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PJ114_S3-21_Lutz-Bachmann_Demokratie, öffentliche Vernunft und Religion

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Demokratie, ffentliche Vernunft und Religion

berlegungen zur Rolle der Religion in der politischen Demokratie im Anschluss an John Rawls und Jrgen Habermas MatthiasLUTZ-BACHMANN(Frankfurt am Main)

1. Demokratie und „ffentliche Vernunft“

In seiner Rechtstheorie vertritt Jrgen Habermas eine Theorie des demokrati- schen Verfassungsstaats im Anschluss an die vernunftrechtliche Konzeption eines republikanischen Staatswesens bei Kant. In deren Mittelpunkt steht die Idee einer Verfassung, „die sich die assoziierten Brger selber geben, und nicht die Domesti- zierung einer bestehenden Staatsgewalt“.1Die Gewalt des Staatswesens soll nmlich allererst – so bereits bei Kant – aus dem „vereinigten Willen“2der Rechtsgenossen hervorgehen, die durch die Konstitution einer gemeinsamen Verfassung zugleich zu Brgern einer als Republik konzipierten ffentlichen Rechtsordnung werden. Dieses Verstndnis von Verfassung fhrt die Staatsgewalt – anders als in der Tradition von Hobbes bis Carl Schmitt – als ohne jeden Rest positiv verrechtlicht vor, da sie aus dem gemeinsamen Verfahren der Rechtsetzung von freien, gleichen und miteinan- der verbundenen Brgern hervorgeht.3

Die Legitimitt der demokratischen Verfassung, die durch die Legalitt dieses Verfahrens erzeugt wird, geht fr Habermas aus zwei Quellen hervor: Erstens aus der gleichmßigen politischen Beteiligung, also der Inklusion aller Brger in das Konstitutionsverfahren der Verfassung und in die geordneten demokratischen Pro- zesse der Gesetzgebung. Dies hat zur Folge, dass sich die Brger sowohl als die Adressaten als auch als die Autoren ihrer Gesetze verstehen knnen. Zweitens ent- springt die Legitimitt der vernnftigen Form, in der die politischen Auseinander- setzungen zwischen den Brgern ber die Gesetze ausgetragen werden. Sie sollen sich in den Prozessen der politischen Willensbildung und ffentlichen Entschei- dungsfindung diskursiv und argumentativ begegnen, weil sie einander wechselsei- tig gute Grnde fr ihre Stellungnahmen schulden, die so vorgetragen werden sol- len, dass sie im Grundsatz jedem einleuchten knnen. Das die demokratische Ordnung legitimierende Verfahren der Hervorbringung von Gesetzen ist somit nicht bloß ein Kampf um arithmetische Mehrheiten im Wahlvolk oder Parlament, sondern

1 Habermas (2005a), 108.

2 Immanuel Kant, „Rechtslehre“,Metaphysik der Sitten, § 43 ff.

3 Vgl. Habermas (1992), insb. 109–165.

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kann als ein wahrheitssensibles Argumentationsverfahren charakterisiert werden,4 das auf einer anspruchsvoll gedachten ffentlichen Deliberation zwischen auto- nomen Brgern basiert. So begrndet die geforderte rationale Form der ffent- lichen Auseinandersetzungen in der Demokratie die berechtigte Erwartung einer

„vernnftige[n] Akzeptabilitt der Ergebnisse“.5Habermas fasst das Verhltnis von Demokratie und Zivilgesellschaft in die Beschreibung, dass die politische Ordnung

„in eine Zivilgesellschaft eingebettet“6ist, in der die Bereitschaft und Fhigkeit der Brger eingebt werden, sich aktiv an den ffentlichen Debatten ber die politi- schen Verfahren der Legislation, ber die staatliche Exekution der Gesetze, ber deren judikative Auslegung und ber die Findung von Recht im streitigen Einzelfall mit wechselseitigem Respekt zu beteiligen.

