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In memoriam Konrad Thomas (9.6.1930 – 6.1.2010)

Ein leidenschaftlicher Soziologe

Was hält die Gesellschaft im Innersten zusammen? Wie kommt das Neue in die Gesellschaft? Diese Fragen beschäftigten Konrad Thomas, der am 6.

Januar in seinem Wohn- und Wirkungsort Göttingen im Alter von 79 Jahren starb, über die vielen verschiedenen Stationen seines soziologischen Forschens hinweg. Dabei kam Thomas erst auf Umwegen und eher durch Zufall zur Soziologie. Er wurde gewissermaßen von der Soziologie entdeckt, die ihn dann aber Zeit seines Lebens nicht mehr losließ.

Bereits sein Zugang zur Soziologie war unkonventionell. Aus dem protes- tantischen Pfarrhaus stammend, studierte er zunächst Kirchenmusik, dann Theologie, um nun aber nach dem Examen nicht ins Pfarramt zu gehen, sondern einen radikalen Richtungswechsel einzuschlagen und sich als Bohrer und Dreher in der Metallindustrie zu verorten. Nicht die Kannzel, sondern die Fabrik wurde zu seinem ersten Wirkungsort. Er wollte die Realität der Industriearbeit aus erster Hand kennen lernen, die Arbeiter nicht akademisch erforschen, sondern ihre Welt erfahren, indem er sie teil- te. Vier Jahre lang lebte er das Leben eines angelernten Fabrikarbeiters.

Diese Wendung aus dem Bildungsbürgertum zur konkreten Welt der In- dustriearbeiter war in den fünfziger Jahren selten – aber doch äußerst be- deutsam für die Bildungsgeschichte der bundesrepublikanischen Soziolo- gie. Deren Mitbegründer, Heinrich Popitz und Hans Paul Bahrdt, hatten – ebenfalls aus dem Bildungsbürgertum stammend – als Kriegsteilnehmer die Erfahrung der Nivellierung sozialer Klassenunterschiede im Militär mitgebracht und waren nach 1950 als sich selbst erfindende Sozialforscher ins Herz der Finsternis gegangen, in das Industrierevier, um das ›Gesell- schaftsbild des Arbeiters‹ und die Verknüpfung von ›Technik und In- dustriearbeit‹ vor Ort zu studieren. Es war – für Konrad Thomas – viel- leicht ein kleines Wunder und verwundert doch wiederum nicht, dass Hans Paul Bahrdt Ende der 50er Jahre den Theologen Thomas in der Fabrik entdeckte und seine Wendung zum Soziologen einfädelte. Er bat ihn, in Form eines Vortrags über seine Erfahrungen zu berichten; Thomas selbst hatte den Kontakt zur Universität keineswegs gesucht. Dennoch wurde aus diesem Vortrag schließlich eine Promotion und Thomas kam als erster Assistent von Hans Paul Bahrdt an das Soziologische Seminar der Univer- sität Göttingen. Auch seine Habilitation widmete sich der »Analyse der Ar-

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beit« (1969). Auf der Grundlage seiner Erfahrungen als Industriearbeiter und methodisch gestützt auf eine interdisziplinäre Untersuchung der be- trieblichen »Situation« erkannte Thomas das Gewicht des subjektiven Ge- staltungsfaktors, die aktive Rolle der Arbeiter für den Produktionsprozess.

Eine solche Perspektive erfuhr jedoch in der von vielen Dogmen bestimm- ten Industriesoziologie der 70er Jahre wenig Zustimmung. Erst in späteren Jahren setzte sich diese von Thomas schon früh erkannte Sicht auf die Rolle und Funktion des Arbeiters im und für den Produktionsprozess wis- senschaftlich durch. Den Ruhm für diese theoretische Neuausrichtung ern- teten dann Andere. Thomas war hier, wie es der Freiburger Soziologe Wolfgang Eßbach in seinem Nachruf in der FAZ (Ein Pionier, 11. Januar 2010) formulierte, ein Pionier, der zu früh unterwegs war.

Mit der nächsten Station auf seinem Weg betrat er erneut Neuland:

Thomas ging als Gastprofessor an die Osmania-Universität in Hyderabad und erforschte dort die kulturspezifischen Dimensionen industrieller Pro- zesse, indem er den Aufbau des Stahlwerks Rourkela im indischen Urwald wissenschaftlich begleitete. Auch hier war die eigene Erfahrung vor Ort, der direkte Kontakt zu den Menschen und ihren Arbeitsbedingungen; für Thomas unverzichtbares Element des Forschungsprozesses. Früh ent- wickelte er eine methodische Skepsis gegenüber modernisierungstheore- tischen Entwicklungsmodellen.

