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50 Jahre Psychiatriereform in der Region Hannover – ein Versuch, psychiatrische Versorgung gut zu organisieren

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sozialpsychiatrische informationen

3/2017 – 47. Jahrgang

ISSN 0171 - 4538

Verlag: Psychiatrie Verlag GmbH, Ursulaplatz 1, 50668 Köln, Tel. 0221 167989-11, Fax 0221 167989-20 www.psychiatrie-verlag.de, E-Mail: verlag@psychiatrie.de Erscheinungsweise: Januar, April, Juli, Oktober

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15 Euro Versandkostenpauschale. Das Abonnement gilt jeweils für ein Jahr. Es verlängert sich auto- matisch, wenn es nicht bis zum 30.9. des laufenden Jahres schriftlich gekündigt wird. Bestellungen nimmt der Verlag entgegen.

Redaktionsanschrift: beta89, Günther-Wagner-Allee 13, 30177 Hannover Redaktionssekretariat: Peter Weber

Tel. 0511 1238282 , Fax 0511 1238299 E-Mail: si@psychiatrie.de

Redaktion:

Peter Brieger, Kempten Michael Eink, Hannover Hermann Elgeti, Hannover Uwe Gonther, Bremen Silvia Krumm, Ulm

Klaus Nuißl, Regensburg Sibylle Prins, Bielefeld Kathrin Reichel, Berlin Ulla Schmalz, Düsseldorf Annette Theißing, Hannover Samuel Thoma, Berlin

Sonderdruck

50 Jahre Psychiatriereform in der Region Hannover – ein Versuch, psychiatrische Versorgung gut zu organisieren 1

Zusammenfassung Der Beitrag beschreibt den Verlauf der Psychiatriereform am Beispiel einer großen Versorgungsregion und verdeutlicht die nachteiligen Wirkungen einer zunehmenden Kommerzialisierung der psychiatrischen Arbeit. Der Reformprozess begann 1967 nach der Berufung von Karl Peter Kisker auf den psychiatrischen Lehrstuhl der neu gegründeten Medizi- nischen Hochschule Hannover. Vorangetrieben wurde er mit dem Engagement der Akteure im regionalen Verbund, wichtig waren aber auch das sozialpolitische Engagement der Kommune, Rahmensetzungen des Landes und viele Modellprojekte. Als Resümee werden fünf Kriterien zur Qualitätsentwicklung der gemeindepsychiatrischen Versorgung im regionalen Kontext vorge- stellt.

Autor: Hermann Elgeti Seiten 5 – 11

Wie wollen wir die psychiatrische Versorgung organisieren? – Ein Blick zurück nach vorn

Dyrk Zedlick, Glauchau

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von Franz Sch. als eine Utopia und ver- gleicht sie mit jenen von Thomas Morus, von Charles Fournier, dem französischen Sozialutopisten, und schließlich auch mit dem Bild der idealen Psychiatrischen An- stalt, die ordnend wirken und zur Vernunft erziehen soll. Mit diesem Bezug schließt sich der Münsterlinger Kreis um die Pläne und Ordnungen des Franz Sch.

Nachtrag 1: Franz Sch. zeichnete auch nach 1959. So hatte er 1962 einem Medizinstu- denten (meinem Bruder; W. V.) gegenüber so viel Vertrauen gefasst, dass er ihn in seine Welt einbezog und ihm einige seiner Zeichnungen, von denen er immer einige mit sich führte, schenkte – wie kann man deutlicher ausdrücken, dass man wahrge- nommen werden und wirken will in dieser Welt?

Nachtrag 2: 1956 entdeckte Kuhn das erste Antidepressivum (Imipramin = Tofranil) und wurde so zum »Vater der Antidepressi- va«. Von 1950 bis 1970 testete er in Müns-

terlingen an mindestens 1600 Patienten Psychopharmaka. 2004 erhielt er die Hans Prinzhorn Medaille der Deutschsprachigen Gesellschaft für Kunst und Psychopatholo- gie des Ausdrucks. 2005 starb er und erhielt viele ehrenvolle Nachrufe. 2013 begann in der Schweiz eine heftige Diskussion über die Bedingungen, unter denen Kuhn seine Me- dikamentenuntersuchungen durchgeführt hatte. 2016 erfolgte die Einsetzung einer Historikerkommission, die z. B. Vorwürfe klären soll, dass diese Versuche z. T. ohne Aufklärung der Patienten erfolgt seien (sie- he auch Thoma 2016.)

Literatur

Damann, G. (2015): Roland Kuhns phänome- nologische und daseinsanalytische Arbeiten zu Ästhetik und künstlerischem Schaffen. In: K.

Luchsinger; A. Salathé; G. Dammann; M. Jagd- feld (Hg.): Auf der Seeseite der Kunst – Werke aus der Psychia trischen Klinik Münsterlingen, 1894 – 1960, Zürich: Chronos. S. 37 – 52.

Kuhn, R. (1952): Daseinsanalytische Studie über die Bedeutung von Grenzen im Wahn. Mo- natsschrift für Psychiatrie und Neurologie, 124, S. 334 – 383.

Luchsinger, K. (Hg.) (2008): Pläne – Werke aus Psy- chiatrischen Kliniken in der Schweiz 1850 – 1920.

Zürich: Chronos.

Luchsinger, K. (2015): Franz Sch.: Utopia. In: K.

Luchsinger; A. Salathé; G. Dammann; M. Jagd- feld (Hg.): Auf der Seeseite der Kunst – Werke aus der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, 1894 – 1960, Zürich: Chronos. S. 93 – 107.

Thoma, S. (2016): Rezension der »Münsterlinger Kolloquien« von Roland Kuhn und Anmerkungen zur aktuellen Debatte um seine Forschung. Sozial- psychiatrische Informationen, 1, S. 60 – 62.

Der Autor

Dr. Wolfram Voigtländer

Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Bis 2009 Chefarzt der Klinik für

Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Heidenheim

50 Jahre Psychiatriereform in der Region Hannover – ein Versuch, psychiatrische Versorgung gut zu organisieren 1

Zusammenfassung Der Beitrag beschreibt den Verlauf der Psychiatriereform am Beispiel einer großen Versorgungsregion und verdeutlicht die nachteiligen Wirkungen einer zunehmenden Kommerzialisierung der psychiatrischen Arbeit. Der Reformprozess begann 1967 nach der Berufung von Karl Peter Kisker auf den psychiatrischen Lehr- stuhl der neu gegründeten Medizinischen Hochschule Hannover. Vorangetrieben wurde er mit dem Engagement der Akteure im regionalen Verbund, wichtig waren aber auch das sozialpolitische Engagement der Kommune, Rahmensetzungen des Landes und viele Modellprojekte. Als Resümee werden fünf Kriterien zur Qualitätsent- wicklung der gemeindepsychiatrischen Versorgung im regionalen Kontext vorgestellt.

