Julia Kramer-Wiesgrill
Luna und Lucy
Die vergessenen Tagebücher
Die vergessenen Tagebücher
Julia Kramer-Wiesgrill
und Luna Lucy
Die vergessenen Tagebücher
Über die Autorin:
Julia Kramer-Wiesgrill
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Das bin ich
Ich bin Luna, 10 Jahre alt und lebe mit meiner Fa- milie in einem Haus am Waldrand.
Dieser Wald ist mein Zuhause, da fühle ich mich wohl. Ich kenne alle Felsen und fast jeden Baum, jede Mulde und jedes Versteck. Am liebsten mag ich den Herbst, wenn alle Blätter bunt sind und der Boden raschelt, wenn ich drauf gehe.
Flips ist mein zahmes Eichhörnchen. Er kommt immer zu mir, wenn ich ihm eine Erdnuss vor- beibringe, und holt sie aus meiner Hand. Aber streicheln habe ich ihn erst einmal dürfen. Da war er selbst ganz überrascht, als er plötzlich meine Hand auf seinem Rücken gespürt hat! Er hat mich etwas beleidigt angeschaut und ist schnell wieder auf seine Eiche geklettert.
Aber am nächsten Tag ist er trotzdem wiederge- kommen.
Mir gefällt es echt gut hier im Wald, aber manchmal hätte ich gerne eine Freundin, mit der ich zusammen Abenteuer erleben kann. Mein äl- terer Bruder sitzt nämlich immer nur vor seinem Computer und mag nicht mit mir spielen. Leider wohnen keine anderen Familien in der Nähe. Das ist der Nachteil, wenn man so abgelegen wohnt.
Aber dafür ist es hier viel schöner als in der Stadt!
Vor Kurzem habe ich gelesen, dass Bäume re- den können. Aber ich habe sie noch nie dabei erwischt. Ha! Nein, natürlich können sie nicht so reden wie wir, aber anscheinend tauschen sie wichtige Informationen über die Wurzeln und Pil- ze im Waldboden miteinander aus. Das finde ich interessant. Solche Sachen sind spannend. Viel- leicht werde ich das später mal erforschen.
Am liebsten trage ich meine Latzhose, ein bun- tes Ringelshirt und meine roten Wanderschuhe;
ich bin ziemlich gut in der Schule, weil ich so ger- ne lese; und ich kann Flöte spielen. Seit ich von meinem Onkel eine Okarina aus Ton bekommen
habe, spiele ich sogar manchmal im Wald. Ich glaub, die Bäume mögen das. Die Okarina kommt aus Südamerika und hat ein langes Lederband, das man sich um den Hals hängen kann wie eine Ket- te. Damit sie beim Laufen nicht so herumbaumelt, steck ich die Okarina zusätzlich in meine große Latztasche vorne. Und wenn ich Pause mache und mich unter einen Baum setze, habe ich sie gleich zur Hand. Amazing Grace kann ich schon ziemlich gut spielen.
Manchmal lieg ich auch auf einer Lichtung und schau in die Wolken, wenn ich spiele. Oder ich sitz auf meinem Lieblingsfelsen ganz oben am Hügel. Den Bach kann man da zwar leider nicht sehen, dafür aber hören.
Zu meinem Geburtstag habe ich eine kleine Hängematte für unterwegs bekommen. Und alle Bücherbände von Narnia. Sobald es warm genug war, habe ich mir die Hängematte an einen sonni- gen Platz gehängt, um darin zu schaukeln und zu lesen.
Am schönsten ist das direkt am Bach. Es gibt da auf der anderen Seite eine Stelle, wo man vom
Wanderweg aus nicht hinsieht. Man muss sich zwar ein bisschen durch das Gestrüpp kämpfen, aber es lohnt sich. Dort ist ein kleiner Sandstrand mit runden Felsen und einer Weide neben einer schönen Buche. Zwischen den beiden Bäumen hänge ich gerne meine Hängematte auf. Mit den Karabinern und den Schnüren geht das ganz schnell. Papa hat mir beigebracht, wie das geht.
In meinem grünen Rucksack habe ich immer auch eine Flasche Wasser und ein paar Kekse mit. Und mein Handy, damit Mama mich anrufen kann, wenn ich heimkommen soll. Als Klingelton habe ich Vogelgezwitscher, damit sich der Wald nicht erschreckt, wenn es plötzlich läutet.
Dort am Fluss ist es so schön! Der Bach gluckert und rauscht, die Sonne spiegelt sich im Wasser und die Blätter wiegen sich im Wind. Da geht es mir richtig gut!
Manchmal besucht mich sogar ein Schmetter- ling oder eine Libelle. Schmetterlinge fliegen so lustig. Irgendwie tanzen sie ziellos durch die Luft, ganz anders als die Libellen, die voll organisiert rüberkommen.
Ich fahre auch gerne mit dem Fahrrad. Zur Bü- cherei zum Beispiel. Ich habe einen Korb auf mei- nem Fahrrad hinten, da passen ganz viele Bücher rein, genug für eine Woche.
Weil ich so viel lese, habe ich eine Brille. Aber das ist mir egal. Das runde braune Gestell passt gut zu meinen rötlich braunen Locken, die ich meistens zu zwei Zöpfen geflochten habe. Außer- dem schaut man mit Brille intelligent aus, sagt meine Mama.
Intelligent bin ich ja auch. Nur manchmal eben eine bisschen einsam.
Meine Mama und mein Papa sind Künstler.
Papa erfindet Sachen in seiner Werkstatt und Mama malt Bilder in ihrem Atelier. Das Atelier hat sie selbst aus lauter Fenstern und Türen gebaut. Deshalb ist es auch schön hell zum Malen.
Die Werkstatt von meinem Papa und das Atelier von meiner Mama sind beide direkt bei uns im Garten. Das ist praktisch, weil sie dadurch immer in der Nähe sind und zum Arbeiten nicht wegfah- ren müssen.
Mama malt schöne Bilder. Meistens Bäume oder Vögel.
Papa bastelt gerade an einer neuen Solaranla- ge, die noch mehr Strom liefern soll, und an ei- ner besseren Batterie. Vielleicht können die Autos demnächst doch mit Sonnenenergie fahren, das wäre toll!
Ich weiß noch nicht, was ich später einmal wer- den will. Aber irgendwas, wo man im Wald unter- wegs ist, auf jeden Fall! Vielleicht Försterin. Oder Biologin.
Ich hätte auch gerne mein eigenes kleines Haus im Wald, wenn ich groß bin. So eines, wie ich mal im Internet gesehen hab. Ohne Strom- und Was- seranschluss. Dafür mit einem Bach in der Nähe, einer Solaranlage von meinem Papa auf dem Dach und einem Bio-Klo, das so ähnlich wie ein Kat- zenklo funktioniert. Und einem kleinen Gemüse- garten und drei Hühnern. Aber die muss ich dann gut einzäunen, damit der Fuchs sie nicht holt.
Vielleicht besser doch keine Hühner …
Im Wald wächst auch viel, was man essen kann.
Pilze, Beeren und sogar Wurzeln. Ich habe schon
viele Bücher über den Wald und über das Über- leben im Wald gelesen. Man kann sogar Eicheln und Birkenrinde essen, wenn man sie kocht! Aber Spaghetti schmecken auf jeden Fall besser! Ich habe schon Fichtenwipfel und sogar Farn gekos- tet, weil in einem Buch stand, dass das so gesund ist, aber es hat mir überhaupt nicht geschmeckt, weil es so bitter war! Also irgendwie muss ich da noch einen Kompromiss finden, wenn ich später im Wald leben will. Ich denke nicht, dass ich auf Schokokekse verzichten kann …
Ich habe schon mal versucht, mir eine Hütte zu bauen. Aber allein geht das nicht so gut. Ein Baumhaus wäre noch cooler. Jedenfalls wäre es echt praktisch, einen Rückzugsort im Wald zu ha- ben, wenn das Wetter nicht so gut ist. Vielleicht kann mir doch mein Bruder mal helfen …
Im Internet gibt es sicher Anleitungen, wie man so was macht!
1. Kapitel
Es sind Sommerferien, aber heute habe ich keine Zeit, um im Wald herumzustromern, weil nämlich neue Nachbarn in das Haus neben uns einziehen!
Bis jetzt hat nur eine ältere Frau mit ihrem Hund in dem Haus gewohnt. Aber Mama hat mir er- zählt, dass jetzt auch ihre erwachsene Tochter mit ihrer Familie hier einziehen wird, damit sie nicht allein in dem großen Haus leben muss. Und das Beste ist, dass sie drei Kinder haben!
Ich bin schon seit Tagen gespannt und anschei- nend ist es heute endlich so weit!
Ein riesiges Lastauto steht in der Einfahrt und zwei Männer schleppen gerade ein Klavier ins Haus. Ich habe mich hinter der Buchenhecke ver- steckt, die unsere Gärten trennt, beim Kompost-
haufen, weil man mich da nicht sehen kann. Aber Lilo, der Nachbarhund, bemerkt mich natürlich trotzdem und will durch den Zaun gestreichelt werden.
»Pst, Lilo! Verrat mich nicht.«
Lilo setzt sich verdutzt hin, legt seinen Kopf schief und hebt fragend ein Ohr.
»Wo sind denn die neuen Kinder, Lilo? Sind sie schon da?«
Lilo bellt mich kurz an und läuft dann wieder zu den Männern, die gar nicht erfreut sind, dass ihnen ein kleiner Dackel zwischen die Beine läuft.
»Oma Martina! Sperr den Hund ein«, ruft der Mann mit dem verwaschenen Superman-T-Shirt.
Er redet irgendwie komisch, ich glaub, der ist nicht von hier.