1973 wurde Konrad Thomas an das Soziologische Seminar der Universität Göttingen berufen, wo er bis 1995 lehrte. Von der Soziologie der Arbeits- situation verschob sich sein Aufmerksamkeitsschwerpunkt zur Soziologie der Ausnahmesituation. Thomas untersuchte, wie sich Menschen in Krisen und Katastrophensituationen verhalten, er richtete seinen Blick auf Situa- tionen, in denen soziale Ordnungsstrukturen wegbrechen. Dabei nahm er mehr noch als in seiner industriesoziologischen Forschung den subjektiven Faktor in den Blick. Er erkannte, dass die Dynamik von Gefühlen und Vorstellungen kategorial in die soziologische Theoriebildung einbezogen werden muss. Neben den Schriften von Jean-Paul Sartre, Georges Bataille, Paul Dumouchel, Gabriel de Tarde und Cornelius Castoriadis inspirierte ihn vor allem René Girards Theorie der Gewalt zu soziologischen Über- legungen, die dann er dann in seinem Buch über »Rivalität« (1990) vorstell- te. In der akademischen Soziologie war Konrad Thomas einer der ersten, bei dem die Göttinger Studenten etwas über diese französischen Theorien

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erfahren konnten. Pionierarbeit war dies wiederum, denn einige Werke wie beispielsweise die des französischen Theoretikers Paul Dumouchel lagen derzeit noch gar nicht in deutscher Sprache vor; Thomas ließ sie eigens für die Seminare von einem Assistenten übersetzen. Den Studenten eröffnete Thomas damit eine neue Welt von Themen und analytischen Verfahren, die damals noch abseits der soziologischen Aufmerksamkeit lagen.

Thomas begriff die Konstitution des Sozialen von der körperlichen, see- lischen und geistigen Aktivität des Menschen her und forderte perspekti- visch eine »anthropologische Soziologie«. Auf dem Soziologiekongress 1982 gründete er – zusammen mit Karl-Siegbert Rehberg und Ronald Hitzler – den Arbeitskreis »Philosophische Anthropologie und Soziologie«

– ein Jahrzehnt vor der Neuentdeckung Helmuth Plessners durch die aka- demische Soziologie und Philosophie. Im Rahmen dieses Arbeitskreises, der bis heute besteht, realisierte er eine Reihe fruchtbarer Tagungen. Die Gründung einer Helmuth-Plessner-Gesellschaft (1999) wurde durch ihn angeregt. Eine umfangreiche, bisher unveröffentlichte Abhandlung »Zwi- schen Ruhe und Taumel« suchte eine Verknüpfung zwischen Luhmanns systemtheoretischer Soziologie und Plessners Anthropologie der ›exzen- trischen Positionalität‹.1

Seine Studenten gewann Thomas durch neue Veranstaltungsformen und seine vorbehaltlose Offenheit gegenüber allen Fragen, Perspektiven und Positionen. Ausgebildet in themenzentrierter Interaktion brachte er auch solche Studenten wieder zum Sprechen, die der akademische Betrieb hatte verstummen lassen. Nicht selten gingen Diskussionen über den Rahmen von Lehrveranstaltungen hinaus und wurden in seinem Haus in Weißen- born bei Göttingen – oft an einer langen und reich gedeckten Tafel, zu der jeder etwas beitrug – bis in die Nacht hinein weitergeführt. Die Frage nach dem Neuen und nach der soziologischen Interpretation der Wissensbestände auch anderer Disziplinen faszinierte Konrad Thomas dabei bis zuletzt.

Joachim Fischer und Inka Tappenbeck

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1 2010 erscheint der Band mit den scripta minora, veröffentlichten und unveröffentlichten Aufsätzen: Konrad Thomas: »Von der Notwendigkeit der Grenzen: Schriften aus vierzig Jahren«, der bereits bei VS angekündigt ist und ihm zum 80. Geburtstag überreicht werden sollte: herausgegeben von Norbert C. Korte, mit einem Geleitwort von Wolfgang Eßbach.

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Anatol-Rapoport-Preis 2010

Auf dem Soziologie-Kongress in Frankfurt 2010 wird die DGS-Sektion Modellbildung und Simulation zum zweiten Mal den Anatol-Rapoport- Preis verleihen. Das Preisgeld beträgt 500 Euro.

Ausgezeichnet wird eine neuere soziologische Arbeit im Bereich »Mo- dellbildung und Simulation« eines deutschsprachigen Wissenschaftlers/

einer deutschsprachigen Wissenschaftlerin, eingereicht durch Vorschlag oder Selbstbewerbung. Bewertungskriterien sind:

– Originalität der Fragestellung, Theorie, Hypothese

– Innovative Modelle oder innovative Anwendung eines Modells

– Empirisch-statistisches Niveau, Qualität der Datenerhebung und Daten – Qualität der Ausführung

– Praktische Bedeutsamkeit

Es kann sich um eine theoretische und/oder empirische Arbeit handeln, wobei nicht alle der aufgeführten Kriterien gleichzeitig erfüllt sein müssen.

Für den Anatol-Rapoport-Preis 2010 werden nur Manuskripte in Ar- tikellänge berücksichtigt (maximal ein Artikel pro Autor). Senden Sie Ihre Vorschläge bis spätestens 31. Mai 2010 an Ben Jann (jannb@ethz.ch) oder ein anderes Mitglied der Jury.

Jury: Andreas Diekmann, Thomas Hinz, Monika Jungbauer-Gans, Ben Jann, Jürgen Klüver, Peter Preisendörfer, Nicole J. Saam und Wolfgang Sodeur

Schader-Preis 2010 für Professor Wolf Lepenies

Der Soziologe Wolf Lepenies erhält den Schader-Preis 2010. Mit dem Schader-Preis zeichnet die Schader-Stiftung Gesellschaftswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen aus, die durch ihre wissenschaftliche Arbeit und ihr öffentliches Wirken wichtige Beiträge für die Lösung gesell- schaftlicher Probleme geleistet haben. Der Preisträger des Schader-Prei- ses 2010 Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies erfüllt diese Anforderungen in ganz besonderem Maße.

