: »Märchen sind Unsinn.« Kinder und Erwachsene, die das Kind in sich bewahren, erkennen in dem Bild der durchlaufenen Schu- he die große Anstrengung, den Mut, vielleicht die Reue über ein Versagen, die Treue, die Liebe, die der Märchenheld empfindet, der sagt: »Ich will bis an das Ende der Welt gehen, bis ich sie finde.«
12 Einführung 13 Lesen oder Hören wir die Worte »Wald«, »Schloss« oder »Wasser« erschei-
nen uns eigene Bilder. Die Worte sind symbolhaft aufgeladen und werden von jedem Menschen in besonderer Weise erlebt, da sie nie eindeutig, sondern immer vieldeutig sind. Dennoch geben sie allgemein gültigen Sinngehalt preis: Ein »König« ist immer ein Herrscher – der Verlauf des Märchens zeigt, ob er zum Guten oder zum Bösen wirkt. »Wasser« ist im- mer das Fließende, Bewegliche, Leben spendende Element, auch wenn es durchaus in zerstörerischer Form auftreten kann. Das »Schloss« wird im Gegensatz zur »Hütte« immer als ein prächtiger großer Bau vor unserem inneren Auge erscheinen. Versuchen wir, das kurze Märchen Der goldene Schlüssel 4 durch seine Bildworte zu entschlüsseln.
Zur Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, musste ein armer Junge hinausgehen und Holz auf einem Schlitten holen. Wie er es nun zusam- mengesucht und aufgeladen hatte, wollte er, weil er so erfroren war, noch nicht nach Haus gehen, sondern erst Feuer anmachen und sich ein bisschen wärmen. Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden auf- räumte, fand er einen kleinen goldenen Schlüssel. Nun glaubte er, wo der Schlüssel wäre, müsste auch das Schloss dazu sein, grub in der Erde und fand ein eisernes Kästchen. »Wenn der Schlüssel nur passt!«, dachte er. »Es sind gewiss kostbare Sachen in dem Kästchen.« Er suchte, aber es war kein Schlüsselloch da; endlich entdeckte er eins, aber so klein, dass man es kaum sehen konnte. Er probierte, und der Schlüssel passte! Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sa- chen in dem Kästchen lagen.
Jeder kennt es, sich arm und einsam zu fühlen. Dann erscheint es uns kalt.
In unserem Märchen ist kalter Winter, der Schnee liegt hoch, das Kind soll allein in den Wald gehen, um Feuerholz zu holen. Das alles sind Bilder, die für den inneren Zustand des Menschen stehen können, sei es nun ein Kind
12 Einführung 13 oder ein Erwachsener. Wir suchen bei diesem Gefühl der Erstarrung nach menschlicher Wärme, nach »Holz« zum Feuermachen. Bei dieser Sehn- sucht oder Anstrengung kann es geschehen, dass uns ein Schlüssel zu einem Schatzkästlein geschenkt wird und damit ein innerer Reichtum, der es uns ermöglicht, aus der Gefühlskälte und Einsamkeit in die wärmende Teilnahme einer Gemeinschaft zurückzukehren.
Einmal erzählte ich das Märchen einer Gruppe von Menschen, die mit kör- perlicher und geistiger Behinderung lebten. Ich fragte sie, was wohl in dem Kästchen läge. Sie vermuteten Gold, Perlen, Edelsteine und anderes.
Plötzlich sprang einer auf und rief wild gestikulierend: »Die Liebe natür- lich!« Die Liebe ist wärmend, wie auch immer wir sie erfahren, als Kraft der Fürsorge, Hilfsbereitschaft, Zuneigung, Hingabe. Wir sind einsam, al- lein, frieren, aber bei der Suche nach Wärmendem, beim Benutzen eines
»Schlüssels« werden wir beschenkt. Diese Aussage steckt in den Märchen:
Innehalten und Suchen lohnt sich.
Eine CD abspielen? Vorlesen? Nacherzählen? Erzählen?
Märchen leise für sich zu lesen, kann schön sein; sie laut zu lesen, vor- zulesen oder zu erzählen, kann für den Sprechenden und den Zuhörenden noch schöner sein. Aus der »Schreibe« im Buch wird lebendige Sprache, da entsteht etwas, kommt in die Welt, ist ein kleiner Schöpfungsakt ge- worden. Unser Schöpfungsmythos beginnt »am Anfang war das Wort ...«.
Klang – und Sprache ist Klang – erzeugt Schwingung, die sich zwischen dem Sprechenden und dem Hörenden ereignet. Das Märchen entsteht im Lesen oder Erzählen, es kommt in die Gegenwart, berührt unsere Seele oder unser Herz – St. Exupéry sagt: »Man sieht nur mit dem Herzen gut« – berührt es schmerzlich und freudig, aufrüttelnd und beruhigend, anspan- nend und entspannend. Vorschulkinder lieben Volksmärchen wie die aus den »Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm«. Es gibt viele (nicht
14 Einführung 15 immer) gute Tonträger mit Märchen. Wir können Kindern eine Märchen-
CD schenken, die Technik beherrschen sie schnell; sie lauschen, aber sie sind damit meist allein, evtl. sogar mit ihren Ängsten. Vorlesende Mütter, Väter, ErzieherInnen und PädagogInnen spüren, wann sie ein ängstliches Kind durch behutsamen Ton oder durch eine Umarmung schützen sollten.