Die Skizze dieses normativen Ideals verweist in der Sache auf John Rawls, der in der Weiterentfaltung seiner „Theorie der Gerechtigkeit“7 zur Theorie des „Politi- schen Liberalismus“8den Begriff einer „ffentlichen Vernunft“ geprgt hatte.9Mit seiner Konzeption der „ffentlichen Vernunft“ entwirft Rawls die Idee einer von

„gleichen Brgern“ in einer demokratischen Gesellschaft geforderten argumentati- ven Kooperation. Dieselben Brger, die sich in der Zivilgesellschaft als Partner einer fairen Kooperation begegnen sollen, „ben“ in der politischen Demokratie „als Kol- lektiv in letzter Instanz politische Zwangsgewalt bereinander aus, indem sie Ge- setze erlassen und Verfassungsnderungen vornehmen.“10 Nicht alle Formen des Vernunftgebrauchs sind in einer demokratischen Gesellschaft fr Rawls jedoch eo ipso „ffentlich“. So zhlt er zu einem „nicht-ffentlichen“ Gebrauch der Vernunft, in bereinstimmung mit den Prinzipien der amerikanischen Verfassung, beispiels- weise den Gebrauch der Vernunft „in Kirchen, Universitten und vielen anderen Vereinigungen der brgerlichen Gesellschaft“. Damit ist der Vernunftgebrauch in aristokratischen oder autokratischen Gesellschaften vergleichbar, denen insgesamt der ffentliche Charakter fehlt, auch wenn in ihnen von einer Elite ber das All- gemeinwohl nachgedacht wird. Der „ffentliche Vernunftgebrauch“ ist dagegen fr Rawls „eine Besonderheit von demokratischen Staaten“ und ist folglich definiert erstens als der „ffentliche Vernunftgebrauch gleicher Brger“, die den gleichen Status als Staatsbrger im Raum der politischen Demokratie besitzen. Als solcher reprsentiert er, wie Rawls auch sagt, so etwas wie „die Vernunft der ffentlich- keit“.11Zweitensist der ffentliche Vernunftgebrauch durch seinen speziellenInhalt oderGegenstandbestimmt, nmlich durchDebatten ber dieVerfassung sowie ber

„dasffentliche Wohl“und ber„Fragen grundlegender Gerechtigkeit“.12Drittensist

4 Habermas (2005b), 150.

5 Habermas (2005a), 108.

6 Ebd., 110.

7 Rawls (1975).

8 Rawls (1998).

9 Vgl. hierzu bereits I. Kant, der in:Beantwortung der Frage: Was ist Aufklrung?, A 487, zwischen einem Privatgebrauch der Vernunft und einem ffentlichen Gebrauch unterschieden hatte.

10 Rawls (1975), 314.

11 Ebd., 312.

12 Ebd., 313.

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der ffentliche Gebrauch nach Rawls durch diebesondere Art und Weise der Debat- tenfhrungqualifiziert. In ihr sollen nmlich „fr alle erkennbar“ dieGrundstze der politischen Gerechtigkeitvon den Teilnehmern der Diskussion in Anspruch genom- men werden.13Unverkennbar beschreibt Rawls mit dem Konzept des „public reaso- ning“ ein Ideal und keine Gesetzesvorschrift. Dieses normative Ideal stellt fest, wie Brger eines legitimen demokratischen Verfassungsstaats miteinander umgehen sollten. Es legt uns eine „moralische (keine rechtliche) Pflicht“ (a moral duty) auf.

