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Archiv "Die apparative Rehabilitation bei der angeborenen Querschnittlähmung" (05.10.1989)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

UR FORTBILDUNG

Patienten mit einer angeborenen Querschnittlähmung sind in Ab- hängigkeit vom Ausprägungsgrad der Lähmung zur Vertikalisierung und Fortbewegung auf die Benut- zung von Orthesen angewiesen.

Die Verordnung des jeweiligen Orthesentypes hat sich am Aus- maß der Lähmung und am funk- tionellen Zustand der Restmusku- latur zu orientieren. Die Einfüh- rung von Kunststoffmaterialien, leichteren Metall-Legierungen, sowie die Weiterentwicklung der mechanischen Bauelemente eröff- nen verbesserte Möglichkeiten in der Orthesenverordnung.

T

rotz einer intensivierten Schwangerschaftsvorsor- ge ist die angeborene Querschnittlähmung ein relativ häufiges Krank- heitsbild. Zwar liegen exakte epide- miologische Erhebungen nicht vor.

Man nimmt jedoch an, daß die Häu- figkeit eines Neuralrohrdefektes et- wa zwischen 0,7 und 2,3 pro 1000 Geburten liegt. Wieviele Menschen mit einer angeborenen Querschnitt- lähmung gegenwärtig in der Bundes- republik Deutschland leben, ist nicht bekannt In der hiesigen Klinik wur- den von 1972 bis heute zirka 1600 Patienten neu vorgestellt. Seit 1979 erfolgt deren Behandlung in einem Aus der Stiftung Orthopädische Universi- tätsklinik Heidelberg (Direktor: Professor Dr. med. Horst Cotta), Ruprecht-Karls-Uni- versität Heidelberg

speziellen, der Orthopädischen Kli- nik angegliederten Spina-Bifida-Mo- dellzentrum.

Die Behandlung der angebore- nen Querschnittlähmung ist ein in- terdisziplinäres Problemfeld, in dem Pädiater, Urologen, Orthopäden und Psychologen gefordert sind. Durch verbesserte Therapiemöglichkeiten in allen beteiligten Fachgebieten sind in den letzten Jahrzehnten die Lebenserwartung und die Lebens- qualität dieser Patienten ständig ge- stiegen.

Aufgabe des Orthopäden in die- sem Rahmen ist zum einen die Ver- hinderung von Kontrakturen und Gelenkfehlstellungen, zum anderen die Förderung von Restfunktionen der Stütz- und Bewegungsorgane.

Eine besondere Rolle spielen hierbei die Aufrichtung und Fortbewegung der Patienten, da sie sowohl für die körperliche wie auch für die psychi- sche Entwicklung von großer Bedeu- tung sind. In Abhängigkeit von der Lähmungshöhe sind eine Steh- und Gehfähigkeit oft nur durch eine Stützapparateversorgung (Steh- und Gehorthesen) zu gewährleisten.

Herkömmliche thera- peutische Möglichkeiten

Bis in die heutige Zeit hinein ist der Schienen-Schellen-Apparat in Kombination mit orthopädischem Schuhwerk und fakultativer Becken- fixierung die gebräuchlichste Form der orthetischen Steh- und Gehver- sorgung. Diese Apparate haben je- doch gravierende Nachteile:

Abbildung la: Reziproker Gehapparat: In- dividuell angefertigte Polypropylen-Bauteile fassen Becken, Oberschenkel und Unter- schenkel mit Fuß. Über dem Fußteil kön- nen normale Kaufschuhe getragen werden Doppelläufige Bowdenzüge am Hüftgelenk erzwingen den reziproken Gangablauf. Die Kniesperre wird über ein vor dem Ober- schenkel laufendes Zugseil gelöst.

Das Eigengewicht des Appara- tes beträgt oftmals bis zu 20 Prozent des Körpergewichts. Die innervier- te Restmuskulatur muß damit nicht nur ausgefallene Muskelfunktionen kompensieren, sondern zusätzlich noch ein erhebliches Apparatege- wicht bewältigen. Eine unphysiologi- sche Gelenkmechanik behindert ein flüssiges alternierendes Gehen.

Die Orthesen sind außerdem umständlich anzulegen, so daß sie oft nur gelegentlich und mit zuneh- mendem Lebensalter gar nicht mehr benutzt werden. Ganztägige Roll- stuhlbenutzung mit all ihren Nach-

Die apparative

Rehabilitation bei der angeborenen

Querschnittlähmung

Claus Carstens, Marcus Schiltenwolf und Joachim Pfeil

A-2846 (50) Dt. Arztebl. 86, Heft 40, 5. Oktober 1989

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Abbildung 1b: Unter stationären Bedingun- gen werden die Eltern in die Gangschulung des Kindes und in die Handhabung des Ap- parates eingewiesen.