Autor: Hermann Elgeti

Die Region Hannover und ihre Psychiatrie im Überblick

Die Region Hannover wurde 2001 von der Landeshauptstadt Hannover (LHH) und den zwanzig Städten bzw. Gemeinden in ihrem Umland gebildet, die bis dahin im Landkreis

Hannover (LKH) zusammengeschlossen wa- ren. In der LHH lebten Ende 2015 532.000 Menschen auf einer Fläche von 200 km², im Umland 612.000 auf 2.050 km². Der Zu- sammenschluss gilt als Beispiel eines gelun- genen Ausgleichs zwischen einer Großstadt und deren »Speckgürtel«, der von ihrer rei-

chen Infrastruktur profitiert, ohne die dort geballt auftretenden sozialen Problemla- gen schultern zu müssen. So lag der Anteil der registrierten Arbeitslosen an der Bevöl- kerung im Alter zwischen 18 und unter 65 Jahren im Dezember 2015 in der LHH bei durchschnittlich 7,3 %, im Umland bei 4,8 %.

Elgeti: 50 Jahre Psychiatriereform in der Region Hannover – ein Versuch, psychiatrische Versorgung gut zu organisieren

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Bei einer kleinräumigen Betrachtung der Sozialstruktur zeigen sich freilich die Folgen zunehmender Segregation auch innerhalb dieser Teilgebiete: So schwankte der Arbeits- losenanteil in den 13 Stadtbezirken Hanno- vers zum selben Zeitpunkt zwischen 3,6 % und 9,6 %, derjenige in den zwanzig Städten und Gemeinden im Umland zwischen 1,4 % und 12,9 %.

An der Spitze der direkt gewählten Regions- versammlung steht der Regionspräsident, der alle acht Jahre in gesonderter Wahl be- stimmt wird. Die stärkste politische Kraft ist die SPD, die in der LHH seit Ende des Zweiten Weltkriegs durchgehend den Oberbürger- meister gestellt hat. Für den Reformprozess wichtig war und ist das Amt des Gesund- heits- und Sozialdezernenten. Die Amtsin- haber kamen nach Klaus Beste, der bis 1983 in der LHH wirkte, aus anderen Parteien:

Von 1992 bis 2016 war es in der LHH Tho- mas Walter, von 1992 bis 2001 im LKH Max Matthiesen – beide von der CDU. Seit Grün- dung der Region ist der Grünen-Politiker Erwin Jordan ihr Sozialdezernent; auch ihm liegt die Gemeindepsychiatrie am Herzen, und in seine Zuständigkeit fällt der Sozial- psychiatrische Dienst (SpDi).

Einen Überblick zur psychiatrischen Ver- sorgung in der LHH und ihrem Umland vor Beginn der Psychiatriereform bietet eine Erhebung aus dem Jahre 1968.2 1998 wurde eine regionale Psychiatrieberichterstattung eingeführt, mit deren Hilfe die weitere Ent- wicklung nachvollzogen werden kann.3 Ver- gleiche mit anderen Kommunen und Ver- sorgungsregionen bietet seit 2007 eine Lan- despsychiatrieberichterstattung.4 Die Daten zeigen, wie sich die Versorgungskapazitäten verschiedener Angebotsformen zwischen 1967 und 2015 verändert haben (Tabelle 1):

Der enorme Auf- und Ausbau ambulanter Hilfen ist in den letzten Jahren zu einem ge- wissen Abschluss gekommen, bei teilstatio- nären Hilfen ging er jedoch weiter. Parallel zu dem erheblichen Abbau von Klinikbetten in der Erwachsenenpsychiatrie wurden in ähnlich großem Umfang psychiatrische Wohn- und Pflegeheimplätze geschaffen.

Hochschul-Neugründung und Psychiatriepolitik des Landes als Motoren der Reform

Die gemeindepsychiatrische Entwicklung in der Region Hannover ist geprägt von den Impulsen, die von der 1965 gegründeten Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)

Anzahl der Einwohner (in Mio.) 0,81 1,14 1,13 1,13 1,14 1,14 Berichtsjahr 1967 1998 2006 2009 2012 2015

ambulante Hilfen

VZÄ FA-Praxen Erwachsene (NA, PSY) 14 52,9 58,2 60,9

VZÄ FA-Praxen Kinder/Jugend (KJP) 22,0 30,0 34,0

VZÄ PT-Praxen Erwachsene (PTÄ, PTP) 15 251,8 256,8 267,3 VZÄ PT-Praxen Kinder/Jugend (PT-KJP) 11,5 57,0 76,0 77,5

Zahl amb.-aufsuch. Dienste (PIA/SpDi) 3 11 21 22 24 26

Zahl Kontakt- und Beratungsstellen 0 9 10 11 11 12

Plätze amb. betr. Wohnen (SGB XII) 0 291 ~1000 1337 1507 1512

teilstat. Hilfen

Plätze Tagesklinik Erwachsene (SGB V) 0 118 136 221 278 334

Plätze Tagesklinik KJP (SGB V) 0 5 20 21 42 42

Plätze Tagesstätten (SGB XII) 0 109 187 195 195 329

Plätze beschützte Arbeit/Reha (WfbM, RPK) 0 300 447 567 637

stat. Hilfen

Klinikbetten Erwachsene (SGB V) 2701 1032 865 844 893 889

Klinikbetten KJP (SGB V) 80 69 98 103 109 109

Wohnheimplätze (SGB XII) 0 525 646 1398 1555 1646

Pflegeheimplätze (SGB XI, SGB XII) 230 1337 1228 1447 737

Tabelle 1: Psychiatrische Versorgung in der Region Hannover 1967 – 2015. Die Kassenärztliche Versorgung Niedersachsen (KVN) stellt für die N-PBE seit 2009 die Daten zu den Vollzeit-Äquiva- lenten (VZÄ) der in Praxis oder MVZ zugelassenen bzw. angestellten psychiatrischen Fachärzten (FA) und Psychotherapeuten (PT) zur Verfügung.

ausgingen.5 Die bis 2007 mit sozialpsychia- trischer Schwerpunktsetzung betriebene MHH-Psychiatrie war nicht nur eine Werk- statt für Modellprojekte, sondern selbst ein vierzig Jahre währendes Modellprojekt. Zum

»Vater« des Hannoveraner Modells der sekto- risierten Psychiatrie wurde Karl Peter Kisker (1926 – 1997), der sich bereits an der Universi- tät Heidelberg als Reformpsychiater profiliert hatte.6 1966 folgte er dem Ruf auf den MHH- Lehrstuhl für Psychiatrie und konnte den Aufbau »seiner« Klinik konzeptionell und räumlich mitgestalten. Bis zur Fertigstellung des Neubaus auf dem Campusgelände nutzte die MHH-Psychiatrie bis 1972 eine 36-Bet- teneinheit im Landeskrankenhaus Wunstorf, 1968 eröffnete sie in einem städtischen Ge- bäude in der Innenstadt eine Poliklinik. 1974 kam zur von Kisker geleiteten Abteilung Klinische Psychia trie noch eine Abteilung Sozialpsychiatrie, deren Leiter Erich Wulff (1926 – 2010) wurde.