Da kommt auch schon unsere Nachbarin ange- rannt und ruft Lilo: »Du kleiner Schlingel! Bist du so aufgeregt! Gleich kommen die Kinder, dann kannst du mit ihnen spielen! Komm her da! Lass die Männer in Ruhe arbeiten.« Und schon sind die beiden wieder im Haus verschwunden, dicht ge- folgt von den Männern mit dem Klavier.
Eine Weile passiert gar nichts und mir wird langweilig. Wer weiß, wie lange das noch dauert?
Als ich ein Auto kommen höre, bin ich erst ganz aufgeregt, aber es ist nur die Post. Ich lau- fe trotzdem schnell runter zur Straße, weil Mama ein Buch für mich bestellt hat, das vielleicht heu- te kommt. Aber Jakob, der Briefträger drückt mir nur einen Stapel Briefe und Zeitungen in die Hand und sagt: »Liebe Grüße an den Papa! Er soll sich melden, wenn er wieder mal mit mir Angeln ge- hen mag! Tschüss Luna«, und schon steigt er wie- der in sein knallgelbes Auto und braust davon.
Gerade als ich mich auf den Weg ins Haus ma- chen will, höre ich noch ein Auto kommen. Dies- mal ist es ein roter VW-Bus und er bleibt tatsäch- lich beim Nachbarhaus stehen! Ich habe keine Zeit mehr, mich zu verstecken, also bleib ich einfach, wo ich bin.
Als die Tür aufgeht, hört man noch kurz laute Musik und dann ruft eine Frau: »Alles aussteigen!
Wir sind in unserem neuen Zuhause.«
Schon purzeln drei Kinder aus dem Auto: zwei Mädchen und ein Junge.
»Ich muss ganz dringend aufs Klo«, ruft die Kleinste und läuft schnell mit ihrer Mama ins Haus. Die anderen beiden haben es nicht ganz so eilig, aber der Junge geht auch Richtung Haus, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben.
Nur das ältere Mädchen hat mich entdeckt und kommt langsam zum Zaun.
»Hallo. Ich bin Lucy. Wohnst du in dem Haus da?«, fragt sie.
»Ähm ja. Hallo. Ich bin Luna.« Ich streiche mir verlegen eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Cool«, sagt Lucy und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.
Lucy hat blonde Haare und blaue Augen. Sie trägt ein grünes Kapuzensweatshirt, Jeans und türkisfarbene Sneakers. Sie sieht nett aus.
»Ich bin froh, dass wir bei Oma einziehen. Jetzt bekomme ich endlich mein eigenes Zimmer«, er- klärt Lucy. »Unsere Wohnung in der Stadt war viel zu klein für uns fünf.«
»Ich bin auch froh, dass ihr hier einzieht«, stim- me ich ihr zu. »Es gibt nicht so viele Kinder in der Gegend.«
»Na dann haben wir ja Glück, dass wir jetzt Nachbarn sind«, sagt Lucy froh. »Was machst du denn so am liebsten? Hast du irgendwelche Hob- bys?«, will sie wissen.
»Ich bin gerne im Wald unterwegs. Und ich lese viel.«
»Würdest du mich mal mitnehmen in den Wald?«, fragt Lucy. »Natürlich nur, wenn du willst«, fügt sie noch hinzu.
»Total gerne«, sage ich mit einem Grinsen. »Ich wünsche mir schon lange eine Freundin, mit der ich Abenteuer im Wald erleben kann.«
Lucy lacht: »Ich bin dabei.«
»Lucy!«, ruft da der Mann mit dem Superman- T-Shirt plötzlich aus dem Fenster im ersten Stock zu uns herunter und fragt etwas auf Englisch.
Lucy antwortet ihm ebenfalls auf Englisch.
»Sorry, ich muss gehen. Sehen wir uns später?«, wendet sie sich wieder mir zu.
»Wieso redet ihr Englisch miteinander?«, frage ich und bin noch ein bisschen verwirrt.
»Ach so, mein Papa ist aus Amerika. Wir sind zweisprachig. Mit meiner Mama reden wir
Deutsch und mit meinem Papa meistens Eng- lisch.«
»Lucy«, ruft ihr Papa wieder.
Lucy winkt mir noch kurz zu und läuft dann schnell ins Haus.
So schnell habe ich eine neue Freundin bekom- men!
Fröhlich laufe ich die Stufen hinauf, um meiner Mama davon zu erzählen und ihr die Post zu brin- gen.
2. Kapitel
Gut, dass gerade Sommerferien sind, dann kann ich Lucy meinen Wald zeigen. Vielleicht wird es ja auch »unser« Wald! Obwohl ich nicht weiß, ob ich immer alles teilen mag. Ich bin manchmal auch ganz gern allein unterwegs.
Wir werden sehen.
Ich schlüpfe in meine Latzhose, der Sommer ist gerade nicht so warm, und laufe hinunter in die Küche, um zu frühstücken. Die Holzstiege nehme ich immer im gleichen Rhythmus: lang, kurz, lang, kurz, lang, kurz, lang. Genauso, wie man zwei Stu- fen auf einmal nehmen kann und wo man eine Pause braucht, um sich mithilfe des Geländers schwung- voll um die Kurve zu drehen. Das macht gute Laune – nur darf einem da niemand entgegenkommen!
»Luna! Pass auf«, ruft Mama, die gerade mit ei- nem Wäschekorb durch den Vorhang kommt, der das Treppenhaus vom Vorzimmer trennt.
»Du hörst mich doch, Mama, wenn ich runter- flitze! Aus der Bahn, ich habe Hunger«, rufe ich und lache.
Da muss Mama auch lachen und hält mir den Vorhang auf. »Na, da ist ja jemand gut gelaunt!
Liegt das an unseren neuen Nachbarn?«
»Kann sein. Aber jetzt brauch ich was zu essen«, sage ich bestimmt und mache mich auf den Weg in die Küche.
Eine halbe Stunde und drei Marmeladenbrote mit Kakao später stehe ich mit meinem Rucksack vor der Tür der Nachbarn und klingle.
Frau Wagner, die Oma von Lucy, öffnet die Tür.
»Ja hallo Luna! Das ist aber nett, dass du vorbei- kommst! Hast du meine Enkelkinder schon ken- nengelernt?«
»Guten Morgen, Frau Wagner. Ja, gestern habe ich mit Lucy geplaudert und ich wollte fragen, ob sie mit mir in den Wald kommen darf. Dann kann ich ihr die Gegend zeigen.«
»Das ist ja nett. Geh am besten rauf in den ers- ten Stock und frag sie selbst.«
Als ich oben an der Tür zur Wohnung der Fa- milie stehe, weiß ich nicht, ob ich wirklich ein- fach reingehen soll. Aber Lucys Oma hat mich raufgeschickt, also klopfe ich an die Tür und rufe: »Hallo? Hier ist Luna! Darf ich reinkom- men?«
Da saust auch schon Lucy um die Ecke, schnappt mich an der Hand und sagt: »Super, dass du da bist! Ich muss dir mein Zimmer zeigen.«
Und schon zieht sie mich die Stufen in den zweiten Stock hinauf und linksherum in ein klei- nes, gemütliches Dachgeschosszimmer. Es ste- hen zwar noch ein paar Umzugskartons herum, aber die Möbel sind alle schon an ihrem Platz:
Bett, Schreibtisch, Klavier, Kasten. Lucy hat ein Dachfenster direkt über dem Bett und eines über dem Schreibtisch. Die Wände sind alle aus Holz und es riecht gut. Nach Wald. Sie hat einen grü- nen Teppich und eine bunte Patchworkdecke auf dem Bett. Aber das Beste ist im Käfig in der Ecke:
Lucy hat einen Kakadu in ihrem Zimmer! Er ist
weiß und hat gelbe Kopffedern, die ihm wie ein Irokese zu Berge stehen.
Als wir das Zimmer betreten, ruft er laut: »Pa- pagei! Papagei«, und wackelt mit seinem Kopf auf und ab.
»Das ist Perry. Er glaubt, er ist ein Papagei, weil er das so oft gehört hat. Alle kleinen Kinder sind immer ganz aufgeregt zu ihm gelaufen und haben
›Papagei‹ gerufen, obwohl er eigentlich ein Kaka- du ist. Ich habe ihn von einem alten Mann aus un- serer Kirche geerbt, der letztes Jahr gestorben ist.«
»Wow. Das ist echt cool«, sage ich und meine alles damit.
»Mein Papa montiert mir demnächst noch mei- nen Hängesessel und mein Bücherregal. Und Lampen brauch ich auch noch. Aber das Zimmer ist echt schön. Viel schöner als mein altes, das ich mir mit meinem Bruder teilen musste.«
»Ja, es ist voll schön! Ich mag es, dass alles aus Holz ist.«
»Komm! Ich zeig dir meinen Wald!«, rufe ich und diesmal bin ich diejenige, die sich ihre Hand schnappt und mit ihr die Stufen hinuntereilt.
»Warte, ich muss Mama noch Bescheid sa- gen«, lacht Lucy, aber die hat nichts dagegen und so machen wir uns endlich auf den Weg in den Wald.
Die Sonne versteckt sich noch hinter den Wol- ken, aber die Blätter leuchten ganz frisch in hel- lem Grün und der Boden duftet nach frischer Erde, weil es in der Nacht geregnet hat. Am Weg- rand sind ganz viele kleine Pilze, was wirklich lus- tig aussieht. Beim Holzstapel biegen wir auf einen kleinen Waldweg ab und gehen hinauf zu den gro- ßen Felsen.
»Dort oben hat man einen schönen Blick über die Bäume. Es gibt Birken, Fichten, Buchen und Eichen …«
»Kannst du die alle auseinanderhalten? Ich weiß nie, ob das eine Fichte oder eine Tanne ist.«
»Das ist ganz einfach«, erkläre ich ihr. »Die Tan- nen haben eine glattere Rinde und die Nadeln sind nicht so stachelig wie bei einer Fichte. Außerdem sind die Fichtennadeln rundherum um den Zweig.