Sie besteht genauerhin darin, dass wir in der Lage sein sollen, einander zu erklren, wie die von uns in grundlegenden Fragen vertretenen Prinzipien (principles) und politischen Vorhaben (policies) jeweils von den Werten der ffentlichen Vernunft gesttzt und getragen werden (how they can be supported by the values of public reason).14 Zur moralischen Pflicht der wechselseitigen Begrndung unserer grund- stzlichen politischen Absichten zhlt Rawls hier auch die „Bereitschaft anderen zuzuhren, und eine faire Gesinnung, wenn es darum geht, zu entscheiden, wann man vernnftigerweise Zugestndnisse an die Auffassung anderer machen soll“.15

Angesichts des unbestreitbaren Faktums des weltanschaulichen Pluralismus in den modernen Gesellschaften, der fr Rawls „keine vorbergehende Erscheinung ist, sondern ein dauerhaftes Merkmal der ffentlichen Kultur der Demokratie“,16 fordert er fr die politischen Debatten ber die Grundlagen der Verfassung und der Gerechtigkeit im Raum der gesellschaftlichen ffentlichkeit, dass alle in diesem Zusammenhang verwendeten Argumente dem von ihm aufgestellten Kriterium der

„ffentlichen Vernunft“ entsprechen sollen. Diese Forderung ergibt sich fr ihn normativ aus dem Prinzip der politischen Legitimitt; denn dieses verlangt, dass die in diesen grundlegenden Debatten von allen Brgern fr ihre politische Position verlangten argumentativen Begrndungen und Rechtfertigungen sich „nur auf ge- genwrtig allgemein akzeptierte berzeugungen sttzen drfen sowie auf die zum common sense gehrigen Formen des Argumentierens und die unumstrittenen Me- thoden und Ergebnisse der Wissenschaften“.17 Aus dieser berlegung leitet Rawls die Forderung ab, dass alle „umfassenden religisen oder philosophischen Lehren“

(comprehensive religious or philosophical doctrines) aus dem ffentlichen Diskurs ausgeschlossen werden mssen. Diese Restriktion betrifft alle Lehren oder Doktri- nen, die, wie er sagt, „von ihren Anhngern als die ganze Wahrheit“ betrachtet werden.18 Spter hatte Rawls seine Forderung abgeschwcht und hinzufgt, dass Vertreter solcher „comprehensive doctrines, religious or non-religious“, sich sehr wohl ffentlich ußern knnen, doch sollten fr alle ffentlich-politischen Stel- lungnahmen stets auch allgemein verstndliche politische Grnde (political rea- sons) genannt werden, die jedermann einleuchten knnen, und nicht nur Argumen- te, die nur im Rahmen einer umfassenden Weltanschauung berzeugen knnen.19

13 Ebd.

14 Ebd., 317.

15 Ebd., 317 f.

16 Ebd., 317.

17 Ebd., 326.

18 Ebd.

19 Vgl. Rawls (1997), 783 f.

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Wenn Rawls hier auch bestreitet, dass religise Lehren als eine Artikulation des geforderten „ffentlichen Vernunftgebrauchs“ betrachtet werden knnen, so spricht er ihnen dennoch nicht grundstzlich jegliche Vernnftigkeit ab. Auch re- ligise Lehren besitzen fr ihn einen vernnftigen Grundzug, der ihnen bzw. ihren Trgern nicht einfach im Namen einer skularistisch verhrteten Rationalitt abge- sprochen werden darf; dies verlangen fr Rawls bereits die Grundstze der Gerech- tigkeit. Bei dieser Annahme geht Rawls davon aus, dass Personen, die miteinander nicht nur strategisch-rational, sondern auch vernnftig und fair kooperieren,20