Außerdem genießen Kinder die Atmosphäre beim Vorlesen oder Erzählen besonders. Ein Ton- oder Bildträger kann das nicht leisten. Lesen die Kin- der später selbst, greifen sie gern zu anderen spannenden Geschichten, auch zu Kunstmärchen, die im Gegensatz zu Volksmärchen meistens einen traurigen Ausgang haben; im späteren Lesealter verkraften Kinder auch diese Traurigkeit.
Vorlesen ist also erwünscht, und nacherzählen? Es gehen dabei leider viele Einzelheiten und vor allem die bildhafte Sprache der Märchen verloren, weil unser Gedächtnis nicht alles speichert und wir die Bildsprache nicht mehr selbstverständlich beherrschen. Kinder erfahren aber gerade Verläss- lichkeit und gewinnen Vertrauen, wenn wir uns an den immer gleichen Wortlaut eines Märchens halten.
Kinder reagieren bei wiederholtem Wechsel des Wortlautes misstrauisch.
Sie empfinden gegenüber dem Vorlesenden so: »Ich kann mich nicht auf dich verlassen, du hältst nicht Wort!«, im wahrsten Sinne dieses Satzes.
Außerdem lieben Kinder den Rhythmus der schlichten Märchensprache.
Die Sätze sind meist einfach, in einen Dreierschritt gegliedert, und die Bildworte fordern uns geradezu heraus, sie zu betonen. Das schafft Auf- bau, Halten und Abbau von Spannung. Ein Mädchen nannte es: »Es ist, als ob du mich wiegst.«
Wenn ich den immer gleichen Wortlaut als wünschenswert erwähne, meine ich nicht, dass einzelne Worte nicht verändert werden dürfen. Die Sprache der Brüder Grimm oder überhaupt Märchensprache mögen auf manche von uns antiquiert wirken und deshalb überholt erscheinen – ich gebe gern zu, dass ich die romantisierende Verkleinerung bei dem »Zwerglein« in Die sieben Raben 5 beim Erzählen in »Zwerg« abändere und andere Kleinig-
14 Einführung 15 keiten mehr. Sprache ist ein lebendiges Phänomen und darf sich ändern, aber wir sollten gerade bei den Märchen sehr behutsam damit umgehen.
Kinder lieben unbekannte Worte und Wendungen, diese bereichern ihren Wortschatz, sie benutzen sie in anderen Zusammenhängen mit viel Freude.
An einem Beispiel möchte ich das verdeutlichen. In Die Bienenkönigin6 ermahnt der jüngste der drei Brüder seine übermütigen und zur Zerstö- rung neigenden Brüder dreimal: »Ich leid es nicht, dass ihr sie stört ...
tötet ... verbrennt.« Der Vorschlag eines Erzählers stattdessen »lasst das«
einzusetzen wurde von anderen als Verlust empfunden und abgelehnt.
»Lasst das« ist beliebig, barsch und blass gegen die Steigerung »ich leid es nicht«, verbunden mit stören, töten, verbrennen. Kinder wissen um zugefügtes Leid. Warum also sollten sie das Wort nicht kennen und ge- brauchen? Kinder lieben auch die sog. »Grausamkeit« und das Gruseln im Märchen (bei den Bildworten im erläuternden Text gehe ich darauf ein). Sie brauchen beides in bildhafter Form zu ihrem eigenen seelischen Wachstum und zur Schulung der Widerstandskraft. Kinder und Erwachsene erleben die Bildworte in ihrer eigenen Weise, und jede ist richtig. Dies ist eine Bestätigung, dass die Märchen richtig sind und ich als Zuhörerin auch
»richtig« bin, bei aller Verschiedenheit der Menschen.
Zum textgetreuen Erzählen sei erwähnt: Das kann nicht jede/r in oder neben dem Beruf leisten. In der Europäischen Märchengesellschaft e. V. in Rheine (www.maerchen-emg.de) werden Wochenendkurse angeboten, in denen nach verschiedenen Methoden das Erzählen gelehrt wird.
Zu den Märchentexten in diesem Buch sei gesagt: Die Wendung »Erzähl- fassung von ...« meint, dass sie nicht in unserer Alltagssprache nacher- zählt sind (das käme einer sachlichen Wiedergabe des Inhaltes nahe und wäre dann kein Märchen mehr). Alltagssprache besteht vorwiegend aus Begriffen, die uns zur Kommunikation dienen. Die Märchen wollen keine Sachverhalte klären, sie geben uns zunächst in ihrer Bildsprache Rätsel auf. Als Märchenerzählerin bewahre ich sie in ihrer mündlichen Sprech- weise aus Achtung vor der Eigenart eines jeden Märchens, das Jahrhun-