Anders als bei der Tanne, da sind sie mehr in einer Reihe. Und die Tanne wirft ihre Zapfen auch nicht
ab wie die Fichte, sondern schuppt ihre Zapfen nur.«
»Wow«, staunt Lucy und bleibt stehen. »Du bist ja ein wandelndes Baumlexikon.«
»Ich interessier mich halt für Bäume und lese ziemlich viel. Aber jetzt komm! Ich will dir noch den Bach zeigen«, antworte ich und laufe den schmalen Pfad bergab.
»Nicht so schnell«, ruft Lucy und eilt mir hin- terher.
Unten am Wasser kommt die Sonne heraus, als wollte der Bach Lucy mit seinem Glitzern heute besonders beeindrucken.
Wir klettern auf den niedrigen Ast einer Pappel und lassen die Beine knapp über dem Wasser bau- meln. Zu zweit ist es zwar etwas enger auf dem Ast, aber wir bleiben sowieso nicht lange sitzen.
»Da vorne ist ja eine kleine Brücke! Sollen wir hingehen?«, ruft Lucy und macht sich auf den Weg.
Wir setzen uns auf die Brücke und machen es uns gemütlich. Es ist wirklich nur eine ganz klei- ne Brücke, weil der Bach an der Stelle recht schmal
ist, sodass gerade zwei Personen gut darauf sitzen können. Ich nehme meinen Rucksack ab und hole eine Packung Kekse hervor.
»Magst du auch welche?«, frage ich meine neue Freundin, die begeistert nickt.
Es sind zwar nur ganz normale Butterkekse, aber mit einer Freundin gemeinsam auf einer Brü- cke im Wald schmecken sie wie die besten Kekse der Welt.
3. Kapitel
»Hast du eigentlich auch Geschwister?«, fragt Lucy mich.
»Ja, einen 15-jährigen Bruder. Aber der sitzt fast immer nur vor dem Computer. Ich habe ihn schon öfter mal gefragt, ob er mir nicht helfen mag, ein Baumhaus zu bauen, aber er hat keine Lust da- rauf, mit mir im Wald zu sein.«
»Ich kann dir doch helfen! Zu zweit schaffen wir das sicher! Mein Papa arbeitet viel mit Holz und ich habe ihm schon oft geholfen, etwas zu bau- en.«
»Ehrlich? Das wäre toll«, sage ich grinsend und vor Aufregung bröseln mir ein paar Krümel aus dem Mund.
»Als Erstes brauchen wir einen Plan. Wo willst
du denn das Baumhaus bauen? Hast du dir schon einen Ort überlegt?«
»Ja, die Eiche oben am Hügel wäre perfekt.«
»Gut. Dann gehen wir rauf und zeichnen einen Plan.«
Auf dem Block, den ich in meinem Rucksack habe, entsteht schnell ein schönes Baumhaus.
Aber wie sollen wir das umsetzen? Vielleicht brauchen wir doch Hilfe, denke ich so bei mir.
»Weißt du was?«, fragt Lucy nach einer Weile.
»Wir sollten doch unsere Brüder fragen. Vielleicht machen sie ja mit, wenn sie zu zweit sind.«
»Zuerst müssen wir sie mal von ihren Compu- tern weglocken, damit sie sich überhaupt kennen- lernen können.«
»Ich habe da eine Idee«, ruft Lucy aufgeregt.
»Wir sorgen dafür, dass in beiden Häusern gleich- zeitig der Strom ausfällt.«
»Ich weiß nicht, ob das so schlau ist«, sage ich zweifelnd.
»Doch! Dann funktionieren ihre Computer nicht mehr und sie laufen beide aus dem Haus, um nachzuschauen, was los ist. Dabei lernen
sie sich kennen und lösen das Problem mit dem Strom gemeinsam …«
»Na gut. Und wie machen wir das?«
Während wir noch verschiedene Möglichkeiten durchgehen, machen wir uns langsam auf den Rückweg nach Hause. Wir sind so in unser Ge- spräch vertieft, dass wir gar nicht merken, dass uns zwei Gestalten hinter einem Holzstoß auflau- ern.
»Ahh!«, rufen sie plötzlich und springen hervor.
Wir kreischen wie verrückt und klammern uns aneinander, bevor wir merken, dass es ja nur un- sere Brüder sind!
»Was macht ihr da? Ihr habt uns voll erschreckt«, beschwere ich mich.
Die beiden halten sich den Bauch vor Lachen und hören uns gar nicht zu.
»Hast du ihre Gesichter gesehen? Die haben voll die Panik gehabt«, quetscht mein Bruder Michael zwischen seinen Lachanfällen hervor.
»Ja, das war echt lustig! Hi, ich bin David«, sagt Lucys Bruder und streckt mir seine Hand hin.
Ich nehme sie skeptisch. »Luna«, sage ich
knapp. Solche Höflichkeiten bin ich nicht ge- wöhnt.
»Ich bin Michael«, folgt mein Bruder seinem Beispiel und hält Lucy die Hand hin.
»Super! Ich bin Lucy. Und wir brauchen eure Hilfe. Wir wollen nämlich ein Baumhaus bauen«, kommt Lucy gleich zur Sache.
»Wie habt ihr euch überhaupt kennengelernt?«, will ich jetzt aber doch wissen.
»Ach, ich war kurz mit Lilo im Garten Stöck- chen werfen und dann ist Michael rausgekommen und wir haben uns unterhalten …«
»Und dann haben wir gesehen, dass ihr aus dem Wald kommt, und haben uns schnell hinter dem Holzstapel versteckt, um euch zu erschrecken«, beantworten sie beide die Frage.
»Ihr habt euch also tatsächlich mal von eurem Computer losgeeist!«, stichelt Lucy.
»Sei lieber nett zu uns, wenn du willst, dass wir euch helfen«, droht David.
»Was wollt ihr bauen?«, fragt mein Bruder nach.
»Ein Baumhaus! Macht ihr mit?«
»Ich finde, das ist eine gute Idee«, sagt David.
»Ihr wollt uns echt helfen?«, frage ich ungläu- big.
»Ja, warum nicht?«, sagt mein Bruder unschlüs- sig und schielt zu David hinüber.
»Schwesterherz, du hast ja keine Ahnung, was ich am Computer mache. Seit Kurzem verfolge ich den YouTube-Kanal von einem Freund von mir, der Hütten im Wald baut. Bushcraft, Survival, Outdoor … solche Sachen.«
»Cool«, sagt mein Bruder anerkennend.
»Wir könnten zu viert ein Projekt planen und das Ganze filmen. Und vorher holen wir uns Tipps aus dem Internet«, schlägt David vor.
So kommt es, dass wir kurze Zeit später alle vier vor dem Computer in Michaels Zimmer sitzen und uns eines von den YouTube-Videos von Da- vids Freund ansehen.
Das ist echt cool, was der macht! Er baut nur mit Axt, Säge und Schnüren, ohne Nägel oder Schrau- ben. Aber richtige kleine Hütten!
Ob wir so was auch schaffen?
»Luna! Michael! Essen kommen«, ruft meine Mama plötzlich von unten.
»O schon so spät! Wir müssen auch nach Hau- se«, seufzt Lucy und wir stehen widerwillig auf.
»Treffen wir uns nach dem Essen hinter dem Holzstapel und gehen noch gemeinsam in den Wald?«, frage ich, bevor ich die Tür öffne, um alle hinauszulassen.
»Ja, gute Idee«, sagen Lucy und David wie aus einem Munde.
Und dann sausen wir zum Essen.
Wir haben gar nicht gemerkt, wie hungrig wir alle sind!
4. Kapitel
»Ich hoffe, es ist okay für euch, wenn wir Miri- am mitnehmen, aber unsere Eltern müssen heute Nachmittag noch Sachen für unsere neue Woh- nung kaufen. Deshalb passen David und ich auf sie auf«, begrüßt Lucy uns und zieht ihre kleine Schwester hinter sich her.
Schüchtern versteckt sich die Kleine hinter den Beinen ihrer großen Schwester.
»Hi du«, sage ich und gehe in die Hocke, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Da beginnt sie zu ki- chern und schiebt sich ihren rosa Haarreifen nach hinten.
»Spielen wir, dass ich euer Pony bin und ihr geht mit mir spazieren?«, fragt sie eifrig.
»Au ja, gute Idee. Ich binde dir mein Halstuch
um den Bauch und du bist unser Pony«, sagt Lucy bestimmt.
Aber als Miriam sich hinkniet, um auf allen vie- ren zu gehen, ist Lucy gar nicht begeistert: »Miri- am! Im Wald kannst du doch nicht krabbeln! Da geht deine Hose kaputt.
»Aber ich bin doch ein Pony«, erwidert diese trotzig.
Da packt David seine kleine Schwester von hin- ten, hebt sie hoch und setzt sich die quietschende Fünfjährige auf die Schultern. »So, jetzt bin ich das Pferd und du bist meine Indianerfreundin«, sagt er und läuft los.
Als wir bei meiner Lieblingseiche ankommen, wird uns schnell klar, dass der Baum doch keine gute Wahl für ein Baumhaus ist. Es wäre viel zu kompliziert, zwischen all den verzweigten Ästen eine Plattform zu errichten. Außerdem wollen wir den Baum nicht verletzen, sondern lieber Samuels Methode von seinem YouTube-Video nachahmen:
Dazu stellt man vier Pfosten im Quadrat jeweils neben einen Baum und bindet sie mit einem dün- nen Seil gut fest. Auf diese Pfosten montiert man
dann Querbalken und auf die legt man dann wie- derum Holzstämme, die den Boden der Plattform bilden. So sollte man relativ einfach eine stabile Plattform für ein Baumhaus bekommen.
Also machen wir uns auf die Suche nach einem Platz mit vier gerade gewachsenen, hohen Bäu- men, wo am besten auch noch viele abgestorbene Baumstämme herumliegen, die wir dann als Bau- material nehmen können.