Wolf Lepenies ist einer der wenigen deutschen Wissenschaftler, die zwischen Wissenschaft und gesellschaftlicher Einmischung in Fragen der

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Zivilgesellschaft keine Trennung vornehmen. Er lässt sich nicht einer Kategorie zuordnen: Er ist Soziologe, aber auch Historiker, Wissen- schaftler, aber auch begnadeter Essayist; er kombiniert Ernsthaftigkeit und Ironie, Sachverstand und Leichtigkeit, und er ist vor allem auch ein Vermittler zwischen verschiedenen Kulturen und Disziplinen.

Von 1986 bis 2001 war Wolf Lepenies Leiter des Wissenschafts- kollegs zu Berlin und hat in dieser Funktion maßgeblich dazu beigetra- gen, dass Menschen aus unterschiedlichen Disziplinen und Regionen der Welt in einen Dialog treten und gegenseitig voneinander lernen konnten.

Das in Berlin erprobte Modell eines interkulturellen und interdiszipli- nären Austausches hat Wolf Lepenies nach 1989 in andere Länder getra- gen: So war er als Initiator am Aufbau von Kollegs in vielen anderen Staaten beteiligt wie z.B. in Ungarn, Rumänien und Mali, um nur einige zu erwähnen. »Wolf Lepenies ist eine Ausnahmeerscheinung – als Wissenschaftler, Kulturpolitiker und als Person. Die Schader-Stiftung ist deshalb besonders stolz darauf, dass sie ihm im Mai 2010 den Preis über- reichen darf«, erklärte der Vorsitzende der Preisjury und des Kuratoriums der Stiftung, Staatssekretär a.D. Prof. Dr. Joachim-Felix Leonhard zu der Entscheidung.

Wolf Lepenies ist ein »handelnder Intellektueller« – ein Soziologie, der für seine wissenschaftlichen Arbeiten viele Auszeichnungen erhalten hat und für seine »Einmischung« unter anderem mit dem Theodor- Heuss-Preis (2000) und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2006) geehrt wurde.

Der Schader-Preis wird jährlich von der Schader-Stiftung verliehen und ist mit 15.000 Euro dotiert. Preisgericht ist das Kuratorium der Stiftung.

Zu den bisherigen Preisträgern zählen unter anderem Lord Ralf Dahren- dorf (2009), Klaus von Beyme (2008), Franz-Xaver Kaufmann (2007), Gesine Schwan (2006), Ulrich Beck (2005), Bernd Raffelhüschen (2004), Hartmut Häußermann und Walter Siebel (2003), Fritz W. Scharpf (2002), Peter Graf Kielmansegg (2001), Meinhard Miegel (2000) und Renate Mayntz (1999).

Peter Lonitz

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Tagungsbericht zum ÖGS-Kongress 2009 in Graz

Der Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie (ÖGS) widmete sich vom 24. bis 26. September 2009 in Graz dem Thema: »Die Zukunftsfähigkeit Österreichs«. Ehe sich dieser Bericht mit der Frage beschäftigt, wie die österreichischen SoziologInnen das Thema Zukunfts- fähigkeit behandelten, ein kurzer Überblick über das Kongressprogramm:

Panels zu Sozialpolitik, Migration, Pflege, Geschlechterverhältnissen, Stadt- entwicklung, aber auch zur »Lage der Sozialtheorie« und der Zukunfts- fähigkeit der Soziologie kamen aufgrund von Referatsvorschlägen aus den Reihen der ÖGS-Mitglieder zustande.

Der vorliegende Bericht versucht, die soziologischen Zugänge und For- schungsschwerpunkte in Österreich in Sachen Zukunftsfähigkeit zu charak- terisieren und lässt die Befindlichkeiten und das Klima unter den ver- sammelten österreichischen SoziologInnen unberücksichtigt. Natürlich kann sich der Bericht nur dem genauer widmen, dem ich beiwohnen konnte.

Bereits der erste Tag bot einen facettenreichen Einstieg in die Frage der Zukunftsfähigkeit. Der Titel des geplanten Vortrags von Anthony Giddens

»Reflections on a sociologist’s effort to advice politics«, der leider krank- heitsbedingt ausfiel, wies auf den Zusammenhang von Zukunftsfähigkeit und soziologischer Beratung hin. Als Alternativprogramm wurde von Christian Fleck, dem nun von Jens Dangschat abgelösten Präsidenten der ÖGS, eine Plenardiskussion zum Generalthema des Kongresses initiiert.

In Flecks Diskussionsimpuls, der nach dem Kongress anlässlich des österreichischen Nationalfeiertags auf der Gastkommentarseite der Wiener Tageszeitung Der Standard erschien, wurde Zukunftsfähigkeit als absichts- volle und planmäßige Unterwerfung der Zukunft behandelt. An vier Bei- spielen versuchte er zu zeigen, dass zentrale gesellschaftliche Fragen nicht oder seiner Meinung nach unzureichend behandelt werden. Seine Anpran- gerung folgenloser institutionalisierter Beratungsstellen der Regierung, (planloser) Asyl- und Bildungspolitik (mit »akademischen Tunnelblick«) gipfelte schließlich in einer Kritik der öffentlichen Kritik, einem Frontal- angriff auf Österreichs »eingebettete« Intellektuelle. Fleck richtete sich gegen die Routine des »Durchwurstelns« und beklagte das mangelnde Engagement der Intellektuellen, während die Kommentatoren aus diversen Bindestrichsoziologien, die im Anschluss zu Wort kamen, eher den gesellschaftlichen Status Quo in der Art eines »Brainstormings« abzu-

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stecken versuchten. Zwar haftete der bindestrichsoziologischen Aufzäh- lung ein gewisser Hauch von Diffusität an, doch gelang es dennoch auch, gewisse Probleme abseits des Üblichen aufzuzeigen.