Der Reformprozess startete früh und kam schnell in Fahrt: Bis 1977 war mit der Fest- legung klinischer Einzugsgebiete und Ver- sorgungssektoren, mit neuen Diensten und Netzwerken das Fundament für die wei- tere Entwicklung gelegt. Das war nicht nur

der überzeugenden Gesamtkonzeption zu verdanken, die viel Ähnlichkeit hatte mit dem, was man heutzutage unter Inklusion und Sozialraumorientierung versteht (Ab- bildung 1).7 Es brauchte auch das damals reformfreudige politische Klima, in dem die Konzepte schnell umgesetzt und im Alltag verankert werden konnten. Und nicht zu- letzt war eine gute Kooperation der fach- lichen und politischen Entscheidungsträger sowie zahlreicher weiterer Akteure nötig, die das gemeinsame Anliegen kompetent und engagiert, geduldig und hartnäckig ver- folgten. Eine Schlüsselfigur für die 1970er- Jahre in Hannover war dabei Manfred Bau- er: Er kam 1969 zu Kisker und trieb bis zu seinem Wechsel 1980 nach Offenbach die Entwicklung sowohl fachpolitisch als auch wissenschaftlich voran.8 Bauer war über sei- ne Mitwirkung in der Arbeitsgruppe »extra- murale Dienste« auch an der Erstellung der Psychiatrieenquete beteiligt.9

Gesundheitsversorgung in Deutschland ist Ländersache, und die Rahmensetzungen des Bundeslandes beeinflussen den Reformpro- zess vor Ort. Im niedersächsischen Sozialmi- nisterium saßen Experten, die 1971 bis 1975 an der Psychiatrieenquete mitarbeiteten.

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Unterstützung wurde eine Kommission aus niedersächsischen Fachleuten eingesetzt.14 Der LPP-N wurde 2016 veröffentlicht und verspricht, dem Reformprozess in den Kom- munen neue Impulse zu geben.15

Vom Anstaltswesen zur sektorisierten Psychiatrie

Seit Beginn der industriellen Revolution in Deutschland um 1850 stützten sich die expandierenden Großstädte bei der Versor- gung psychisch erkrankter Menschen ein- hundert Jahre lang vor allem auf Anstalten außerhalb der Stadtgrenzen.16 Im Umland von Hannover waren das drei Einrich- tungen: Die Wahrendorffschen Krankenan- stalten, das Niedersächsische Landeskran- kenhaus (NKH) Wunstorf und die städtische Nervenklinik Langenhagen.

Die Wahrendorffschen Krankenanstalten Il- ten-Köthenwald entstanden 1862, zunächst nur für Familienpflege. Bis 1878 erfolgte mit einem »Pensionat« für hilfsbedürftige Men- schen aus höhergestellten Gesellschafts- schichten zunächst der Ausbau zu einer Pflege-, später auch Heilanstalt.17 Das psy- chiatrische Privatkrankenhaus verfügte 1967 über 1230 Betten, darunter fünfzig für neu- rologische Fälle und achtzig für Selbstzahler;

achtzig chronisch Kranke wurden damals noch in den umliegenden Ortschaften in Familienpflege betreut. Für Zwangseinwei- sungen fühlte man sich nicht zuständig.

Ebenfalls 1862 eröffnete in Langenhagen eine »Heil- und Pflegeanstalt für geistes- schwache und blödsinnige Kinder«, die sich über die Jahrzehnte zu einer Provinzial-Heil- anstalt für Schwachsinnige entwickelte.18 Sie wurde 1897 von der preußischen Provinz Hannover übernommen. 1906 entstand dort eine Beobachtungsstation für Geisteskran- ke der Stadt Hannover, die 1938 das ganze Gelände aufkaufte und die genannte Sta- tion in »Nervenklinik der Stadt Hannover«

umbe nannte; diese verfügte 1967 über 116 Betten. Auf dem Gelände stand vor Beginn der Psychiatriereform noch ein großes Pfle- geheim mit 800 Betten, in dem auch etwa 230 chronisch psychisch kranke Menschen untergebracht waren.

Schließlich wurde 1880 für die Provinz Han- nover die »Korrektionsanstalt zu Wunstorf«

gegründet, zuständig vor allem für Zwangs- unterbringungen in einem großen Einzugs- gebiet zwischen Hannover und Bremen.19 Als Niedersächsisches Landeskrankenhaus Abbildung 1: Die »Pyramide« der sozialen Ausgrenzung. Aus: Der Bundesminister für Jugend,

Soziales und Gesundheit (Hg.) (1983): Sozialpsychiatrische Dienste in einer Großstadt – Pro- jekt: Hannover (Projektleiter: M. Bauer und H. Haselbeck). Schriftenreihe des BJFG (Band 163).

Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz, 33.

Als drittes Bundesland nach Nordrhein- Westfalen und Berlin bekam Niedersachsen 1978 ein Gesetz über Hilfen für psychisch Kranke und Schutzmaßnahmen (Nds.

PsychKG). Es verpflichtete die Kommunen zur Einrichtung eines SpDi und verankerte einen Psychiatrieausschuss auf Landesebe- ne mit Besuchskommissionen zur Kontrolle aller Einrichtungen, die psychisch erkrankte Menschen betreuen. In einem Bericht über die Entwicklung der Psychiatrie nach der Enquete zeigte die CDU-geführte Landesre- gierung 1985 aber vor allem ihren Stolz auf die bauliche Generalsanierung der Landes- krankenhäuser und blieb in ihren program- matischen Aussagen vage.10

Nach der Landtagswahl im Jahre 1990 kam es zur Bildung einer rot-grünen Koalitions- regierung, die u. a. eine Fachkommission Psychiatrie zur Erarbeitung von Reformemp- fehlungen einsetzte. Ihr Bericht wurde 1993 veröffentlicht und enthielt u. a. auch Vor- schläge zu einer Novelle des Nds. PsychKG, die aber erst 1997 als NPsychKG beschlossen wurde.11 Sofort umgesetzt wurde die Emp- fehlung zur Einrichtung eines Landesfach- beirates Psychiatrie Niedersachsen (LFBPN) als eine Art Wächter des Reformprozesses.