Da ich mich am besten in meinem Wald aus- kenne, führe ich die anderen den Hang hinunter zu einem steilen Stück mit Fichten. Miriam ist mittlerweile nicht mehr auf Davids Schultern, sondern klettert selbst als Pferd den Hang hinun- ter. Sie will uns helfen, die vier besonderen Bäume zu suchen, sagt sie.
Am Ende ist es tatsächlich die kleine Miriam, die die beste Baumgruppe entdeckt. »Das ist der Baumhausplatz. Ich geh Brombeeren suchen und ihr baut das Baumhaus«, sagt sie in gebiete- rischem Ton und fängt an, Brombeeren zu pflü- cken.
Wir schauen uns an und lachen.
»Da, geh ein paar Beeren für uns sammeln, in meiner Kappe«, fordert David sie auf und gibt ihr seine blaue Schildmütze. »Aber bleib schön in der Nähe, ok?«, ermahnt er sie noch, bevor er wieder mit kritischem Blick die Bäume mustert.
»Ja, das könnte gehen«, fährt er an uns gewandt fort, »der Platz ist echt nicht übel.«
»Und hier kann man uns auch nicht vom Weg aus sehen«, pflichtet ihm mein Bruder bei.
Ich hole meinen Block und meinen Stift aus dem Rucksack und außerdem eine Rolle Paketschnur und mein Taschenmesser. Mit den Sachen kön- nen wir zwar noch kein Baumhaus bauen, aber zumindest können wir die Bäume markierten und einen Plan machen, wie wir als Nächstes vorge- hen wollen.
»Wir brauchen eine Axt, eine Säge und so eine Paracord-Rolle, wie dieser Samuel«, stellt Lucy fest.
»Vielleicht können wir morgen mit meinem Papa zum Baumarkt fahren und die Sachen besorgen.«
»Hoffentlich ist das nicht so teuer. Ich habe mein ganzes Erspartes für Bücher ausgegeben«, werfe ich ein.
»Und ich habe mir vor Kurzem das neue Com- puterspiel gekauft«, pflichtet mir mein Bruder bei.
Bei unseren neuen Freunden sieht die Lage auch nicht besser aus.
»Dann müssen wir uns halt irgendwie Geld ver- dienen«, schlägt Lucy vor. »Vielleicht hat Oma ja einen Auftrag im Garten für uns oder so. Oder wir können Babysitten …«
»Apropos Babysitten«, falle ich ihr ins Wort.
»Wo ist eigentlich Miriam?«
Einen kurzen Augenblick schauen wir vier uns entgeistert an, bevor wir alle gleichzeitig losstür- men und »Miriam! Wo bist du?« rufen. Vor lauter Planen haben wir die Kleine total vergessen!
»Aber sie war doch gerade noch da, bei den Brombeerbüschen«, sagt Lucy verzweifelt. »Das gibt’s doch nicht.«
»Wir müssen uns aufteilen«, schlägt David mit ernster Miene vor. »Lucy und Luna, ihr geht berg- auf und rechts, Michael und ich gehen bergab Richtung Bach. Habt ihr euer Handy dabei?«
Und schon stürmen wir los. So schnell bin ich noch nie bergauf geklettert. Lucy und ich rutschen
ein paarmal aus und müssen uns mit beiden Hän- den abstützen und an Wurzeln festhalten, um hochzukommen. Zu allem Übel beginnt es jetzt auch noch zu regnen.
Oben am Weg laufen wir nach rechts, tiefer in den Wald hinein und rufen immer wieder ihren Namen. Aber wir können sie nirgends finden.
Plötzlich klingelt mein Handy.
»Habt ihr sie gefunden? Hier unten am Bach ist sie nicht«, höre ich Davids verzweifelte Stimme.
»Nein, noch nicht. Aber sie könnte überall sein.«
»Hoffentlich ist ihr nichts passiert! Wieso ha- ben wir nicht besser aufgepasst?«
»Ich glaube, es ist besser, wir gehen nach Hause und holen Hilfe. Vielleicht kann Lilo sie finden«, ist Lucys Idee.
Und so machen wir uns alle schnell auf den Heimweg, nicht ohne dabei weiter die Augen of- fen zu halten und nach Miriam zu rufen.
Doch wir finden nichts und hören nur den Bach und die Regentropen, die auf die Blätter fallen.
Als wir beim Holzstoß ankommen und die Stra-
ße zu den Häusern einschlagen, kommt Lucys Papa uns mit dem Regenschirm entgegen.
Schnell laufen wir zu ihm, um Alarm zu schla- gen, doch da schimpft er auch schon: »Ihr soll- tet doch auf eure Schwester aufpassen, Lucy und David! Wieso ist sie ganz allein aus dem Wald ge- kommen?«
»Miriam ist wieder da?«, fragt David erleichtert.
»Gott sei Dank«, stimmt Lucy ihm bei.
»Ja, wir haben gerade Einkäufe aus dem Auto geladen, als sie plötzlich aus dem Wald gelaufen kam. Ganz allein«, erklärt der Vater vorwurfsvoll.
»Es tut uns leid, Papa! Sie war die ganze Zeit bei uns und dann auf einmal war sie plötzlich nicht mehr da! Ehrlich«, bricht Lucy in Tränen aus.
»Ist ja gut, Lucy. Ich bin auch froh, dass nicht mehr passiert ist«, sagt er jetzt mit sanfter Stimme und nimmt seine große Tochter in die Arme.
»Wie wäre es, wenn wir jetzt alle ins Haus ge- hen und einen Kakao miteinander trinken? Dann könnt ihr uns erzählen, was ihr gemeinsam im Wald gemacht habt, okay?«
»Miriam«, ruft Lucy, als sie in die Küche läuft
und umarmt ihre kleine Schwester stürmisch.
»Wo warst du denn? Wir haben dich überall ge- sucht.«
»Nicht überall. Sonst hättet ihr mich ja gefun- den«, antwortet diese naseweis. »Ich habe ein Eichhörnchen gesehen, ein ganz schönes, hell- braun mit einem roten Schwanz. Aber das ist mir immer davongesprungen. Ich bin ihm hinterher- gelaufen und auf einmal habe ich gemerkt, dass das keine gute Idee war, weil ich nicht mehr ge- wusst habe, in welcher Richtung der Baumhaus- platz ist. Also bin ich hinaufgeklettert zu dem Weg und wieder nach Hause gegangen.«
»Kluges Mädchen«, sagt ihre Mama.
»Woher hast du denn gewusst, welcher Weg nach Hause führt?«, will ich von ihr wissen.
»Na ich bin doch ein Indianermädchen-Pferd.
Die finden immer nach Hause«, antwortet sie selbstbewusst und klettert wieder auf die Bank, um sich ihrem Kakao zu widmen.
»Kommt, setzt euch hin«, lädt ihre Mama uns ein. »Nach dem Schreck bekommt ihr jetzt alle eine Tasse Kakao.«
Der warme Kakao tut gut und hilft uns zu ent- spannen. Wir haben echt Angst gehabt, dass der kleinen Miriam etwas passiert ist.
Ich habe erst vor Kurzem ein Buch gelesen, in dem sich ein Mädchen im Wald verirrt und wo- chenlang allein herumirrt. Die Geschichte ist zwar auch gut ausgegangen, war aber ziemlich gruse- lig. Und die Wälder im nördlichen Nordamerika sind halt doch auch um einiges größer als unser Wald und außerdem gibt es da Bären. Aber verlet- zen kann man sich bei uns auch!
»Lieber Gott! Ich danke dir, dass du heute auf die Kinder aufgepasst hast, besonders auf Miri- am, und dass du sie wieder gut nach Hause ge- bracht hast«, reißt mich die Stimme von Lucys Papa aus meinen Gedanken. »Amen. – Wollen wir eine Runde Uno spielen?«, wechselt er ganz un- kompliziert das Thema.
Und so verbringen wir noch einen gemütlichen Nachmittag bei unseren Nachbarn.
Andrew, Lucys Papa, erklärt sich bereit, morgen Vormittag mit uns zum Baumarkt zu fahren, da- mit wir unser Werkzeug kaufen können. Er will
uns sogar das Geld dafür borgen und wir können es uns verdienen, wenn wir ihm beim Holzhacken und beim Zaunstreichen helfen. Das klingt nach einem guten Plan!
Diesen Sommer werde ich vielleicht doch nicht so viel lesen, wie ich gedacht habe. Weil wir tat- sächlich ein Baumhaus bauen!
5. Kapitel
Am nächsten Morgen treffen wir uns um neun Uhr beim Auto unserer Nachbarn, so wie verabre- det. Miriam darf auch wieder mit, aber diesmal ist ja ihr Papa dabei, um auf sie aufzupassen.
Leider regnet es noch immer. Wir können zwar unser Werkzeug kaufen, aber so, wie es aussieht, können wir heute leider mit dem Bauen noch nicht anfangen.
Der Baumarkt hat alles, was wir brauchen. Wir sind uns nur nicht gleich einig, welche von den verschiedenen Äxten und Sägen wir nehmen sol- len. Mein Bruder würde lieber mehrere billige Tei- le kaufen, damit wir gleichzeitig arbeiten können, aber David ist für Qualitätswerkzeug, weil man damit angeblich viel besser arbeiten kann. Nach-
dem wir einen Verkäufer gefragt haben, nehmen wir doch die teure Axt und die praktische Klapp- säge aus Schweden. Zusammen mit der großen Seilrolle wird das ganz schön teuer, aber wir sind ja zu viert. Wenn sich jeder Geld verdient, haben wir den Betrag schnell zusammen.