Die Reaktionen knüpften in dem Sinne an Flecks Vortrag an, als dass sie weitere gesellschaftliche Problemstellen, aber auch solche im Bereich der sozialwissenschaftlichen Praxis identifizierten. Den SoziologInnen wurde ein fehlender Drang zur Lösungssuche attestiert, und im Allgemeinen mangele es an »Realanalysen«. Der Aufdeckung und Darstellung sozialer Missstände, etwa im Bereich der Bildung und der Jugend, und der Parti- zipationsfrage müsse mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Bei der Behandlung der Zukunftsfähigkeit sei zu berücksichtigen, dass die Fragen der Planung, Gestaltungsmöglichkeit sowie des Handlungsbereichs (Glo- balisierung vs. nationaler Verortung) selbst nicht unproblematisch sind.

Der folgende Tag bot einen genaueren Einblick in für die Zukunfts- fähigkeit Relevantes und Problematisches in den Forschungsbereichen Sozialpolitik, soziale Arbeit, Geschlechter, Stadt- und Migrationssoziologie.

In sozialpolitischer Hinsicht widmete man sich »Perspektiven des österrei- chischen Beschäftigungs- und Sozialmodells« (J. Flecker/C. Hermann), der Prekarisierungsproblematik (J. Muckenhuber), der allgemeinen sozialpoliti- schen Tauglichkeit Österreichs (M. Preglau) und schließlich den »Gerech- tigkeitsdeutungen von Führungspersonen« (G. Bohmann/O. Penz/A. Weber).

Das Panel Geschlechterforschung kreiste um Kopftuchdebatte (N. Gresch), europäische Identität und Fremdbilder (E. Klaus/R. Drüeke/S. Kassel) und die Konstruktion von türkisch-migrantischen Männlichkeiten (P. Scheibel- hofer). Zum Thema Pflege fokussierte ein Panel allgemein deren Zukunfts- fähigkeit (M. E. de Campo) und die eng damit in Verbindung stehende »Be- deutung des Ehrenamts für den Erhalt der Lebensqualität älterer Men- schen« (T. Fischer). Der Schwerpunkt Migration brachte eine Darstellung von »Integrationsfacharbeit« als soziologisch informierte Praxis (S. Burt- scher) und einen experimentellen Vergleich antiker Imperien mit der Euro- päischen Union (M. Haller). Die Stadtsoziologie schließlich befasste sich mit der Planungsproblematik eines neuen Stadtteils in Graz (J. Dangschat).

Eine Plenardiskussion zur »Zukunftsfähigkeit der Soziologie« bestritten A. Scott, M. Prisching, C. Fleck und J. Dangschat. Das inhaltliche Spektrum reichte von einer Skepsis zum Begriff der Zukunftsfähigkeit über die Identi- fizierung problematischer Bereiche der Disziplin bis hin zu Vorschlägen zur Verbesserung des Status Quo. Folgende Problembereiche wurden identifi-

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ziert: Internationalisierung bzw. Globalisierung, Effekte der Spezialisierung, Entstehung von »Praktikerwissenschaften« und Studies sowie Konkurrenz durch andere Weltdeutungen (z.B. Gehirnforschung), Ökonomisierung (Ver- marktlichung, Wettbewerb, Definitionsmacht der Naturwissenschaften), Fragmentierung und Verkomplizierung des Gegenstandsbereiches, sowie konkreter auf der Ebene disziplinärer Praxis: die Dissertationsstudien (nicht konkurrenzfähig, Verbesserung der Ausbildung notwendig), fehlende Arbeiten über Österreich und fehlende Sozialberichterstattung und Statistiken (etwa für den Forschungsbereich »nachhaltige Gesellschaft«), und schließlich die un- günstige Situation der NachwuchswissenschafterInnen (Nischenzwang, frag- liche Belohnungssysteme und Habilitationsrichtlinien, »publish or perish«).

Der Umfang der Verbesserungsvorschläge war etwas karger. Die auf- fälligsten waren wohl ein Aufruf dazu, die Öffentlichkeit und damit »Public Sociology« ernster zu nehmen, der Wunsch nach einer regelmäßigen So- zialberichterstattung, strengere Vorgaben bei Abschlussarbeiten sowie bessere Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses (Doktoratsausbil- dung, Konzentration und Kooperation im Ausbildungsbereich).

Am dritten Tag wurde die Plenardiskussion des Vortages durch ein Panel über Wissenschaft und Wissen ergänzt. »Tendenzen der Europäisierung der Soziologie« wurden am Beispiel der österreichischen und slowenischen scientific community erörtert (B. Hönig) und unter dem Titel »Die Waffen sich Gehör zu schaffen«, versuchten S. Laube/W. Reichmann die Frage nach dominanten Wissensformen im Vergleich der Soziologie mit der Ökonomie zu fassen.