In den LFBPN berief das Sozialministerium zahlreiche Mitglieder der Fachkommissi- on, und deren Leiter Gerhard Holler wurde auch hier wieder mit der Geschäftsführung beauftragt. Holler koordinierte seit 1978 im Auftrag des Bundesgesundheitsministeri-

ums (BMG) den »kleinen« Modellverbund Psychiatrie, in dem bis zu seinem Auslau- fen im Jahre 2003 insgesamt 85 Projekte durchgeführt wurden.12 Er gehörte zu den vielen landes- und bundesweit vernetzten sozialpsychiatrischen Aktivisten aus dem Großraum Hannover, deren verschiedene Engagements dem Reformprozess auf allen Ebenen zugutekamen.

Das NPsychKG von 1997 enthielt zwei für den Fortgang der Psychiatriereform in den Kommunen bedeutsame Neuerungen: Der

§ 8 NPsychKG verlangte die Einrichtung eines Sozialpsychiatrischen Verbunds (SpV), wobei benachbarte Kommunen zur Zusam- menarbeit ermutigt wurden. Und gemäß

§ 9 NPsychKG musste der SpDi für seine Kommune einen Sozialpsychiatrischen Plan (SpP) über den Bedarf und das gegenwärtige Angebot an Hilfen für psychisch Kranke aufstellen und regelmäßig fortschreiben. In vielen Kommunen entstand so eine leben- dige Zusammenarbeit der Akteure, Fragen der regionalen Koordination und Planung wurden ihnen bewusst.

Der LFBPN zog 2012 nach zwanzig Jahren Fachberatung der Landesregierung eine kritische Zwischenbilanz und entwickelte Zukunftsperspektiven.13 Nach der gewon- nenen Landtagswahl Anfang 2013 beschloss dann die rot-grüne Koalition, einen Landes- psychiatrieplan (LPP-N) zu erstellen. Den Auftrag erhielten externe Experten, zu ihrer

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(NLK) hatte es 1967 noch 1350 Betten, in- begriffen 65 Betten einer jugendpsychiatri- schen Klinik, 300 Betten für Suchtkranke in Bad Rehburg und 78 Betten in den beiden Außengütern Kohlenfeld und Lohne. Der Umbau des NLK Wunstorf zu einer zeitge- mäßen psychiatrischen Klinik, verbunden mit einem massiven Bettenabbau, begann 1975 unter der Leitung von Asmus Finzen.

Die MHH-Psychiatrie übernahm 1972 mit ihrem Umzug aus dem NLK Wunstorf in den Neubau des Campus-Klinikums in der LHH die Pflichtversorgung der östlichen Stadtteile, zunächst für 70.000, kurz darauf für 150.000 Einwohner. Die Initiative der MHH bahnte den Weg zu einer Überein- kunft der vier Kliniken im Jahre 1977, die Pflichtversorgung für jeweils einen Teil des Großraums Hannover zu übernehmen. Das bedeutete, niemanden mit einem statio- nären Behandlungsbedarf abzuweisen, der im eigenen Einzugsgebiet seinen Wohnsitz hat. Das Land billigte die Vereinbarung im Hinblick auf die regionale Zuständigkeit bei Zwangseinweisungen nach NPsychKG, und ein Sektorverzeichnis informiert alle, wel- che Adressen zum Einzugsgebiet welcher Klinik gehören.

Solange die Chefärzte sozialpsychiatrisch eingestellt und die Geschäftsführer noch nicht auf Expansionskurs dem Profit nach- jagten, konzentrierten sich alle Kliniken auf ihr Terrain und sorgten sich dort auch um den Aufbau komplementärer Hilfen.

Bei den teil- und vollstationären Angeboten entwickelte sich allerdings schon bald eine Tendenz zur Spezialisierung mit Abkehr vom Sektorprinzip, die sich später bei den Psychiatrischen Institutsambulanzen (PIA) fortsetzte. Je stärker die politisch forcierte Kommerzialisierung und Industrialisierung der Psychiatrie den Alltag bestimmte, desto mehr Konkurrenzverhalten und Selbstbe- züglichkeit zeigten auch die Krankenhäuser.

Als unter dem CDU-Ministerpräsidenten Christian Wulff 2007 die NLK privatisiert wurden, gerieten auch sie in den Sog von Gewinnmaximierung und Kostenminimie- rung.20 Das 2004 als Zusammenschluss der bisher kommunalen Krankenhäuser ge- gründete Klinikum Region Hannover (KRH) erwarb zwar das NLK Wunstorf, aber das erwies sich leider nicht als ein zuverlässiger Schutz gegen die hier wirksamen marktradi- kalen Kräfte.

Von der Zentralstelle im Gesundheitsamt zu wohnortnahen Beratungsstellen des Sozialpsychiatrischen Dienstes

Kaum entwickelt war in der Nachkriegszeit die offene psychiatrische Fürsorge. Vor 1933 konkurrierten hier zwei erprobte Modelle, nämlich Außenstellen der Anstalten (Erlan- ger Modell) und kommunale Diens te am Wohlfahrts- oder Gesundheitsamt (Gelsen- kirchener Modell).21 Ausgelagerte Kranken- hausambulanzen gab es vor Reformbeginn im Großraum Hannover nicht, die Gesund- heitsämter von LHH und LKH unterhielten in der Innenstadt je eine psychohygienische Beratungsstelle. Ihre fachärztlichen Lei- ter durften allerdings keine Behandlungen durchführen und waren vor allem mit Begut- achtungen beschäftigt.22 Im System der Kas- senärztlichen Versorgung (KV) gab es damals nach der o. g. Studie von Heiner Frost 14 Fach- arzt- und 15 Psychotherapiepraxen. Darüber hinaus registrierte man in der damaligen Er- hebung noch eine Reihe von Beratungsstel- len für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern, für suchtkranke und für alte Menschen so- wie einige stationäre Einrichtungen, Ämter, Behörden und Initiativen.

Der Aufbau wohnortnaher ambulanter und komplementärer Hilfen mit regionaler Versorgungszuständigkeit war zur Verbes- serung der Lage von chronisch und schwer psychisch erkrankten Menschen genauso wichtig wie die Sektorisierung der Kliniken.