Andrew, Lucys Papa, lacht, als er an der Kasse für uns bezahlt: »Oh! Da habe ich jetzt aber viel Hilfe beim Arbeiten im Garten! Ihr seid jetzt mei- ne Gärtner, bis ihr eure Schulden abgearbeitet habt.«
Die Verkäuferin lacht auch: »Na, wenn das so ist, gebe ich den Gärtnern lieber noch eine klei- ne Stärkung mit auf den Weg«, und hält uns eine Dose mit Lollis hin, aus der wir uns alle grinsend einen Lutscher nehmen. Nur Miriam zögert und sieht ihren Papa skeptisch an: »Ich bin aber nicht deine Gärtnerin, Papa. Du sagst doch immer, ich bin deine kleine Prinzessin.«
»Aber natürlich bist du das, mein Schatz«, ver- sichert er ihr ernst. »Aber die Großen müssen im Garten arbeiten, weil ich ihnen das Geld für ihr Werkzeug geborgt habe.«
»Ach so. Ich kann auch im Garten arbeiten! Ich mach das umsonst, Papa«, erklärt Miriam feier- lich und alle lachen.
Als wir wieder im Auto sind, überlegen wir, was wir den restlichen Tag über machen. Bei dem Wet- ter können wir weder im Wald noch im Garten ar- beiten.
Michael und David wollen zusammen Minecraft spielen. Aber womit könnten Lucy und ich uns be- schäftigen? Da habe ich eine Idee: »Andrew, könn- test du Lucy und mich noch ins Dorf bringen? Ich würde Lucy gerne die Bücherei zeigen.«
Und so lassen uns die anderen im Ortszentrum aussteigen, bevor sie ohne uns nach Hause fah- ren. Die Jungs verstehen nicht, wieso ich so gerne in die Bücherei gehe, aber sie kennen auch Anna und ihr Reich nicht!
Anna ist die Bibliothekarin in unserem Dorf.
Praktischerweise ist die Bibliothek in ihrem Haus. Oder man könnte auch sagen, sie wohnt in der Bücherei. Es ist ein großes altes Haus und das Erdgeschoss ist wirklich voller Bücher! Anna hat das Haus von ihrem Vater geerbt, einem
Professor, der Bücher gesammelt hat. Als sie es übernommen hat, hat sie die hervorragende Idee gehabt, eine öffentliche Bücherei daraus zu ma- chen. Sie hat alles geputzt und archiviert, schöne bunte Teppiche gekauft und neue Kinderbücher bestellt.
Ich komme sie gerne besuchen, weil es immer so friedlich bei ihr ist. Man kann sich ein Buch nehmen und in einem der gemütlichen Ohrenses- sel sitzen und lesen. Im Winter gibt es ein Feuer im Kamin und eine Thermoskanne mit Tee für die Besucher. Manchmal organisiert Anna auch Bas- telnachmittage.
Anna ist zwar schon älter als meine Mama, aber sie ist wirklich cool. Sie hat lila Strähnchen in den Haaren und bunten Schmuck aus Filz. Und außer- dem wohnt auch Sokrates in der Bibliothek. Sok- rates ist schon ein alter Kater mit langem dunklem Fell. Er schaut sehr gebildet und stolz aus, so als hätte er alle Bücher selbst geschrieben. Aber er ist sich nicht zu fein, um sich von mir streicheln zu lassen.
Weil ich so oft in der Bücherei bin, kennt er
mich und beginnt zu schnurren, wenn er mich sieht. Das ist die schönste Begrüßung für mich!
Das und Annas fröhliches »Hallo Luna! So schön, dass du da bist!«.
Heute kommt noch ein »Oh, wen hast du denn da mitgebracht? Kommt herein, ihr zwei Hüb- schen, und zieht euch bitte die nassen Schuhe aus« hinzu.
»Hallo Anna! Das ist Lucy, meine neue Freundin und Nachbarin«, stelle ich sie stolz vor.
Anna mustert sie neugierig. »Ehrlich? Ist es endlich so weit? Wir haben schon so lange darauf gewartet, dass eine Freundin für Luna auftaucht!
Herzlich willkommen in meiner Bücherei und in unserem Leben«, sagt sie feierlich.
Lucy bekommt rote Wangen: »Sie haben auf mich gewartet?«
»Aber natürlich, Lucy! Du hast uns gefehlt! Und sag bitte du zu mir«, antwortet Anna. »Und jetzt kommt, wir trinken eine Tasse Tee zusammen und dann könnt ihr mir mit der neuen Bücherkis- te helfen.«
Wir lassen unsere nassen Schuhe neben dem
Eingang stehen und folgen Anna in den Winter- garten, dessen große Fenster einen atemberau- benden Blick in den Garten bieten. Die Rosen blühen wunderbar vor der efeubewachsenen alten Mauer und die Apfelbäume mit ihren knorrigen alten Ästen hängen schon voller kleiner grüner Äpfel.
Wir setzen uns auf die runden dicken Boden- hocker aus Schilfgras, die vor einer langen dunk- len Holzbank direkt vor dem Fenster platziert sind.
Der ganze Raum ist mit einem schönen Perser- teppich in Braun- und Blautönen ausgelegt und es gibt jede Menge Pflanzen. Und ein großes Bü- cherregal an der Wand gegenüber von der Fens- terwand natürlich. Auch von oben fällt Licht her- ein, weil das Dach in diesem Raum auch aus Glas besteht. So ist das hier der hellste Ort im ganzen Haus und Anna ist gerne da, wenn es draußen regnet. Und ich auch.
»Wow! Das Haus ist so cool«, staunt Lucy.
»Freut mich, wenn du dich hier wohlfühlst, Lucy. Du bist immer willkommen«, antwortet
Anna freundlich und schenkt uns beiden Kräuter- tee in unsere Blumentassen ein.
»Was ist dein Lieblingsbuch, Lucy?«, fragt sie dann.
»Mh. Da gibt es mehrere«, antwortet Lucy zö- gernd. »Alice im Wunderland hat mir gut gefallen.
Das habe ich auf Englisch gelesen«, sagt sie dann.
»Du kannst schon so gut Englisch?«, fragt Anna erstaunt.
Da schalte ich mich ein und erkläre ihr, dass Lucys Papa aus Amerika kommt und sie zweispra- chig aufwächst.
»Dann zeige ich dir später, wo die englischen Bücher stehen«, sagt Anna anerkennend.
»Mir hat Alice im Wunderland nicht so gut gefal- len«, sage ich zweifelnd.
»Das liegt daran, dass du es auf Deutsch gele- sen hast«, erklärt Anna. »Manche Bücher kann man einfach nicht so gut übersetzen, besonders wenn so viele Wortspiele darin vorkommen wie in diesem fantastischen Buch. Du solltest es in ein paar Jahren noch einmal mit der Originalversion versuchen, Luna.«
»Aber Der König von Narnia ist ganz toll, auch wenn es übersetzt ist«, erkläre ich bestimmt.
»O ja, das ist ein ganz wundervolles Buch«, stimmt Anna mir bei. »Darin kommt übrigens auch eine Lucy vor. Sie war die Erste, die an Nar- nia geglaubt hat und die Welt durch den Kleider- schrank betrat. Aslan hat sie dann zu Lucy der Tapferen gekrönt.«
»Ich wünschte, es würde Aslan wirklich geben«, sage ich leidenschaftlich.
»Es gibt ihn, Luna. Er ist der König über alle Welten und er ist gerecht und gut«, antwortet Anna geheimnisvoll.
Glaubt Anna wirklich, dass ein guter Löwe Kö- nig ist? Oder meint sie damit Gott?
Es wäre schon schön, wenn man so einen mäch- tigen, liebevollen und starken König zum Freund haben könnte.
»Kommt Mädels! Ich zeige euch meine neue Entdeckung«, fordert Anna uns auf.
Wir folgen ihr zu dem antiken Schreibtisch im Nebenzimmer, auf dem ein kleiner alter Koffer steht.
»Diesen alten Koffer habe ich gestern auf dem Dachboden gefunden. Ich habe gedacht, ich hätte schon alles entdeckt, was es in diesem Haus gibt, aber ich finde immer wieder neue Schätze.«
Langsam öffnet Anna den Deckel und wir se- hen, dass er voller alter Bücher ist.
»Ich habe noch nicht alles gelesen, aber es han- delt sich hier um Tagebücher von zwei Mädchen.
Sie sind Freundinnen. Die mit rotem Einband sind von einer Henriette und die blauen von einer Paula. Sie sind sorgfältig nummeriert und schon sehr alt. Ich habe keine Ahnung, wie sie auf mei- nen Dachboden gekommen sind. In meiner Fami- lie gibt es niemanden mit diesen Namen«, erklärt uns Anna geheimnisvoll.
Vorsichtig nehme ich eins von den roten Bü- chern in die Hand.
»Tagebuch von Henriette Rosenthal. 1926«, steht da in schöner Schreibschrift auf der ersten Seite.
Lucy hat eines von den blauen Büchern in die Hand genommen.
»Tagebuch von Paula Friedhelm. 1926«, steht da in ähnlicher Schrift.
»Wenn ihr wollt, dürft ihr in diesen Büchern le- sen. Ich werde inzwischen am Computer recher- chieren, ob ich etwas über die beiden herausfin- den kann«, schlägt Anna vor.
»O ja! Danke Anna«, sind wir beide ganz begeis- tert.
Wir nehmen die beiden Bücher mit und gehen nach vorn in das Zimmer mit den gemütlichen Ohrensesseln.
»Da ist ja ein Zimmer schöner als das andere«, staunt Lucy und macht es sich auf dem grauen Sessel gemütlich.
»Ja«, sage ich, »ich liebe diesen Ort«, und lasse mich mit einem zufriedenen Seufzen in den roten Sessel plumpsen.