Kurz soll hier auch noch auf die Kongressaktivitäten abseits des Zukunfts- topos eingegangen werden. Am zweiten Tag beschäftigte sich ein Panel ausführlich mit dem Theorieentwurf von Andreas Balog († 2008), am kon- sequentesten ausgeführt in dessen Buch »Soziale Phänomene. Identität, Aufbau und Erklärung« (Wiesbaden 2006). In diesem Rahmen wurde sein Konzept – Soziale Phänomene als einheitlicher Gegenstand der Soziologie – (R. Greshoff), wie auch allgemeiner die Frage einer handlungstheoretisch fundierten Soziologie und der Begriff sozialer Mechanismen (M. Schmid) ausführlich vorgestellt und diskutiert. Ebenso hielt M. Gabriel einen Vor- trag zu »Handlung und Willensfreiheit«.

Hinsichtlich der Sektionsveranstaltungen lässt sich festhalten, dass sich als Maßgabe der organisierten Aktivität innerhalb der Gesellschaft sieben der offiziell fünfzehn Sektionen der ÖGS versammelten: Feministische Theorie

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und Geschlechterforschung, Geschichte der Soziologie, Kunst- und Musik- soziologie, Soziologische Methoden und Forschungsdesigns, Sozialarbeit und Technik- und Wissenschaftssoziologie. Auf die Inhalte der Sektion Ge- schichte der Soziologie kann hier noch aufgrund persönlicher Anwesenheit kurz eingegangen werden: Behandelt wurden das Konzept des Gaben- tausches bei Marcel Mauss als Integrationsform (S. Moebius), ein Einblick in die Soziologie Gustav Ratzenhofers (S. Haring), Bernd Weilers Buch »Die Ordnung des Fortschritts« (C. Dayé) und Varianten der Soziologie- Geschichtsschreibung (F. Welz). In der Sektionsveranstaltung wurden auch neue Webseitenprojekte des Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich zu Ludwig Gumplowicz und Marie Jahoda präsentiert (http://

agso.uni-graz.at/gumplowicz, http:// agso.uni-graz.at/jahoda).

Abschließend kann nun noch direkt die Frage gestellt werden: Gelang es der ÖGS, ihrer Themensetzung gerecht zu werden? Erfüllte der Kongress den Anspruch, etwas zur Frage der gesellschaftlichen Zukunftsfähigkeit beizutra- gen? Kurz zusammengefasst gingen folgende Ergebnisse aus dem Kongress hervor: Die Betonung der Rolle von Intellektuellen für politische Entschei- dungen und Kritik, dann die Markierung und Beforschung signifikanter ge- sellschaftlicher Problembereiche (Jugend, Bildung, Migration, Stadtentwick- lung, soziale Arbeit, Pflege) und schließlich die Verfolgung disziplinimma- nenter Aufgaben (Theorie- und Methodenentwicklung, sowie Pflege der Ge- schichte des Faches). Es kann von einer soziologischen Gesellschaft nicht er- wartet werden, dass sie im Rahmen von Plenardiskussionen kurzerhand kon- sensfähige Zukunftsanalysen und -perspektiven und darauf aufbauend Handlungsempfehlungen entwickelt. Aber die Markierung und Bevorschung von zentralen gesellschaftlichen Problembereichen hat sie vorzunehmen, und dabei darf sie nicht die disziplinäre Zukunft vergessen, d.h. sie muss stets ihre eigene Geschichte reflektierend an Theorie und Methoden der So- ziologie arbeiten. Vielleicht kann man ja unter Zukunftsfähigkeit eine solche Befähigung verstehen, Probleme zu erkennen und an deren Beseitigung ar- beiten zu können. Zur Erkenntnis der Problemlagen trägt die Soziologie durchaus bei. Inwieweit sie aber an den Lösungen arbeitet bzw. arbeiten sollte, muss hier offen bleiben. Auf jeden Fall kann man trotz des hoch- gesteckten Themas einigermaßen zufrieden gestellt auf den Kongress zu- rückblicken.

Martin Griesbacher

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Call for Papers

Körper, Kult und Konfession. Religiöse Dimensionen des Sports und Körperkults

Gemeinsame Tagung der dvs-Sektion Sportsoziologie und der DGS- Sektionen Soziologie des Körpers und des Sports sowie Religions- soziologie, Goethe-Universität Frankfurt, 25. bis 27. November 2010 Körper und Sport einerseits, Religion andererseits sind soziokulturelle Phä- nomene, die gemeinhin getrennt voneinander betrachtet werden. Dabei wird übersehen, dass ihre je historisch-gesellschaftliche Bedeutung in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis steht. In der westlichen Mo- derne ist diese Interdependenz vor allem durch eine Gegenläufigkeit ge- kennzeichnet: In Folge gesellschaftlicher Differenzierungs-, Individualisie- rungs- und Säkularisierungsprozesse ist es in den letzten Jahrzehnten zu einer sozialen und personalen Aufwertung von Körper und Sport und einer gleichzeitigen Abwertung der großen Kirchenreligionen gekommen.

In westlich-modernen Gesellschaften haben die christlichen Religionen an alltagspraktischer Bedeutung verloren, gleichwohl ist das religiöse Bedürf- nis der Menschen nicht geringer geworden. Dieses wird jedoch zunehmend von anderen (»sekundären«) Institutionen gestillt. Sport und Körperkult, so die Leitthese der Tagung, übernehmen in diesem Sinne religiöse Funktionen.