Für ihr eigenes Einzugsgebiet richtete die MHH-Psychiatrie 1972 in Kooperation mit der LHH eine Beratungsstelle für psychische und soziale Probleme im Stadtteil List ein, aus der sich allmählich die Sozialpsychiatri- sche Poliklinik der MHH entwickelte.23 In den folgenden drei Jahren wurden solche Beratungsstellen in kommunaler Träger- schaft auch in den übrigen vier stadthanno- verschen Sektoren aufgebaut. Die Qualität des auf diese Weise reorganisierten Versor- gungssystems wurde in einem Projekt des

»kleinen« BMG-Modellverbunds Psychiatrie empirisch untersucht.24

So hatte die LHH einschließlich der beiden MHH-Polikliniken bereits ein flächende- ckendes Netz an SpDi, als die Kommunen 1978 im Nds. PsychKG dazu verpflichtet wurden, sie einzurichten. Leiter des SpDi der LHH und später der Region war von 1975 bis 2003 Wolfgang Gephart, ein echter sozial- psychiatrischer Langstreckenläufer. Von sei- nem Pendant im LKH konnte man das nicht sagen: Dort wurden zwar auch drei SpDi-Be- ratungsstellen eingerichtet, sie hatten aber

ein deutlich größeres Gebiet zu versorgen;

erst nach Gründung der Region mit Verei- nigung der beiden SpDi kamen hier noch zwei dazu. Außerdem verfügte die LHH als erste und sehr lange einzige Kommune in Niedersachsen über eine gesonderte SpDi- Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche, eine wertvolle Differenzierung, die nach Gründung der Region in ähnlicher Form beibehalten wurde. Die Kooperation mit der MHH-Psychiatrie zur Gewährleistung der SpDi-Funktionen in deren Einzugsgebiet durch die beiden Polikliniken hielt bis 2014.

Nachdem die MHH aufgrund veränderter eigener Schwerpunktsetzungen den Vertrag mit der Region gekündigt hatte, richtete die- se selbst zwei zusätzliche Beratungsstellen ihres SpDi für dieses Gebiet ein.

Während die Fachärztinnen und Fachärzte im SpDi der LHH von der KV von Anfang an problemlos persönliche Ermächtigungen zur Behandlung »sozialpsychiatrischer Pro- blempatienten« erhielten, wollte der SpDi des LKH damit nie etwas zu tun haben. Erst nach Gründung der Region wurden entspre- chende Anträge gestellt, nun aber hatte die fortschreitende Kommerzialisierung das Klima bereits vergiftet, und der KV-Zulas- sungsausschuss lehnte ab. Der Widerspruch- und Klageweg durch alle Instanzen zog sich viele Jahre hin und endete 2016 in einem Fiasko: Das Bundessozialgericht verbot un- ter Verweis auf die Zulassungsordnung für Ärzte, SpDi-Angestellten KV-Behandlungs- ermächtigungen zu erteilen. Nun müssen andere Lösungen her, um die so wichtige fachärztliche Behandlungskompetenz des SpDi im Rahmen seiner interdisziplinären Fallarbeit zu gewährleisten. Erste Wahl ist die Kooperation mit einer PIA in Form eines Gemeindepsychiatrischen Zentrums (GPZ).25 Das wird allerdings nur gelingen, wenn alle Verantwortlichen das wollen und auf Grundlage einer sozialpsychiatrischen Grundhaltung vertrauensvoll zusammenar- beiten – so, wie es früher einmal war.

Von der Arbeitsgruppe Gemeindepsychiatrie zum Sozialpsychiatrischen Verbund

Wer das traditionelle, vorrangig ausgren- zende und disziplinierende Anstaltswesen durch eine auf Partizipation und Teilhabe ausgerichtete Versorgung ersetzen will, muss für die regionale Koordination der ge- meindepsychiatrischen Hilfen sorgen.26 Die Psychiatrieenquete hat dazu Vorschläge ge- macht:

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Standardversorgungsgebiete (SVG) für jeweils 150.000 bis 350.000 Einwohner, übergreifende Zuständigkeit hoch spezia- lisierter Einrichtungen für mehrere SVG, die eine Versorgungsregion bilden!

Koordination der Dienste im SVG in der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft (PSAG), Förderung ihres Zusammen- schlusses in der Versorgungsregion und auf Landesebene!

Koordination auch der Träger und der kommunalen Körperschaften sowie Bil- dung eines psychosozialen Ausschusses mit Vertretungen aller relevanten Ak- teure zur übergeordneten Koordination und Planung!

Die Empfehlungen der Expertenkommissi- on zur Evaluierung des Modellprogramms der Bundesregierung im Anschluss an die Psychiatrieenquete über zehn Jahre später waren dann geprägt von der Enttäuschung über die mangelnde Verbindlichkeit der PSAG-Arbeit.27 Propagiert wurde nun für jede Kommune neben einer PSAG und einem Beirat eine Psychiatriekoordinationsstelle mit weitreichenden Kompetenzen.28

Für den Großraum Hannover wurde 1975 eine Arbeitsgruppe – später: Arbeitskreis – Gemeindepsychiatrie (AKG) gegründet, eine Art PSAG für eine große Versorgungsregion.

Jeden Monat traf sich ein kleiner Kreis wich- tiger Akteure in der MHH-Poliklinik List, de- ren Oberarzt die Geschäfte führte, und sorgte gerade in den ersten Aufbaujahren in vielen Fällen für die notwendigen Absprachen.29 Waren es in den Anfangsjahren durchge- hend weniger als zehn teilnehmende Per- sonen und bis 1985 weniger als 15, stieg ihre Zahl schon vor 1990 auf über zwanzig an. Das lag auch an der anregenden Mitwirkung der damals neu entstandenen Interessenvertre- tungen von Betroffenen und ihren Angehö- rigen. Der Sitzungsort musste erst in das be- nachbarte Freizeitheim Lister Turm, später in das Rathaus verlegt werden.

Im Bereich komplementärer Hilfen kam es zu einem starken Entwicklungsschub: 1987 startete der Verein Ex & Job Wunstorf ein Projekt zur Arbeitsrehabilitation, das über vier Jahre vom BMG im Rahmen des Modell- verbunds gefördert wurde.30 1989 eröffnete Balance e. V. in Garbsen vor den Toren der Stadt Hannover die erste Tagesstätte für Menschen mit seelischen Behinderungen, und der Verein beta89 startete das ambu- lant Betreute Wohnen für diesen Personen- kreis. Mit dem 1992 verabschiedeten Be- treuungsgesetz entstand eine neue Gruppe

von Fachleuten, die rechtliche Betreuungen führten und die Nutzerperspektive auch bei der Qualitätsentwicklung im regionalen Verbund stärkten.

Über all die Jahre war es freilich nicht ge- lungen, die Kommunen, Kosten- und Ein- richtungsträger zu einer strukturierten Zu- sammenarbeit zu bewegen, wie es schon die Psychiatrieenquete für erforderlich hielt.