„vernnftige umfassende Lehren bejahen“.21Diese sind fr Rawls durch drei Merk- male ausgezeichnet, die allesamt prinzipiell auch auf die Aussagen der in einer demokratischen Gesellschaft miteinander kooperierenden Religionsgemeinschaf- ten zutreffen. Vernnftige umfassende Lehren sind fr ihn erstens „das Ergebnis des Gebrauchs unserertheoretischen Vernunft“, die Rawls so versteht, dass „sie die wichtigsten religisen, philosophischen und moralischen Aspekte des mensch- lichen Lebens in mehr oder weniger widerspruchsfreier und kohrenter Weise ab(deckt).“22 Jede dieser Lehren realisiert ihr Programm so, dass sie sichzweitens von den anderen Lehren durch die Auswahl spezifischer Werte, denen sie einen besonderen Vorrang zuerkennt, unterscheidet, worin sich fr Rawls unsereprakti- sche Vernunftartikuliert. EindrittesMerkmal der Vernnftigkeit umfassender Leh- ren sieht Rawls darin, dass sie aus einer fr sie maßgeblichen „intellektuellen oder doktrinellen Tradition“ stammen, in der ber lngere Zeitrume hinweg hinrei- chend gute Grnde fr die jeweilige Lehre von ihren Anhngern entwickelt wur- den, ber die in aller Regel auch intellektuelle Krisen und Umbrche vernnftig bearbeitet werden konnten. Mit seiner Anerkennung der Vernnftigkeit umfassen- der, also auch religiser Lehren, vermeidet es Rawls, „Lehren als unvernnftig aus- zuschließen, ohne starke Grnde dafr zu haben, die in unzweifelhaften Aspekten des Vernnftigen selbst verankert sind. Andernfalls liefe unsere Darstellung Ge- fahr“, schreibt Rawls, „willkrlich und exklusiv zu werden“.23Auch wenn den um- fassenden Lehren somit nicht der Vernunftcharakter abgesprochen werden kann, so sind sie als solche doch keine Artikulationen der „ffentlichen Vernunft“, son- dern der „nicht-ffentlichen Vernunft“. „Die nicht-ffentliche Vernunft“, schreibt Rawls,

umfasst die verschiedenen Formen des Vernunftgebrauchs in der brgerlichen Gesellschaft und ist ein Teil dessen, was ich in Gegenberstellung zur ffentlichen politischen Kultur die

„Hintergrundkultur“ genannt habe. Diese Formen des Vernunftgebrauchs sind sozial und ge- wiß nicht privat.24

20 Zur systematischen Unterscheidung von „vernnftig“ und „rational“ bei Rawls vgl. Rawls (1998), 120–

127.

21 Ebd., 133.

22 Ebd.

23 Ebd., 134.

24 Ebd., 321.

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Przisierend fgt er hinzu: „Die Unterscheidung zwischen ‚ffentlich‘ und ‚nicht- ffentlich‘ ist nicht identisch mit der zwischen ‚ffentlich‘ und ‚privat‘“;25 denn genau betrachtet „gibt es keine private Vernunft“.26

2. ffentliche Vernunft und Religion

Diese Position von Rawls hatte lebhafte Debatten nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland und andernorts ausgelst,27 auf die sich Jrgen Habermas in seinen jngsten Publikationen bezieht.28 So wendet er sich beispielsweise gegen Robert Audi, der sich in der Sache John Rawls anschließt und ein allgemeines

„Prinzip der skularen Rechtfertigung“ vertritt:

One has a prima facie obligation not to advocate or supportany law or public policy[…]

unless one has, and is willing to offer, adequatesecular reasonsfor this advocacy or support.

– Ein jeder hat die prima facie-Verpflichtung, kein Gesetz und keine politische Maßnahme zu vertreten oder zu untersttzen, es sei denn, er/sie hat hierfr gute skulare Grnde und ist willens, diese vorzutragen.29