6. Kapitel
Liebes Tagebuch beginne ich zu lesen …
Mein Name ist Henriette Rosenthal und ich bin vier- zehn Jahre alt. Ich wohne in einer Villa am Stadtrand von Salzburg. Mein Papa ist Arzt und meine Mama Hebam- me. Bis jetzt war mein Leben ziemlich langweilig, weil ich immer von einer Gouvernante oder einem Hauslehrer un- terrichtet worden bin und nicht viel Kontakt mit anderen Kindern gehabt habe, außer am Samstag in der Synago- ge. Ich hätte immer so gerne Geschwister gehabt!
Aber gestern ist unsere neue Köchin in die kleine Woh- nung im Parterre eingezogen und sie hat ihre Tochter mit- gebracht! Sie wird ihr in der Küche helfen.
Sie heißt Paula und ist genauso alt wie ich! Während ich Unterricht habe, muss sie in der Küche arbeiten, aber nachmittags können wir etwas gemeinsam unternehmen!
Gleich morgen werde ich ihr den Garten zeigen und mei- nen geheimen Platz hinter dem Schuppen.
Endlich habe ich eine Freundin! …
Ich bin so in meine Lektüre vertieft, dass ich gar nicht merke, wie die Zeit vergeht. Ich tauche ganz in Henriettes Welt ein, auch wenn sie in einer völlig anderen Zeit gelebt hat als ich. Durch ihre Worte kann ich mir aber gut vorstellen, wie es da- mals war. Es ist, als wäre Henriette eine Freundin von mir, die mich ihr Tagebuch lesen lässt.
Plötzlich steht meine Mama hinter meinem Ses- sel, schaut mir über die Schulter und sagt: »Was liest du denn da Interessantes?«
»Hallo Mama«, sage ich erstaunt. »Du hast mich erschreckt. … Das ist ein ganz altes Tagebuch, das Anna gefunden hat. Lucy hat auch eines.«
»Ja, Anna hat mir schon erzählt, dass sie einen neuen Schatz auf dem Dachboden gefunden hat und ihn mit euch teilt«, lacht Mama. »Aber jetzt ist es Zeit, nach Hause zu fahren. Papa und ich haben einen Eintopf gekocht und die Nachbarn zum Es- sen eingeladen. Ihr Kinder scheint euch ja schon prächtig zu verstehen und da haben wir gedacht,
wir essen heute alle gemeinsam«, erklärt Mama mit einem Zwinkern in den Augen.
»Au ja, cool«, sind Lucy und ich uns einig.
Wir springen aus unseren Ohrensesseln und strecken uns. Mein Nacken ist schon ganz steif vom Lesen. Ich kreise meinen Kopf und lasse mei- ne Wirbel knacken.
»Iih! Luna! Was machst du denn für Geräusche mit deinem Hals«, sagt Lucy entsetzt und lacht.
Da beginnt ihr Bauch ganz laut zu knurren.
»Dein Bauch ist ja noch lauter als mein Hals«, lache ich und Mama schiebt uns entschlossen Richtung Tür und sagt: »Für heute habt ihr genug gelesen. Die eine hat schon einen steifen Hals und die andere einen knurrenden Magen. Ihr kommt jetzt beide mit mir mit.«
»Tschüss Anna, und danke«, rufe ich ins Ar- beitszimmer hinter der Küche.
»Tschüss Mädels! Kommt jederzeit wieder«, antwortet Anna.
Aber sie sitzt ganz vertieft vor ihrem Bildschirm und merkt gar nicht richtig, wie wir uns aufmachen.
»Anna ist echt nett«, sagt Lucy. »Ich mag sie.«
»Ich auch«, sage ich voller Überzeugung und schlüpfe in meine roten Gummistiefel.
Da kommt Anna doch noch zu uns und umarmt uns zum Abschied.
»Das habe ich gehört! Ich mag euch beide auch sehr gern«, sagt sie.
»Miau«, tönt es da vorwurfsvoll hinter uns.
»Sokrates«, rufe ich. »Dich mögen wir natürlich auch«, und ich streichle ihm anerkennend seinen hübschen Kopf.
Mama lacht: »Jetzt müssen wir aber fahren! Die anderen warten schon auf uns.«
Unser Haus ist wie verwandelt mit so vielen Leuten im Wohnzimmer.
Bis jetzt haben wir nicht so oft Besuch gehabt.
Papa ist am liebsten allein in seiner Werkstatt und tüftelt vor sich hin, Mama zeichnet in ihrem Atelier, Michael sitzt vor seinem Computer und ich lese oder streune durch den Wald.
Aber heute ist richtig was los bei uns!
Ich glaube, das gefällt mir!
Wir sitzen alle am ovalen Esstisch vor dem gro- ßen Panoramafenster.
Draußen regnet es, aber drinnen ist es richtig gemütlich.
Es gibt Kartoffel-Gemüse-Eintopf mit den gu- ten asiatischen Gewürzen und Kokosmilch.
Das ist unser Familienlieblingsessen, seit wir auf den Philippinen waren, um Mamas Bruder zu besuchen, der seit ein paar Jahren dort lebt.
Lucys Oma hat einen Apfelkuchen als Nach- speise für uns gebacken und Andrew hat eine gro- ße Schachtel Vanilleeis mitgebracht.
»In Amerika isst man Kuchen mit Eis, nicht mit Schlagsahne! Das schmeckt viel besser«, klärt Mi- riam mich auf.
Sie hat recht!
Nach dem Essen bleiben die Erwachsenen am Tisch sitzen und reden, aber wir Kinder gehen nach oben und sehen uns unser neues Werkzeug an.
»Morgen wird das Wetter besser! Dann können wir anfangen«, sagt David voller Begeisterung.
Und dann planen und diskutieren wir, wie wir als Nächstes vorgehen wollen.
7. Kapitel
Ich schlafe gerne bei offenem Fenster und lasse mich von den Vögeln wecken.
Heute habe ich anscheinend länger geschlafen, denn ich werde von Lachen und Hundegebell ge- weckt.
Verschlafen reibe ich meine Augen und gehe zum Fenster, um zu sehen, woher der Lärm kommt: Miriam läuft mit Lilo im Garten herum.
Die Sonne scheint, der Wetterbericht hat recht gehabt, bemerke ich als Nächstes.
Schnell laufe ich ins Bad, um mich fertig zu ma- chen.
Michael schläft auch noch, aber ich stürme in sein Zimmer und öffne die Vorhänge.
»Aufstehen, Faulpelz! Die Sonne scheint! Wir
gehen in den Wald«, rufe ich voller Elan und Ta- tendrang.
Doch mein Bruder stöhnt nur, zieht sich die De- cke über den Kopf und murmelt: »Hau ab, ich bin müde«, bevor er wieder weiterschläft.
Ich seufze und laufe die Stiegen hinunter, um zu frühstücken.
Meine Eltern sind schon beide draußen am Ar- beiten und so mache ich mir nur eine Schüssel mit Cornflakes, bevor ich zu Lucy rüberlaufe.
Kurze Zeit später tauchen dann doch auch un- sere beiden Brüder auf.
Als wir vier uns endlich auf den Weg machen wollen, beginnt Miriam zu weinen: »Ich will auch mit in den Wald.«
Doch da kommt ihre Oma aus dem Haus und erinnert Miriam daran, dass sie doch heute mit ihr Kekse backen wollte.
Puh, Glück gehabt! Heute haben wir echt keine Zeit, um auf sie aufzupassen!
Schnell machen wir uns auf den Weg, bevor Mi- riam es sich anders überlegt und doch noch mit- will.
Als wir bei unserem Platz angekommen sind, suchen wir als Erstes geeignete tote Bäume, die David mit der Axt umhacken kann. Sein Vater hat uns gestern noch ein paar Sicherheitstipps gege- ben, damit sich auch keiner von uns verletzt.
Außerdem hat mein Papa mit dem Förster tele- foniert und gefragt, ob es in Ordnung ist, wenn wir ein Baumhaus im Wald bauen, und wir haben tatsächlich die Erlaubnis vom Forstamt bekom- men.
Der erste Baum ist schnell gefällt, es sind ja auch nur ganz dünne Fichtenstämme, die wir als Pfosten verwenden wollen. David hackt noch die kleinen Äste weg, damit wir wirklich nur den Stamm haben.
Michael hat einstweilen schon ein kleines Loch neben den ersten Baum gegraben und gemeinsam heben wir unseren ersten Pfosten da hinein.
Ich habe schon eine lange Schnur von der neuen Paracord-Rolle mit meinem Taschenmesser abge- schnitten und wickle sie geschickt um den Pfos- ten und den Baum herum.
Gestern Abend haben wir noch ein YouTube-Vi-
deo angeschaut, mit dessen Hilfe man die Kno- tentechnik lernt, und haben dann auch gleich noch alle an Michaels Bettpfosten geübt!
Es war echt lustig, den Besen an sein Bett zu binden! Auch wenn wir viel zu wenig Platz hatten und uns gegenseitig im Weg waren, war es lustig und wir haben viel gelacht!
Heute, mit echtem Baum und echtem Pfosten, geht es sogar leichter als gestern.
Die erste Stütze für unser Baumhaus steht!
Michael ist schon dabei, den nächsten Pfosten vorzubereiten, und wir helfen ihm dabei.
Es ist ganz schön anstrengend, so ein Holz durchzusägen!
Zwischendurch gehen wir kurz nach Hause, um Mittag zu essen. Doch gleich danach geht es wie- der in den Wald, um an unserem Baumhaus wei- terzubauen.
Am Nachmittag haben wir sogar schon die tra- genden Querbalken montiert, auch wenn es noch einiges an Mühe gekostet hat, das Ganze auf die gleiche Höhe zu bringen. Dadurch, dass wir in Hanglage bauen, müssen die unteren Pfosten
länger sein als die oberen, weshalb wir die obe- ren dann noch mal haben nachkürzen müssen … Aber wir haben es geschafft!
Plötzlich landet ein Kiefernzapfen neben mei- nen Füßen. Aber der ist nicht vom Baum gefallen, den hat eindeutig jemand geworfen!