Dieser Mangel wurde umso schmerzlicher deutlich, je stärker sich in den 1980er-Jahren ökonomische Sichtweisen ausbreiteten und je mehr Anbieter von Hilfen auf den Markt kamen. Im Anschluss an den Bericht der Fachkommission Psychiatrie auf Landesebe- ne beauftragte die LHH 1993 eine Bestands- aufnahme der Versorgung und ein Konzept zur Psychiatrieplanung. Den Auftrag erhielt Gerhard Holler vom Institut für Entwick- lungsplanung und Strukturforschung (IES) GmbH in Hannover. Der LKH wurde für sein Gebiet in Eigenregie tätig, eine Zusammen- fassung der Ergebnisse und Folgewirkungen beider Studien findet sich im ersten Sozial- psychiatrischen Plan für das Jahr 2000, der gemeinsam von beiden Kommunen heraus- gegeben wurde.

Mit dem NPsychKG von 1997 hatte das Land einen neuen Rahmen gesetzt für die Koor- dination und Planung der psychiatrischen Versorgung. LHH und LKH hatten sich darauf bereits vorbereitet, gründeten 1998 einen ge- meinsamen SpV und sorgten dafür, dass seit 2000 jährlich ein SpP erstellt wird.31 Mehrere Modellprojekte brachten in den folgenden Jahren den Reformprozess voran, so zur Hil- feplanung32, Psychiatrieberichterstattung33, heroingestützten Behandlung Drogenabhän- giger34, gerontopsychiatrischen Pflege und Betreuung35. Viel Kritik in den Verbundgre- mien fand dagegen der Selektivvertrag, den die AOK Niedersachsen 2010 zur integrierten Versorgung für Schizophrenie mit der Ma- nagementgesellschaft eines Pharmakon- zerns abgeschlossen hatte; er wurde 2014 wieder gekündigt.36

Schon seit 1997 gibt es an Wochenend- und Feiertagen tagsüber den psychiatrisch-psy- chosozialen Krisendienst (PPKD), seit 2005 eine Beschwerdeannahme- und Vermitt- lungsstelle/Ombudsstelle im SpV. Ende 2016 waren rund einhundert Einrichtungen mit über zweihundert Hilfsangeboten am SpV beteiligt, und jeweils etwa siebzig Personen nehmen an den monatlichen Sitzungen des AKG teil, der zur Vollversammlung des SpV wurde. Neben den Sektor-Arbeitsgemein- schaften für die Koordination wohnortna-

her Hilfen gibt es derzeit zwölf Fachgruppen auf Regionsebene zu den verschiedensten Problemstellungen. Zum 15-jährigen Be- stehen des SpV erschien ein gehaltvoller Doppelband mit einem Rückblick, einer Zwischenbilanz und einem Ausblick auf die nächsten fünf Jahre.37

Qualitätskriterien in der

Gemeindepsychiatrie: Zuständigkeit, Erreichbarkeit, Fachlichkeit,

Zusammenarbeit, Wirksamkeit

Die Region Hannover gehört wohl auch fünfzig Jahre nach Beginn der Psychiatrie- reform noch zu den bestorganisierten Ver- sorgungsregionen in Deutschland. Aus- gangspunkt und Basis dafür war die Sek- torisierung im klinischen Bereich und die Dezentralisierung der Arbeit des SpDi; das schuf klare Zuständigkeiten und eine bes- sere Erreichbarkeit der notwendigen Hilfen.

Doch auch die Region Hannover blieb nicht verschont von den unseligen Folgen der Zer- splitterung des Versorgungssystems und der Kommerzialisierung der Hilfen für psy- chisch erkrankte Menschen: Viele Leistungs- erbringer suchen den Profit und scheuen die Transparenz, die Kostenträger denken betriebswirtschaftlich statt volkswirtschaft- lich. Die Bundespolitik setzte häufig auf den

»freien Wettbewerb« und seltener darauf, das System nach Qualitätskriterien zu steu- ern und ihm einen vernünftigen Rahmen zu geben. In diesem schwierigen Umfeld hat sich der SpV seine Lebendigkeit bewahrt, neue Entwicklungen in Gang gesetzt und manchen Rückschritt verhindert.

Das ist zuerst der hohen Fachlichkeit und guten Zusammenarbeit vieler engagierter Akteure zu danken, die den intensiven Er- fahrungs- und Meinungsaustausch in den Verbundgremien schätzen. Da treffen sich nicht nur Fachleute der Leistungserbringer und Behörden, sondern auch Interessenver- tretungen der Selbsthilfe Betroffener und ihrer Angehörigen. So helfen sie sich gegen- seitig, kritisch und selbstkritisch zu bleiben, neue Ideen zu produzieren, Projekte voran- zutreiben und ein gemeinsames ethisch- fachliches Grundverständnis auszubilden.

Früh wurden in Hannover auch attraktive berufsgruppen- und einrichtungsübergrei- fende Angebote zur sozialpsychiatrischen und psychotherapeutischen Zusatzausbil- dung aufgebaut.

Die Ausdifferenzierung des gemeindepsy- chiatrischen Versorgungssystems mit seiner Elgeti: 50 Jahre Psychiatriereform in der Region Hannover – ein Versuch, psychiatrische Versorgung gut zu organisieren

(8)

Vielzahl und Vielfalt von Einrichtungsträ- gern und Hilfsangeboten in einem Gebiet von 1,1 Mio. Einwohnern stellt hohe Ansprü- che an seine Koordination. Das ist eine kom- munale Aufgabe, die der SpDi zu leisten hat, und hier liegen entscheidende Instrumente bereit, die zur Verbesserung der Wirksamkeit der Hilfen für psychisch erkrankte Menschen im regionalen Kontext eingesetzt werden können. In der Region Hannover leiten die Beratungsstellen des SpDi die PSAG ihres Ver- sorgungssektors, ein Psychiatriekoordinator führt die Geschäfte des SpV, eine Fachsteue- rung Hilfekonferenzen besorgt die Planung und Evaluation von Eingliederungshilfen.

Zahlreiche Fachgruppen des SpV widmen sich speziellen Fragestellungen, eine von ih- nen unterstützt den SpDi bei der Erstellung des jährlich erscheinenden Sozialpsychiatri- schen Plans, der auch die Auswertungen zur regionalen Psychiatrieberichterstattung ent- hält. Die monatlich tagende Vollversamm- lung des SpV wählt alle zwei Jahre aus ihren Reihen einen dreiköpfigen Sprecherrat, ein drei monatlich tagender Regionaler Fachbei- rat Psychiatrie berät den Sozialdezernenten in allen Fragen rund um das NPsychKG.