Habermas verweist auf die Grenzen der Zumutbarkeit, die mit der von Robert Audi aufgestellten Forderung fr religise Brger verbunden ist. So hat fr ihn bereits der Einwand Gewicht, dass eine solche Forderung viele religis orientierte Brgerfaktischberfordert und so aus dem Diskursuniversum der politischen De- batten ausschließt. Schwerwiegender erscheint ihm jedoch das insbesondere von Nicholas Woltersdorff vorgetragenenormativeArgument, dass der religise Brger in seinem Glauben nicht nur einen Inhalt oder eine Doktrin affirmiert (eine „fides quae creditur“, wie Habermas unter Verweis auf Augustinus schreibt), sondern aus seinem Glauben (im Sinne einer „fides qua creditur“) sein Leben lebt und im Glau- ben somit eine Quelle besitzt, „aus der sich performativ das ganze Leben des Glu- bigen speist“.30 Bereits diese Beschreibung lsst deutlich werden, welchen spezi- fischen Typ eines von ihm als „religis“ bestimmten Brgers Jrgen Habermas im Blick hat. Habermas bezieht sich in seiner Beschreibung auf den Typ eines Men- schen, dessen Existenzintegraldurch den Habitus des „Glaubens“ bestimmt ist und dessengesamteepistemische Einstellungen durch das Frwahrhalten eines „unan- tastbaren Kerns von infalliblen Offenbarungswahrheiten“31bestimmt sind. So ist es sicher eine empirisch entscheidbare Frage, ob wir in der Realitt der modernen Gesellschaften, die einen hohen Grad interner Differenzierung von Rollen, Auf- gaben und Einstellungen von den in ihnen lebenden Menschen verlangen, tatsch- lich auf eine nennenswerte Anzahl so beschreibbarer Brger stoßen knnen. Doch

25 Ebd., Anm. 7.

26 Ebd.

27 Vgl. hierzu Schmidt (2006), 35–51.

28 Habermas (2005b).

29 Audi/Woltersdorff (1997), 25.

30 Habermas (2005b), 133.

31 Ebd., 135.

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diesen Gesichtspunkt mchte ich hier ausblenden. Bereits die von Habermas vor- gelegte Beschreibung eines solchen „religisen“ Brgers sttzt seine Vermutung, dass es einem solchen Menschen kaum mglich und daher auch schwer zumutbar ist, seine eigenen berzeugungen, die einen integralen Bestandteil seiner Persn- lichkeit ausmachen, einer „vorbehaltlose[n] diskursive[n] Errterung“32 auszuset- zen. „Jedenfalls muß der liberale Staat“, der sich als ein nicht-laizistischer, sondern skularer Staat nicht nur allen Religionsgemeinschaften gegenber unparteiisch verhalten muss, sondern auchpositiv„alle religisen Lebensformen gleichermaßen schtzt, religise Brger dann, wenn sie das als Angriff auf ihre persnliche Identi- tt empfinden, von der Zumutung entbinden, in der politischen ffentlichkeit sel- ber eine strikte Trennung zwischen skularen und religisen Grnden vorzuneh- men“.33

Worin liegt aber eigentlich die von Habermas ins Zentrum seiner Besorgnis ge- rckte „Zumutung“? Sie besteht offensichtlich in der kognitiven Fhigkeit, seinen eigenen Standpunkt auch „reflexiv von außen“ betrachten zu knnen und ihn mit den Argumenten anderer Personen, die die eigenen (Glaubens)Prmissen nicht tei- len, abzugleichen. Es ist einigermaßen erstaunlich, dass Habermas diese „episte- mische Fhigkeit“ dem „religisen Brger“ nicht zutraut, sie ihm jedenfalls nicht gegen dessen Willen abverlangen mchte; denn gerade Habermas hatte bisher in den philosophischen Debatten und Auseinandersetzungen mit den Vertretern einer postmodernen Vernunftskepsis und eines relativistischen Kontextualismus stets mit guten Grnden auf der Unhintergehbarkeit der „kommunikativen Vernunft“ be- standen und darauf hingewiesen, dass den Teilnehmern eines verstndigungsorien- tierten Gesprchs im Prinzip die hierzu notwendige Selbstdistanzierung gelingen kann. So hatte er beispielsweise gegen Richard Rorty darauf hingewiesen, dass alle Kulturen und Sprachen „die Mglichkeit [bieten], zwischen dem, was wahr ist, und dem, was wir fr wahr halten, zu unterscheiden“.34Diese bereits in unserer Sprache angelegte Fhigkeit gestattet es, dass wir uns ber Sachverhalte in der Welt, ber Normen und Lebensmuster, ber Handlungsziele und Interessendifferenzen argu- mentativ mit anderen austauschen knnen. Offensichtlich soll dies nun im Fall unserer Glaubensunterschiede und religisen Lehren nicht oder nur sehr schwer mglich sein. Diese kognitive Sonderstellung teilt die Religion fr Habermas mit der Kunst: Beiden spricht Habermas einen „opaken“ oder kognitiv „undurchdring- lichen Kern“ zu, den er in die innerste „Erfahrung“ des Menschen verlegt und den das diskursive Denken „als abgrndig fremd“ nur umkreisen, aber nicht kognitiv verstehen kann.35