An der Hand des Va- ters unternimmt ein

1 1/2jähriges Mädchen mit einer kompletten thorakalen Lähmung seine ersten Schritte.

teilen ist die unausweichliche Folge.

So stößt letztendlich die Versorgung herkömmlicher Schienen-Schellen- Apparate auf eine unzureichende Tragecompliance.

Demgegenüber eröffnen die Einführung von Kunststoffmateria- lien, leichteren Metall-Legierungen sowie die Weiterentwicklung der me- chanischen Bauelemente verbesserte Möglichkeiten der orthetischen Ver- sorgung von Patienten mit angebore- ner Querschnittlähmung.

Die Weiterentwicklung der Or- thesenversorgung verbessert die bis- herigen Apparate entscheidend:

I

.

Orthesenversorgung

heute

Gewichtsreduktion:

Während herkömmliche Schie- nen-Apparate in Abhängigkeit von der Körpergröße ein Gewicht von et- wa 3 bis 8 kg aufweisen, wiegen die neu entwickelten Orthesen zwischen 2 und 6 kg und sind somit um zirka 25 Prozent leichter. An Kunststoff- materialien werden Polyester, Poly- äthylen und Polypropylen verwen- det. Die mechanischen Gelenkteile bestehen überwiegend aus V2A- Stahl. Zudem können statt der bis- her zwingend notwendigen orthopä- dischen Schuhe über ein speziell an- gepaßtes Fußteil normale Kaufschu- he getragen werden.

Funktionsgewinn:

Die Elemente eines funktionel- len Zugewinns sind:

a) Die Einführung einer • re- ziproken Kraftübertragung mittels Bowdenzügen, welche eine größere Schrittlänge bei vermindertem Kraft- aufwand erlauben.

b) Die Verwendung dreidimen- sional beweglicher Hüftgelenke.

Abbildung 2, a und b: Oberschenkelorthe- se mit Beckenteil: Ein ventraler Becken- gurt verhindert eine Hyperlordosierung bei lähmungsbedingt unzureichender Becken- aufrichtung. Die Beckengelenke der Orthe- se sind dreidimensional beweglich. Ent- sprechend dem Funktionszustand der Restmuskulatur kann das Kniegelenk durch Fallsperre gesichert (a) oder durch ein Scharnier (b) freigegeben werden.

Dt. Ärztebl. 86, Heft 40, 5. Oktober 1989 (53) A-2849

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Abbildung 3a: Oberschenkelorthese in der seitlichen Ansicht: Das Bewegungs- ausmaß des oberen Sprunggelenkes ist individuell einzustellen. Das Kniegelenk ist über ein Scharniergelenk frei beweglich.

Diese Hüftgelenke lassen über das bisherige zweidimensionale Bewe- gungsausmaß hinaus auch rotatori- sche Bewegungen zu,

c) Sprunggelenke, welche bei Erhaltung einer geringen Restbe- weglichkeit den Funktionszustand von Knie- und Hüftgelenken berück- sichtigen. Erstmals wird hierduch ein Abrollvorgang bei Orthesenträgern möglich.

I Indikation zur differenzierten Orthesenversorgung

Die Verordnung des jeweiligen Orthesentypes hat sich am Ausmaß der Lähmung und am funktionellen Zustand der Restmuskulatur zu orientieren. Bei einem thorakalen Lähmungsniveau mit noch ausrei- chender Rumpfstabilität, jedoch völ- ligem Ausfall der Beinmotorik ein- schließlich aktiver Hüftbewegung, ist die Indikation für einen Gehapparat mit reziproker Kraftübertragung zwischen Schwung- und Standbein

(reziproker Gehapparat) gegeben (Abbildungen la und b).

Bei dieser Orthese sind die me- chanischen Hüftgelenke durch Bow- denzüge miteinander verkoppelt. Ei- ne Rumpfrückneigung erzwingt auf diese Weise die Beugung des Schwungbeines und gleichzeitig die Überstreckung des Standbeines. Die beidseitige Kraftübertragung vergrö- ßert die Schrittlänge und ökonomi- siert den Gangablauf.