Das größtes Defizit der Psychiatriereform in der Region Hannover und nicht nur dort ist, mal abgesehen vom örtlichen Sozialhilfe- träger, die weitgehende Abstinenz der Leis- tungsträger bei der regionalen Koordination.

Das bleibt wohl die größte Herausforderung für eine gute Organisation der psychiatri- schen Versorgung: Land und Kommunen müssen den überörtlichen Sozialhilfeträger und die Agentur für Arbeit, die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zu einer verbindlichen, kontinuierlichen und partnerschaftlichen Zusammenarbeit gewinnen.

Anmerkungen

1 Erwin Jordan gewidmet mit Dank für dreißig Jahre politische Förderung der Psychiatriereform.

2 Frost, H. (1968): Psychiatrische Dienste in Han- nover 1967. Hannover (Eigendruck der Psychia- trischen Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover).

3 Elgeti, H. (2007): Die Wege zur regionalen Psychia trieberichterstattung sind lang. Ein Werkstattbericht aus Hannover über die Jahre 1997 – 2007. In: Elgeti, H. (Hg.): Psychiatrie in Nie- dersachsen – Jahrbuch 2008. Bonn, 132 – 147.

4 Elgeti, H. (2016): Erhebliche Ungleichheiten zwi- schen den Versorgungsregionen – Auswertungs- bericht zur Landespsychiatrieberichterstattung für das Berichtsjahr 2014. In: Elgeti, H., Schmid,

R., Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung (Hg.): Psychiatrie in Niedersachsen – Jahrbuch 2016 (Band 8). Köln, 134 – 148.

5 Bleich, S., Elgeti, H. (2009): Psychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover – Tradition und Perspektiven. In: Elgeti, H. (Hg.): Psychiatrie in Niedersachsen – Jahrbuch 2010 (Band 3). Bonn, 129 – 133.

6 Machleidt, W., Passie, T., Spazier, D. (Hg.) (2007):

PsychiaterSein. Karl Peter Kisker – Auswahl seiner Schriften. Bonn.

7 Elgeti, H. (2015): Was bedeuten Inklusion und Sozialraumorientierung für die Sozialpsychiatrie?

Sozialpsychiatrische Informationen 45 (2), 19 – 23.

8 Bauer, M. (1977): Sektorisierte Psychiatrie. Stutt- gart.

9 Deutscher Bundestag (1975): Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland – Zur psychiatrischen und psycho- therapeutisch/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung (Drucksache 7/4200 Bericht und 7/4201 Anhang). Bonn.

10 Niedersächsischer Sozialminister (1985): Psy- chiatrie in Niedersachsen – Programm und Bericht der Landesregierung. Hannover (Eigendruck).

11 Niedersächsisches Sozialministerium (1993):

Empfehlungen zur Verbesserung der psychiatri- schen Versorgung in Niedersachsen – Bericht der Fachkommission Psychiatrie. Hannover (Eigen- druck).

12 Medizinische Hochschule Hannover (2003):

Fachtagung »Die Priorität ambulanter Hilfen für psychisch kranke Menschen: Illusion oder Chan- ce – nachhaltig wirkende Versorgungsmodelle aus einem Vierteljahrhundert Psychiatriereform« 2.

und 3. Dezember 2003. Hannover. Als Download verfügbar unter:

www.lfbpn.de/fileadmin/user_upload/pdf/

veroffentlichungen/A_Patientenorientierte_

Versorgung/A5.pdf (letzter Zugriff: 27.01.2017) 13 Siehe Einführung und Themenschwerpunkt

»Zwischenbilanz und Zukunftsperspektiven – 20 Jahre Psychiatriereform in Niedersachsen«. In:

Elgeti, H., Ziegenbein, M. (Hg.) (2013): Psychiatrie in Niedersachsen 2013 (Band 6). Köln, 12 – 125.

14 Siehe Einführung und Themenschwerpunkt

»Materialien zur Erstellung eines Landespsychia- trieplans für Niedersachsen«. In: Elgeti H., Ziegen- bein, M. (Hg.) (2015): Psychiatrie in Niedersachsen 2014/15 (Band 7). Köln, 11 – 18 und 50 – 138.

15 Siehe Einführung, Kurzfassung des Landespsy- chiatrieplans und Themenschwerpunkt »Koordi- nation und Steuerung der Versorgung – wie kann das gehen?«. In: Elgeti, H., Schmid, R., Niedersäch- sisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung (Hg.) (2016): Psychiatrie in Nie- dersachsen 2016 (Band 8). Köln, 12 – 128.

16 Blasius, D. (1994): Einfache Seelenstörung – Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800 – 1945.

Frankfurt am Main.

17 Cornelsen, J., Schneeberger, O. (1987): Vom

»Asyl Ilten« bis zum Fachkrankenhaus – Die Geschichte der Wahrendorffschen Kliniken. In:

Cornelsen, J., Schneeberger, O. (Hg.): 125 Jahre Wahrendorffsche Kliniken (Festschrift und Do- kumentation) 1862 – 1987. Sehnde (Eigenverlag), 10 – 34.

18 Stucke, W. (1987): Die Entwicklung der Nerven- klinik Langenhagen. In: Haselbeck, H., Machleidt, W., Stoffels, H., Trosdorf, D. (Hg.): Psychiatrie in Hannover – Strukturwandel und therapeutische Praxis in einem gemeindenahen Versorgungssys- tem. Stuttgart, 40 – 44.

19 Wittrock, H. (2005): Niedersächsisches Lan- deskrankenhaus Wunstorf – von der Korrekti- onsanstalt zum modernen Fachkrankenhaus (1880 – 2005). Wunstorf (Selbstverlag des Autors).

20 Siehe die Beiträge zum Themenschwerpunkt

»Die Privatisierung der Landeskrankenhäuser – eine strittige Angelegenheit« in Elgeti, H. (Hg.) (2007): Psychiatrie in Niedersachsen – Jahrbuch 2008. Bonn, 73 – 101.

21 Bumke, O., Kolb, G., Roemer, H., Kahn, E. (Hg.) (1931): Handwörterbuch der psychischen Hygiene und der psychiatrischen Fürsorge. Berlin, Leipzig, 121 – 132.

22 Blum, P., Schlia, J. (1979): Sozialpsychiatrische Beratung in Hannover – Stationen einer Entwick- lung. Med. Hochschule Hannover (Dissertation).

23 Elgeti, H. (2015): Ein mitmenschlicher Stütz- punkt zwischen System und Lebenswelt – Per- sönlicher Rückblick auf die Geschichte der So- zialpsychiatrischen Poliklinik Hannover-List.