Die These fußt auf der religionssoziologischen Unterscheidung zwi- schen einem »substanzialen« und einem »funktionalen« Religionsbegriff (P.L. Berger, Th. Luckmann). Für die Beiträge der Tagung stellt dieses differenzierte Verständnis von Religion den konzeptionellen Rahmen dar.

Der Blick auf das Wechselverhältnis von Körper, Sport und Religion rückt damit sowohl die Frage nach den religiösen Dimensionen und Facetten von Sport und Körperkult als auch die Bedeutung von Sport und Körper- kult für Religionen in den Mittelpunkt. Entsprechend thematisieren die Vorträge mit Bezugnahme auf einen substanzialen Religionsbegriff das

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Verhältnis von Körper/Sport und traditionellen Kirchenreligionen und mit Rück- griff auf einen funktionalen Religionsbegriff die Relevanz von Körper/Sport als diesseits- oder ersatzreligiöse Praktiken.

Die Beiträge können theoretisch-begriffliche Grundlagen und Analysen wie auch empirische Untersuchungen präsentieren. Ihr Gegenstand kön- nen zeitgenössische Körperpraktiken ebenso wie der gegenwärtige Freizeit- oder (Hoch-)Leistungssport sein. Vor dem Hintergrund des differenzierten Religionsbegriffs bieten sich beispielhaft folgende Themenbereiche an:

Konfessionelle Zugehörigkeit und Sportpraxis Religiöse Erfahrungen im Sport und Körperkult

Ersatz-/ Diesseitsreligiöse Funktionen von Sport und Körperkult

Ersatz-/ Diesseitsreligiöse Rituale, Symbole und kultische Praktiken im Sport

Religiöse Aspekte des Mediensports

Technologisierung von Körper und Sport, Leben und Schöpfung Die Tagung wird Raum und Zeit für ausführliche Diskussionen zu den ein- zelnen Vorträgen bieten. Für die einzelnen Vorträge werden Zeitfenster von ca. 30 bis 40 Minuten eingeplant. Nachwuchswissenschaftler/innen sind herzlich zur Einreichung von Abstracts aufgefordert. Vorschläge für Beiträge zur Tagung (max. 2.500 Zeichen) schicken Sie bitte bis zum 30.

April 2010 an Prof. Dr. Robert Gugutzer. Die Mitteilung über die An- nahme eines Vortrags erfolgt bis 30. Juni 2010.

Kontakt:

Prof. Dr. Robert Gugutzer Goethe-Universität Frankfurt Institut für Sportwissenschaften

E-Mail: gugutzer@sport.uni-frankfurt.de

Eine ausführlichere Fassung dieses Calls findet sich unter http://www.uni- frankfurt.de/fb/fb05/ifs/Sozialwissenschaften/Jahrestagung_Sportsoziolo gie_2010/CfP_K__rper-Sport-Religion_2010.pdf

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Mediatisierung der Gesellschaft? Mediensoziologische Forschung in vergleichender Perspektive

3. Workshop des Medienwissenschaftlichen Lehr- und Forschungs- zentrums (MLFZ), Köln, 18. bis 20.11.2010

Nicht erst seit der Einführung des dualen Rundfunksystems ist das Me- dienangebot stark gestiegen. Zahlreiche private Sender haben sich etabliert und auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben neue Sender und neue Sendekonzepte entwickelt. Parallel dazu hat sich in den letzten Jahrzehnten der Zeitschriftenmarkt stark ausdifferenziert und mit dem Internet hat sich eine technische Plattform für die sogenannten »Neuen Medien«, aber auch für die alten Medien etabliert. Diese wachsende Bedeu- tung der Medien im Leben der Bevölkerung ist als Mediatisierung der Frei- zeit, ja des gesellschaftlichen Lebens überhaupt charakterisiert und als wichtiger Aspekt des sozialen Wandels gewertet worden.

Um die Mediatisierung und ihren Stellenwert im sozialen Wandel Deutschlands zu untersuchen, hat das MLFZ in zwei durch Drittmittel finanzierten Projekten die Daten der Media-Analyse (MA) für wissen- schaftliche Sekundäranalysen aufbereitet. Mit Mitteln des BMBF wurden Daten zum Lesen von Zeitschriften und Zeitungen von 1954 bis 2006 auf- bereitet und mit Mitteln der DFG Daten zur Nutzung von Radio und Fernsehen von 1977 bis 2005. Dabei wurden jeweils über den gesamten Erhebungszeitraum kumulierte Gesamtdatensätze mit den wichtigsten Me- diennutzungsdaten erstellt. Sie werden an interessierte Wissenschaftler wie- tergegeben und dienen als zentrale Datenbasis für den geplanten Work- shop. In einem von der DFG finanzierten Folgeprojekt bereiten wir zur Zeit die Daten der MA-Intermediadateien von 1987 bis 2007 auf, die zu- sätzlich fusionierte Kennziffern zur Fernsehnutzung aus dem AGF/GfK- Fernsehpanel enthalten und somit die seit 1997 existierende Lücke zur senderspezifischen Fernsehabfrage schließen. Wir gehen zum jetzigen Zeit- punkt davon aus, dass wir im Sommer 2010 die ersten Intermedia-Daten- sätze für wissenschaftliche Sekundäranalysen zur Verfügung stellen kön- nen, so dass beim geplanten Workshop auch erste Vorträge auf Basis die- ser Datenquelle zu erwarten sind. Wir hoffen, mit diesen Daten die Media- tisierung in Aspekte und insgesamt sowie in ihrer Einbettung in den sozia- len Wandel beschreiben zu können.