Erstaunt schaue ich mich um und höre nur mehr ein Kichern und jemanden weglaufen.
»He! Was soll das?«, rufe ich.
»Da wirft jemand mit Zapfen nach uns«, be- schwere ich mich bei den anderen.
»Schau mal, Luna«, sagt Lucy da plötzlich. »In dem Zapfen steckt ein Papier! Ich glaub, das ist eine Botschaft.«
Neugierig kommen nun auch die Jungs näher, als Lucy ein klein zusammengefaltetes Stück Pa- pier aus dem Kiefernzapfen herausholt.
»Was steht da? Lies vor«, sage ich ungeduldig.
Wollt ihr einen Schatz finden, dann folgt den Pfeilen.
»Cool! Eine Schatzsuche«, rufe ich begeistert aus.
»Das haben bestimmt Miriam und Oma für uns gemacht«, freut sich Lucy. »Kommt!«
Schnell packen wir unser Werkzeug zusammen und machen uns auf den Weg. Wir klettern nach oben, zum Weg. Aus der Richtung ist auch die Waldpost gekommen.
Oben angekommen sehen wir auch schon einen riesigen Pfeil aus Ästen am Boden liegen, der uns nach links weist. Neugierig gehen wir weiter und halten die Augen nach weiteren Hinweisen offen.
Schon bald entdecken wir den nächsten Pfeil, der einen kleineren Weg in den Wald hineinführt.
Das macht Spaß!
Eine halbe Stunde und viele Pfeile später stoßen wir wieder auf den großen Weg zurück, ganz nah beim Holzstapel hinter unserem Haus.
Direkt vor dem Holzstapel ist ein großes X in den weichen Boden geritzt.
»Der Schatz muss hier irgendwo in der Nähe sein«, ruft Lucy aufgeregt.
Als wir einen Blick hinter den Holzstapel wer- fen, sehen wir schon Miriam und ihre Oma auf einer kleinen Picknickdecke sitzen, eine große Keksdose zwischen sich.
»Ihr habt uns gefunden«, quietscht Miriam vol-
ler Begeisterung, springt auf und klatscht in die Hände.
Wow! Miriams Oma ist cooler, als ich gedacht habe!
»Die Schatzsuche war spitze«, bedanken wir uns bei den beiden.
»Und die Kekse sind eine super Belohnung«, sagt mein Bruder und steckt sich einen in den Mund.
»Miriam und ich haben das heute Vormittag zusammen ausgeheckt. Damit nicht nur ihr die coolen Ideen und Abenteuer habt«, erklärt uns die Oma.
8. Kapitel
Am nächsten Tag sind wir vier dann fleißig beim Zaunstreichen. Die Jungs teilen sich einen weißen Farbeimer und beginnen auf der linken Seite, wir Mädels streichen mit unserem Farbeimer auf der rechten Seite. Gut, dass ich Linkshänderin bin und Lucy Rechtshänderin! So kommen wir uns nicht dauernd in die Quere und können nahe bei- einander arbeiten.
Die Jungs, beide Rechtshänder, tun sich da an- scheinend schwerer! Es dauert eine Weile, bis sie herausfinden, wie es am besten geht.
Andrew beobachtet uns noch ein paar Minu- ten, um zu sehen, ob wir die Farbe auch nicht zu dick oder zu dünn aufstreichen, bevor er ins Haus geht, um die restlichen Regale zu montieren.
»Ich bin schon so gespannt, wie das Tagebuch von Henriette weitergeht«, flüstere ich Lucy zu.
»Ich auch! Paula hat ihr Tagebuch anscheinend von Henriette geschenkt bekommen, genauso wie ihr Schreibwerkzeug. Die zwei hatten ganz unter- schiedliche Familien, aber sie scheinen ziemlich dicke Freundinnen geworden zu sein«, erklärt mir Lucy.
Die Sonne scheint immer stärker und langsam wird es richtig heiß. Es ist eben August! Nach ei- ner Stunde kommt Lisa, Lucys Mama, mit einem Krug Eistee und vier Gläsern zu uns in den Gar- ten. »Zeit für eine Pause«, ruft sie.
Eigentlich wollten wir nach der Trinkpause noch weiterstreichen, aber es ist einfach zu heiß geworden. So verschließen wir die Farben und räumen sie in die Garage, wo wir auch die Pinsel auswaschen und zum Trocknen neben das Wasch- becken dort legen.
Andrew hat aus dem Fenster gerufen, dass es okay ist, wenn wir morgen weitermachen.
Er fährt mit uns und Miriam zum Teich schwim- men!
Oma Martina und Lisa bereiten einen Picknick- korb für uns vor und mein Bruder und ich laufen schnell nach Hause und packen unsere Bade- sachen und unsere Wasserflaschen in unsere Rucksäcke.
Wir freuen uns alle schon voll auf eine Abküh- lung!
Der Teich ist wunderschön, weil er mitten im Wald liegt. Man muss aber genau wissen, wo man fahren muss. Einfach so findet man den nicht. Das ist aber auch ganz gut, denn sonst würden viel- leicht mehr Menschen zum Baden hierherkom- men. So gehen die meisten Leute ins Schwimm- bad oder zu den beiden anderen Teichen in der Nähe und wir haben unseren oft fast nur für uns.
Andrew war noch nie da, aber Michael und ich lot- sen ihn von der Landstraße auf den Forstweg, den man bis zu dem kleinen Gasthaus am Teich auch mit dem Auto benutzen darf.
Ganz langsam rumpelt Andrew den VW-Bus über Stock und Stein und fragt zweifelnd: »Seid ihr sicher, dass man hier fahren darf und dass das der richtige Weg ist?«
Aber nach der nächsten Kurve sind wir auch schon da. Außer uns parkt nur ein anderes Auto hier.
»Wow! Ist das schön hier, Kids«, staunt Andrew, als er aus dem Auto steigt. »Und wir müssen nicht einmal etwas dafür bezahlen, dass wir hier schwimmen dürfen?«
»Nein, Eintritt kostet es nur in den Schwimm- bädern. Die Seen und Teiche sind gratis«, erkläre ich ihm und gehe voran.
Wir haben ein Stück weiter links vom Gasthaus unseren Stammplatz, beim großen Felsen, zwi- schen den Birken. Dort hängen wir immer unsere Hängematten auf.
Unsere Freunde beobachten uns voller Neid, wie wir flink unsere Hängematten montieren, während sie ihre Picknickdecke am Boden aus- breiten.
»Ihh … der Boden ist ja ganz nass«, jammert Mi- riam, als sie sich die Schuhe auszieht.
»Das liegt bestimmt daran, dass es gestern so viel geregnet hat«, erklärt ihr Andrew.
»Ich will auch so eine Hängematte«, fordert Mi- riam.
»Jetzt ziehen wir uns alle um und gehen ins Was- ser, ok? Mir ist schon ganz heiß«, lenkt Andrew seine Tochter ab.
»Du darfst später zu mir in die Hängematte, ok?«, füge ich noch hinzu.
Das beruhigt Miriam und sie zieht sich schnell aus und steigt in ihren Badeanzug.
Als wir endlich alle unsere Badesachen anhaben und uns das Gesicht und die Schultern mit Son- nenmilch eingecremt haben, laufen wir ins Was- ser. Das Ufer ist sandig, aber nach ein paar Schrit- ten wird es schlammig. Michael und ich sind das gewohnt und haben die anderen nicht vorgewarnt.
»Iih! Das ist ja voll schlammig«, kreischt Lucy und macht ein paar Schritte zurück.
»Das ist nicht schlimm, Lucy«, ermutige ich sie.
»Mach ein paar schnelle Schritte und dann kannst du ja gleich losschwimmen und spürst den Boden nicht mehr.«
Es dauert ein paar Minuten, bis Lucy sich über- winden kann und in den Schlamm steigt, aber sie will nicht die Einzige sein, die auf dem Trockenen bleibt.
Andrew hat Miriam ins Wasser getragen und die schwimmt jetzt vergnügt mit ihren Schwimm- flügeln herum. Die Jungs sind schon zum Floß geschwommen, das in der Mitte vom Teich knapp unter der Wasseroberfläche treibt, und haben ih- ren Spaß.
Da wollen wir auch hin!
Das Floß ist total witzig: Wenn sich alle auf eine Seite stellen, ragt es auf der anderen Seite aus dem Wasser und irgendwann kippt man dann weg und das Floß schnellt aus dem Wasser und saust da- von. Das macht einen Riesenspaß!
Immer wieder tauchen wir das Floß unter und schwimmen ihm dann hinterher.
»Ich brauche eine Pause«, lache ich. »Lasst uns einfach mal eine Weile nur auf dem Floß sitzen, ok?« Und so setzen wir uns auf das Floß, alle bis zur Brust im Wasser, und ruhen uns aus.
Aber kaum bin ich zu Atem gekommen, begin- nen die Jungs auch schon wieder damit, das Floß unterzutauchen, und mir bleibt nichts anderes übrig, als mitzumachen und aufzustehen, sonst wäre ich gleich mit dem Kopf unter Wasser.
Das ist ein Gekreisch und Gejohle!
Eine Stunde später schwimmen wir völlig er- schöpft, aber glücklich ans Ufer.
Andrew und Miriam haben schon angefangen, den Picknickkorb auszupacken, und wir sind auch total hungrig!
Wir ziehen uns schnell trockene Sachen an und dann nehmen wir alle auf der Picknickdecke Platz.
Mmh lecker! Es gibt Sandwiches gefüllt mit Mayonnaise, Käse und Salat. Dazu Chips und Gemüsesticks aus Karotten, Gurken und Paprika und dazu noch gekochte Eier und Äpfel.
Zufrieden mampfen wir vor uns hin und lassen den Blick übers Wasser schweifen, das jetzt still und friedlich vor uns liegt.