Sind beim hochlumbalen Läh- mungsniveau die wesentlichen Hüft- beuger (Iliopsoas, Rectus Femoris) funktionell einsetzbar, die Hüft- strecker (ischiokrurale Muskulatur, Glutaeus maximus) jedoch gelähmt, so muß, wie auch beim reziproken Apparat, das Becken zur Vermei-

Abbildung 3b: Bei tieflumbalen

Lähmungen wird durch die Oberschenkel- orthese eine Valgusbelastung des Kniegelenkes reduziert.

dung einer Hyperlordosierung durch ein Orthesenbeckenteil stabilisiert werden. In diesen Fällen ist die Ver- sorgung mit einem Apparat indiziert, welcher in seinen wesentlichen Grundzügen von Dr. Ferrari in Ita- lien entwickelt worden ist (Abbildun- gen 2a und b). Unter Fixation des

Beckens erlaubt dieser Apparat die Ausnutzung der aktiven Hüftbeu- gung zur Fortbewegung. Wesent-

Abbildung 4: Unterschenkelorthese zum Er- satz des gelähmten Triceps surae.

liches Bauelement ist ein Beckenteil, welches Bewegungen in sämtlichen Körperachsen zuläßt. Auf diese Wei- se kann das Schwungbein während des Vorbringens rotieren. Der Gang- ablauf wird so harmonisiert und wirkt weniger roboterhaft.

Auf das oben beschriebene Bek- kenteil kann verzichtet werden, wenn bei mittleren bis tiefen lumba- len Lähmungen Quadriceps femoris und die ischiokrurale Muskulatur das Becken ausreichend stabilisie- ren. In diesem Fall genügt die Ver- ordnung einer Oberschenkelorthese.

Über eine Scharnierbeweglichkeit im Kniegelenk können eine aktive Knie- beugung und -streckung entfaltet werden. Der Orthesenoberschenkel- teil verhindert die Seitabweichung des Kniegelenkes im Varus- oder A-2850 (54) Dt. Ärztebl. 86, Heft 40, 5. Oktober 1989

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Abbildung 5: Ein zwei- jähriges Kind mit einer kompletten Lähmung unterhalb L 3 unter- nimmt erste Gehversu- che am Rollator mit ei- ner Oberschenkelor- these mit Beckenteil, Die Einführung von Kunststoffmaterialien und die Verwendung von leichteren Bauele- menten ermöglicht die Entwicklung einer neu- en Generation von Or- thesen für Patienten mit einer angeborenen Querschnittlähmung.

Valgussinne (Abbildungen 3a und b).

Bei hochsakralen Lähmungen muß die Orthese lediglich die ausgefalle- ne Funktion des Triceps surae erset-

zen. Unterschenkelfußschienen sind ausreichend, um eine Hackenfuß- stellung zu korrigieren. Innerhalb gewisser Freiheitsgrade kann die ge-

lenkige Verbindung zwischen Unter- schenkel und Fußteil im Sinne eines oberen Sprunggelenkes geöffnet werden (Abbildung 4).

Schlußbemerkung

Mit den vorgestellten Gehappa- raten ist eine dem jeweiligen Funk- tionszustand des Kindes angepaßte Orthesenversorgung möglich. Die im Vergleich zu herkömmlichen Appa- raten leichteren Werkstoffe und die am physiologischen Bewegungsab- lauf orientierten Bauelemente ge- statten ihren Einsatz schon in den frühen Vertikalisierungsphasen des Kindes. Wir sind daher inzwischen zu einer Frühversorgung übergegan- gen. Demgemäß werden die Orthe- sen schon dann verordnet, wenn sich das Kind aufrichten will, über eine entsprechende Rumpfstabilität ver- fügt und an der weiteren Vertikali- sierung lediglich durch den Funk- tionszustand der gelähmten Musku- latur gehindert ist. Auf diese Weise werden die körperliche Reifung des behinderten Kindes entwicklungsge- recht gefördert und das gemeinsame Heranwachsen gelähmter und nicht- gelähmter Kinder ermöglicht.

Es ist zu erwarten, daß sich hier- durch auf weitere Sicht die Bereit- schaft zum Tragen von Gehappara- ten auch im Jugendlichen- und Er- wachsenenalter erhöht. Inwieweit auch andere Probleme, wie die läh- mungsbedingte Osteoporose oder Kontrakturen, günstig beeinflußt werden, bleibt abzuwarten.

Anschrift der Verfasser:

Dr. med. Claus Carstens Oberarzt

Dr. med. Marcus Schiltenwolf Assistenzarzt

Priv.-Dozent Dr. med. Joachim Pfeil Oberarzt

Stiftung Orthopädische Universitätsklinik

Schlierbacher Landstraße 200a 6900 Heidelberg

Dt. Ärztebl. 86, Heft 40, 5. Oktober 1989 (57) A-2853

Referenzen

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