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Vortragsvorschläge, die sich auf diese oder andere Daten beziehen, sind für die Tagung willkommen. Sie können sich vor allem auf folgende The- menbereiche beziehen:

Verlauf der Mediatisierung

Determinanten der Mediatisierung Mediatisierung durch Medienwirkung Domestizierung durch Massenmedien

Mediennutzung in vergleichender Perspektive Sozial-geographische Analysen

Wandel der kulturellen Teilhabe

Untersuchung ökonomischer Fragestellungen Methoden der Medienforschung

Mediatisierung im Ländervergleich

Integration von Inhaltsdaten in Befragungsdaten Als Invited Speaker halten Impulsreferate:

Prof. Dr. Friedrich Krotz, Universität Erfurt, Sprecher des DFG- Schwerpunktprogramms »Mediatisierte Welten: Kommunikation im medialen und gesellschaftlichen Wandel«,

Prof. Dr. Norbert Schneider, Direktor der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM) und

Hans Georg Stolz, Vorstandsvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Me- dia-Analyse (ag.ma).

Der Workshop ist interdisziplinär ausgerichtet. Willkommen sind Beiträge u.a. aus den Bereichen Medien-, und Kommunikationswissenschaft, Sozio- logie, Demographie, Kulturwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Politik- wissenschaft, Statistik, neuere Geschichte oder Rundfunkrecht. Eingeladen werden zudem Referenten der angewandten Mediaforschung sowie Mit- glieder der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse.

Interessenten werden gebeten, Abstracts der geplanten Beiträge (Vortragszeit: 20 Minuten) bis zum 31. Juli 2010 an mlfz@wiso.uni- koeln.de einzusenden. Die Abstracts sollten eine Seite umfassen und Arbeitstitel sowie Verfasserangaben enthalten. Auch Teilnehmer ohne Referat sind herzlich willkommen und sollten auf demselben Weg bis zum 31. Oktober 2010 ihr Kommen ankündigen. Die Teilnahme am von der DFG finanzierten und von Univ.-Prof. Dr. Heiner Meulemann und Dr.

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Jörg Hagenah organisierten Workshop ist kostenlos. Es ist geplant, nach dem Workshop einen dritten MLFZ-Herausgeberband zu veröffentlichen.

Kontakt:

Dr. Jörg Hagenah Tel.: 0221 / 470-6163

E-Mail: hagenah@wiso.uni-koeln.de

Eine ausführlichere Fassung dieses Calls findet sich unter www.mlfz.uni- koeln.de/assets/files/download/Mediatisierung%20MLFZ%20Workshop.pdf

Dieter-Claessens-Tagung

Tagung der DGS-Sektion Kultursoziologie, 3. bis 5. Februar 2011, Technische Universität Dresden

Dieter Claessens (1921–1997) ist in der deutschen Nachkriegssoziologie ein wichtiger Anreger gewesen und blieb gleichwohl ein ›Außenseiter in der Mitte‹. Einige Bücher wurden schnell Standardwerke, wie seine Habilita- tionsschrift »Familie und Wertsystem« (1962) oder die auch für den Schul- unterricht wichtige »Sozialkunde der Bundesrepublik Deutschland« (1965).

Viel gelesen wurde in der Zeit »nach 1968« auch seine Studie »Kapitalismus als Kultur« (1973), die durchaus verwandte Thesen mit den drei Jahre später erschienen »Cultural Contradictions of Capitalism« von Daniel Bell enthält.

Das Hauptwerk seiner soziologischen Anthropologie, »Das Konkrete und das Abstrakte« (1980), ähnlich wie dessen begriffliche und theoretische Grundlegung in »Instinkt, Psyche, Geltung« (1967) scheint bislang weniger rezipiert zu sein oder gilt als ›Geheimtipp‹ anthropologisch interessierter Leser. Diese verdeckte Rezeption eines wichtigen Ansatzes lässt an das Schicksal der Werke von Norbert Elias denken, an dessen Wiederent- deckung Claessens entscheidenden Anteil hatte. In soziologischer Umdeu- tung der Philosophischen Anthropologie (für die er übrigens auch Paul Alsberg als Vorläufer erschlossen hat) fand er z.B. mit dem treffenden Begriff der »Insulation« einen Schlüssel zur Verbindung von Phylo- und Ontogenese. So konnte er konkret soziologisch entfalten, was kategorial sich auch bei Scheler, Plessner und Gehlen fand.

Dass Claessens’ Werke sich nicht eingängig zuordnen lassen, mag auch daran liegen, dass sie sich nicht auf eine Schlüsselformel wie »Institutionen-

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theorie« oder »Evolutionssoziologie« verkürzen lassen. Entscheidend aber ist wohl, dass er theoretisch in Frage stellte, was sonst in der Soziologie unhinterfragt bleibt: nämlich die als selbstverständlich erachtete Existenz großer Gesellschaften. Sein überraschender Grundgedanke ist, »daß der Mensch die unmittelbare Motivation zum Aufbau großer Gesellschaften nicht hat«. Dieses »evolutionäre Defizit« befähige ihn, zu tun, »wozu er konkret-sinnlich Lust hat – oder wozu er gezwungen wird« im sozialen Leben in Gruppen und als Individuum in größeren Gesellschaften.