Sozialpsychiatrische Informationen 45 (4), 3 – 8.

24 Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit (Hg.) (1983): Sozialpsychiatri- sche Dienste in einer Großstadt – Projekt: Han- nover (Projektleiter: M. Bauer und H. Haselbeck).

Schriftenreihe des BJFG (Band 163). Stuttgart, Ber- lin, Köln und Mainz.

25 Suesse, T. (2015): Gut Ding will Weile haben – Auf dem Weg zur Eröffnung des ersten Gemein- depsychiatrischen Zentrums in der Region Han- nover. Sozialpsychiatrische Informationen 45 (4), 50 – 53

26 Elgeti, H. (2014): Regionale Koordination in der Psychiatrie. Public Health Forum 22 (Heft 82), 38 – 40.

27 Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Hg.) (1988): Empfehlungen der Expertenkommission zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/

psychosomatischen Bereich auf der Grundlage des Modellprogramms der Bundesregierung. Bonn (Ei- gendruck).

28 Machleidt, W., Elgeti, H. (1991): Hat sich die Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft bewährt? So- zialpsychiatrische Informationen 21 (1), 52 – 61.

29 Elgeti, H., Machleidt, W. (1990): Koordinati- on und Planung in der Gemeindepsychiatrie. Öff.

Gesundh.-Wes. 52, 681 – 690.

(9)

11 sozialpsychiatrische informationen 47. Jahrgang 3/2017

30 Holler, G., Lauterbach, M., Philippi, R., Schö- berle, M., Schulzke, M., Tietz, T. (1993): Modellpro- jekt Trainings- und Beschäftigungsmöglichkeiten für psychisch Kranke in einer Selbsthilfefirma und in der Gemeinde. Schriftenreihe des Bundesminis- teriums für Gesundheit (Band 29). Baden-Baden.

31 Elgeti, H. (1999): Der Sozialpsychiatrische Ver- bund im Großraum Hannover. In: Kauder, Kunze (Hg.): Qualität und Steuerung in der regionalen psychiatrischen Versorgung. Köln, 194 – 205.

32 Elgeti, H., Schlieckau, L. (2004): Evaluation der Planung von Eingliederungshilfen in der Region Hannover. In: Schmidt-Zadel, Kunze, Aktion Psy- chisch Kranke (Hg.): Die Zukunft hat begonnen:

Personenzentrierte Hilfen – Erfahrungen und Per- spektiven. Bonn, 395 – 405.

33 Elgeti, H. (2003): Dialoge – Daten – Diskurse:

Zur Qualitätsentwicklung im Sozialpsychiatri-

schen Verbund. Sozialpsychiatrische Informatio- nen 33 (1), 24 – 29.

34 Haasen, C., Verthein, U. (2008): Das bundesdeut- sche Modellprojekt zur heroingestützten Behand- lung Opiatabhängiger (Band 1 – 3). Baden-Baden.

35 Wolff, B. (2004): Bundesmodellprojekt Ambu- lante Gerontopsychiatrische Zentren in Hanno- ver – Casemanagement mit Lotsenfunktion im personenzentrierten Hilfenetz. In: Bunzendahl, Hagen (Hg.): Soziale Netzwerke für die ambulante Pflege. Weinheim und München, 158 – 168.

36 Elgeti, H. (2013): Profitinteressen passen nicht zu einer sozialen Psychiatrie – Integrierte Versor- gung für AOK-Versicherte mit Schizophrenie in Niedersachsen und was daraus wurde. Nerven- heilkunde 32, 301 – 306.

37 Sozialpsychiatrischer Dienst der Region Hannover (2014): »Vorwärts nach weit« – 15 Jah-

re Sozialpsychiatrischer Verbund in der Region Hannover. Sozialpsychiatrische Schriften (Band 5).

Hannover.

Als Download verfügbar unter: www.hannover.

de/Leben-in-der-Region-Hannover/Gesundheit/

Beratungsstellen/Sozialpsychiatrischer-Verbund/

Sozialpsychiatrischer-Plan

Der Autor

Dr. Hermann Elgeti Region Hannover

Dezernat für soziale Infrastruktur Stabsstelle Sozialplanung (II.3) Hildesheimer Str. 20

30169 Hannover

hermann.elgeti@region-hannover.de

Antrag

der Abgeordneten Picard, Dr. Martin,

Dr. Jungmann, Dr. Götz, Burger, Prinz zu Sayn- Wittgenstein- Hohenstein, von Thadden, Köster und der Fraktion der CDU / CSU betr. Situation der Psychiatrie in der Bundesrepublik

1

Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, Drucksache VI/474, Sachgebiet 212

Der Bundestag wolle beschließen:

Die Bundesregierung wird beauftragt, eine umfassende Untersuchung über die psychiatrisch-psychohygienische Versor- gung der Bevölkerung durchzuführen oder durchführen zu lassen und dem Bundestag bis zum 31. März 1971 einen Bericht hierü- ber vorzulegen. In dem Bericht soll neben der Analyse der derzeitigen Lage zugleich festgestellt werden, welche Maßnahmen notwendig sind, damit die psychiatrisch- psy chohygienische Versorgung der Bevöl- kerung den heute geltenden wissenschaftli- chen Erkenntnissen auf dem Gebiet gerecht wird. (…)

Darüber hinaus wird die Bundesregierung ersucht, umgehend im Benehmen mit den Ländern und sonstigen Trägern psychia- trischer Einrichtungen allgemein für not- wendig erachtete Maßnahmen zur Ver- besserung der psychiatrischen Versorgung einzuleiten, oder, soweit geschehen, mit allem Nachdruck zu fördern. Dies sind ins- besondere Maßnahmen zur Verbesserung der Personalsituation

zur strukturellen Änderung der psychia- trischen Landeskrankenhäuser,

zur Gründung und Förderung weiterer Einrichtungen der Sozialtherapie und Re- habilitation, wie sie in Modellform – z. B.

in Mannheim, Hannover, Frankfurt – be-

stehen und sich bewährt haben. Hierüber ist dem Bundestag bis zum 31. Dezember 1970 zu berichten.

Langfristige Planungen, wie sie zur durch- greifenden Besserung notwendig sind, können nur formuliert werden, wenn die bestehenden Verhältnisse durchsichtig ge- macht worden sind. Das ist das Ziel der be- antragten Enquete. Ohne dem Ergebnis der Enquete vorzugreifen, können unumstrit- tene und allenthalben für sinnvoll erachtete Sofortmaßnahmen in Angriff genommen werden, die insbesondere die außerordent- lich angespannte Personallage und Struktur der psychiatrischen Krankenhäuser zu bes-

Antrag

1972

Referenzen

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