Die Wasserläufer trauen sich wieder aus ihrem Versteck, nachdem sich die Wellen gelegt haben, und ein paar Libellen huschen übers Wasser oder landen zum Rasten auf einem Schilfblatt.
Es ist total friedlich und schön.
»Schau mal, Daddy, da sind Heidelbeeren«, sagt Lucy plötzlich aufgeregt.
»Ja, die findest du hier überall. Das ist total praktisch«, erkläre ich ihnen.
Und so machen wir drei Mädels uns nach dem Essen auf, um Heidelbeeren zu pflücken. Miriam hat drei kleine Sandspieleimer mit, die wir füllen wollen. Sie und ich haben unsere Eimerchen auch schnell gefüllt, während Lucys Kübel bei einem Vergleichscheck nur bodenbedeckt ist.
»Tut mir leid«, sagt sie mit gesenktem Blick. »Ich konnte einfach nicht widerstehen und irgendwie sind die meisten in meinem Mund gelandet.« Dann streckt sie uns ihre blaue Zunge raus und lacht.
»Du Gaunerin«, rufe ich und wir laufen ihr la- chend hinterher.
Miriam halte ich die ganze Zeit fest an der Hand.
Schließlich will ich nicht, dass sie uns noch ein- mal verloren geht.
Wieder bei unserem Platz angekommen, scheu- chen wir die Jungs aus den beiden Hängematten, jetzt sind wir dran!
Miriam darf sich zu mir kuscheln und Lucy macht es sich in Michaels Hängematte bequem, die gleich daneben hängt.
Andrew schläft die ganze Zeit auf der Picknick- decke am Boden, die Jungs laufen zur Wiese und spielen Ball und wir drei Mädels schaukeln und quatschen.
Als die Jungs dann kurze Zeit später wieder ihre Badesachen anziehen, gehen wir Mädels auch noch mal schwimmen, bevor wir uns wieder auf den Heimweg machen müssen.
»Was ist Leute? Sollen wir heute Abend noch ein Lagerfeuer im Garten machen und S’mores essen?«, fragt Andrew auf dem Heimweg.
»Was sind denn S’mores?«, wollen mein Bruder und ich gleichzeitig wissen.
»Das müsst ihr unbedingt probieren! Ihr werdet es lieben«, erklärt Lucy voller Überzeugung.
9. Kapitel
Nach dem Abendessen laufen Michael und ich gleich wieder rüber zu den Nachbarn.
Sie haben auf uns gewartet, damit wir das Feuer gemeinsam machen können.
In der Ecke, ganz nah an unserem Grundstück, gibt es einen Lagerfeuerplatz, nicht zu nah an den Bäumen. Es ist einfach ein Kreis aus großen Stei- nen mitten auf dem Rasen.
Andrew legt drei große Holzstücke in die Mitte und dann beginnt er, von einem der Holzstücke kleine Spalten mit seinem Taschenmesser abzu- ziehen.
»Wofür ist das?«, frage ich neugierig.
»Wir brauchen kleinere Holzstücke oben drauf, damit das Feuer gut zu brennen beginnt. Wenn
ich die Flamme an ein großes Holzstück halte, dauert es viel länger, bis es richtig brennt.«
»Ja klar, eigentlich logisch«, antworte ich schnell. »Aber tut man die kleinen Stücke nicht eigentlich unter das große Holz?«
»Stimmt, Luna, so hat man das früher immer gemacht. Aber es gibt neue Untersuchungen, die beweisen, dass es besser ist, wenn man von oben anfeuert. Dann raucht es nicht so viel und das Feuer kommt tatsächlich schneller in Gang«, er- klärt er.
»Wer von euch mag probieren, mit meinem Feuerstein Feuer zu machen?«
Jeder von uns hat ein paar Versuche, denn es ist gar nicht so leicht! Es sprühen zwar jedes Mal Funken, wenn man mit dem Messer über den Feu- ersteinstab reibt, aber meistens nicht in die rich- tige Richtung, oder es glüht nur kurz und erlischt dann wieder.
»Ok«, lacht Lucys Papa, als unser Frust nach 15 Minuten groß genug ist, »dann nehmen wir halt doch ein Streichholz.«
Innerhalb kürzester Zeit lodert ein kleines Feuer
und beginnt sich dann langsam nach unten durch- zufressen. Andrew legt immer wieder dünne Äste nach, um das Feuer am Brennen zu halten, solan- ge die dicken Holzscheite noch nicht richtig Feuer gefangen haben.
Es ist echt gemütlich. Wir sitzen alle rund um das Lagerfeuer und starren in die Flammen.
Langsam wird es dämmrig. Durch die Wälder ringsherum scheint es schneller Nacht zu werden, weil die Bäume den Sommerhimmel verdunkeln.
Lucy und David haben schon vor dem Feuerma- chen lange dünne Äste aus dem Haselnussstrauch geschnitten oder gesägt und jetzt machen wir uns alle daran, sie mit unseren Taschenmessern an- zuspitzen. Gut, dass wir alle ein eigenes Taschen- messer haben! Außer Miriam natürlich, die ist noch zu klein dafür. Aber David schnitzt einen ex- tra Stock für sie und verziert ihn sogar mit einem schönen Muster.
Als das Feuer richtig gut brennt, aber nicht mehr zu hoch ist, kommen Lisa und die Oma von Lucy auch zu uns in den Garten. Sie holen sich zwei Gartenstühle und setzen sich zu uns ans Feuer.
»Hast du die Marshmallows und die Schoko- kekse mit, Mama?«, fragt Miriam ungeduldig.
»Aber klar, Schatz.« Lisa holt die leckeren Zuta- ten aus ihrem Stoffbeutel.
Michael und ich sind schon gespannt. Marsh- mallows und Schokokekse sind auf jeden Fall le- cker!
Jeder von uns nimmt ein weißes großes Mar- shmallow und spießt es vorne auf seinen spitzen Stock. Dann halten wir die Süßigkeit ganz nah ans Feuer oder besser noch an die Glut und drehen sie so lange, bis sie hellbraun geröstet ist. Aber man muss gut aufpassen, dass die Marshmallows nicht schwarz werden und verkohlen!
Meins sieht sehr gut aus.
Lucys Mama steht schon mit zwei Schoko- keksen bereit. Als ich ihr meinen Stock hinhal- te, quetscht sie das Marshmallow zwischen die beiden Schokokekse und zieht es vorsichtig von meinem Stock herunter. Der Stock ist noch ganz klebrig, aber das meiste ist runtergegangen und ist jetzt eine klebrige, weiche, warme Masse zwi- schen den Keksen und bringt die Schokolade zum
Schmelzen. Ehrfürchtig nehme ich den S’more aus ihrer Hand entgegen.
O Mann, ist das gut!
»Das ist das Beste, was ich je gegessen habe«, sage ich voller Entzücken mit vollem Mund.
So knusprig, lecker, süß und weich! Einfach herrlich!
»Kann ich noch einen haben?«
Lucy lacht: »Genau deswegen heißen sie S’mo- res.«
»Wieso? Was bedeutet ›S’mor‹ denn?«
»Das ist ein Slangausdruck für some more, weil man einfach nicht genug davon bekommen kann.«
»Das stimmt! Lustiger Name! Wir könnten sie auf Deutsch ja Mehr nennen«, überlege ich. »Kann ich noch Mehr haben, bitte?«
Alle lachen und Oma Martina wirft mir noch ein Marshmallow zu.
Als die Schokokekse aus sind, rösten wir noch jeder ein Marshmallow und essen es ohne Keks
… aber das schmeckt lange nicht so gut wie ein S’more!
Unsere Hände und Gesichter sind ganz klebrig und verschmiert und Oma Martina hält uns den Gartenschlauch, damit wir uns waschen können.
Andrew hat inzwischen seine Mandoline ge- holt und zupft eine nette, einfache Melodie da- rauf. David hält seinen Stock ins Feuer, bis er vorne brennt, bläst ihn aus und reicht ihn an Mi- chael weiter. »Jack’s alive«, sagt er.
»Was?«, fragt mein Bruder ahnungslos, als er den Stock entgegennimmt.
»Du musst auf den Stock blasen. Wenn er zu glühen beginnt, darfst du ihn weitergeben und Jack’s alive sagen«, erklärt David.
Also macht Michael, was David ihm gesagt hat, und reicht den Stock dann an mich weiter.
Schnell blase ich auch auf den Stock und freue mich, als er wieder hell zu glühen beginnt.
So wandert der Stock von einer Hand zur ande- ren, doch als er wieder bei David ankommt, glüht er nicht mehr, egal wie fest dieser auf ihn pustet.
»Damit hat David verloren«, erklärt uns Miriam schadenfroh.
»Ok, jetzt fang ich an! Schauen wir mal, ob wir
es diesmal länger schaffen als eine Runde«, erklä- re ich voller Eifer.
Als wir mit unserer zweiten Stöck- chen-Spiel-Runde fertig sind, bei der Miriam ver- liert, was ihr gar nicht gefällt, macht Andrew uns auf den Nachthimmel aufmerksam: »Schaut euch mal die Sterne an, Kids! Ist das nicht wunder- schön? In der Stadt haben wir nie so viele Sterne sehen können.«
»Schaut, da ist der große Wagen«, erkläre ich den anderen.
»Wo?«, will Miriam wissen. »Ich sehe da keinen Wagen.«
»Da drüben! Das Sternbild sieht eigentlich aus wie eine Bratpfanne, wenn man die Punkte ver- bindet. Siehst du?«
»Ja! Eindeutig eine Bratpfanne«, pflichtet Miri- am mir bei. »Und wo sind die Fischstäbchen? Ah, ich habe sie.«
Sofort finden auch die anderen alle möglichen Sternenkonstellationen, die man in die Pfanne hauen könnte: Würstchen, Steak, Forelle, Zucchi- ni, …