So lässt sich das Paradox erklären, dass Ordnungen und Institutionen immer zugleich Zwang ausüben und Freiheit lehren, also Spannungen und Unterschiede hervorbringen, statt sie dialektisch aufzuheben oder syste- misch auszudifferenzieren. Modernes Familienrecht und Rentenversiche- rung enthalten solche Zwangs- und Freiheitskonsequenzen, die aus stetig sich erneuernden Geschlechter- und Generationsspannungen entstehen.

Claessens stellte früh schon Fragen, die heute allgegenwärtig sind, etwa wie die Fähigkeit zu erklären sei, dass Menschen die »Weltgesellschaft«

nicht nur abstrakt fassen, sondern auch emotional anstreben und wie der- art gesellschaftliche Konstruktions- und Abstraktionsleistungen wiederum das konkrete menschliche Zusammenleben verändern. Bei ihm steckt im Konkreten immer schon das Abstrakte – wie das Klima im Wetter.

Die Tagung gibt in Verbindung mit den wissenschaftlichen Diskussionen auch Gelegenheit zur Zusammenkunft von Schülern und Freunden des Münsteraner und Berliner Soziologen. Erbeten sind Beiträge zu Claessens’

Theoriearbeit, zur Rekonstruktion seiner Interessen und Forschungsbeiträge, ebenso wie zur Aktualität des Werks. Wir bitten bis zum 15. Oktober 2010 um Vorschläge (1–2 Seiten) für höchstens 30-minütige Referate an:

Prof. Dr. Karl-Siegbert Rehberg

E-Mail: karl-siegbert.rehberg@tu-dresden.de und

Prof. Hermann Pfütze E-Mail: hpfuetze@yahoo.de Anmeldungen bitte an:

TU Dresden, Institut für Soziologie Frau Gabriele Naumann

01062 Dresden

Tel.: 0351/463 32887

E-Mail: gabriele.naumann@tu-dresden.de

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Tagungen

Wiederkehr der Klassengesellschaft? Zum Verhältnis von Ungleichheitsforschung und Gesellschaftstheorie

Tagung der DGS-Sektionen Soziologische Theorie und Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse, 27. und 28. Mai 2010, Essen

Die Soziologie sozialer Ungleichheit hat in den letzten Jahrzehnten gra- duelle Übergänge zwischen sozialen Schichten betont und auf die Plurali- sierung von kulturellen Lebensstilen oder sogar auf die Auflösung von sozial-kulturellen Kollektiven im Zeichen von Individualisierungsprozessen hingewiesen. Innerhalb der Gesellschaftstheorie galt zur gleichen Zeit das Konzept der Klassengesellschaft als weitgehend überholt. Die aktuell in der empirischen Forschung diskutierte Frage, inwiefern sich trotzdem oder erneut soziale Ungleichheiten verstärken oder stabilisieren und die kultu- rellen Differenzen zwischen Milieus tiefgreifender werden, erhält vor die- sem Hintergrund eine besondere Brisanz.

Haben wir das »Ende der Klassengesellschaft« bereits hinter uns? Erge- ben sich in den postindustriellen Gesellschaften neue Klassenformationen und Klassenkonstellationen, die eine Aktualisierung dessen verlangen, was etwa Pierre Bourdieu in »Die feinen Unterschiede« vorgeschlagen hat?

Oder ist die Rede von der Klassengesellschaft eher als »Selbstbeschrei- bung« (Luhmann) der Gesellschaft anzusehen, die weder empirisch noch theoretisch tragfähig ist?

Die Frage nach dem Ende oder der Revitalisierung der Klassengesell- schaft betrifft die Sozialstrukturanalyse ebenso wie die Sozial- und Gesell- schaftstheorie. Im Zentrum der Tagung stehen folgende Aspekte:

Wodurch entstehen soziale Ungleichheiten und welche Bedeutung ha- ben soziale Ungleichheiten für die Gesellschaftstheorie? Welche gesell- schaftliche Bedeutung haben Ungleichheitsdiskurse?

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Wie lässt sich das Verhältnis zwischen sozialer Ungleichheit und funk- tionaler Differenzierung begreifen? Wie bilden sich sozialstrukturelle und kulturelle Differenzen in einzelnen sozialen Feldern ab? Lassen sich »kulturelle Hegemonien« quer zu den Grenzen zwischen sozialen Feldern nachweisen?

Inwiefern lässt sich eine soziale und kulturelle Transformation »alter«

Schichten und Milieus – Mittelschicht, Arbeiterschaft, Oberschicht – beobachten, und sind »neue Klassen« (bzw. Milieus) mit eigenem Profil entstanden?

Ist die »Klassenfrage« global (geworden) und wie ließen sich eine glo- bale Sozialstrukturanalyse und entsprechende Gesellschaftstheorien entwerfen und kombinieren?

Die Tagung will eine Auseinandersetzung zwischen Ungleichheitsfor- schung und Gesellschaftstheorie mit theoretischen, aber auch empirischen Mitteln vorantreiben. Weitere Auskünfte erteilen die Organisatoren:

Prof. Dr. Andreas Reckwitz (Konstanz) E-Mail: Andreas.Reckwitz@uni-konstanz.de und

Prof. Dr. Anja Weiß (Duisburg-Essen) E-Mail: anja.weiss@uni-due.de

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