Angesichts dieser Ausgangslage bieten sich fr Habermas zwei Strategien an, wie das skulare Denken der ffentlichen Vernunft mit dem Faktum der Religion in der pluralistischen Gesellschaft umgehen kann: Originr religise ußerungen sollen bei staatlichen Amtspersonen und bei offiziellen Handlungen des Staates nicht zu-

32 Ebd.

33 Ebd.

34 Habermas (1988), 178.

35 Vgl. Habermas (2005b), 150.

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gelassen werden. „Religisen Brgern“, die fr ffentliche mter auch nur kan- didieren, noch mehr solchen, die staatliche Aufgaben wahrnehmen, sind nach Ha- bermas Begrndungen ihres Handelns im Rekurs auf ihr religises Bekenntnis im Namen der skularen Verfassung und der geforderten Trennung von Staat und Kir- chen untersagt. Im Raum der gesellschaftlichen ffentlichkeit aber sind originr religise Stellungnahmen zuzulassen, und immer dann, wenn die Vertreter solcher ußerungen, also die „religisen Brger“, selbst nicht in der Lage sind, ihre Hand- lungsgrnde in skulare Argumente zu transponieren, soll diese bersetzungsarbeit kooperativ geleistet werden. Das heißt, dass sich an ihr auch die „skularen“,

„nicht-religisen Brger“ beteiligen, von denen Habermas offenbar unterstellt, dass sie ihrerseits keine „umfassende“ Sicht der Welt mit letztem Wahrheitsanspruch im Sinne der Rawlschen „comprehensive doctrines“ vertreten.

Hier drngt sich die Frage auf, ob die Konstruktion eines solchen „skularen Br- gers“, der keine mit seiner Lebensform verbundenen letzten Wahrheitsansprche vertritt, wie unexpliziert oder unartikuliert auch immer, realistisch ist. Anders als die Frage der Realittshaltigkeit der Konstruktion des „religisen Brgers“ ist diese Frage fr die weitere Diskussion nicht peripher; Habermas sieht nmlich den von ihm als „skular“ qualifizierten Brger gegenber dem „religisen Brger“ im Blick auf die Forderungen der „ffentlichen Vernunft“ in einer kognitiv besseren Aus- gangslage, da er ihm die Fhigkeit zum rechten Gebrauch der Vernunft ohne weitere Einschrnkungen zutraut. Im Blick auf die Hintergrundberzeugungen, die wir im Welt- und Selbstverstndnis der „skularen Brger“ hufig antreffen knnen und auf die die Beschreibung der „comprehensive non-religious doctrines“ von Rawls przise zutreffen, scheinen wir von einem solchen kognitiven Vorrang der „skula- ren“ Weltanschauung jedoch nicht ausgehen zu knnen. John Rawls hatte diesem Umstand in seiner Skizze der pluralistischen Gesellschaften der Moderne und der normativen Forderung, wie mit dem weltanschaulichen Pluralismus demokratisch umgegangen werden soll, dadurch besser Rechnung getragen, dass er nicht nur die Stellungnahmen der Vertreter der Religionen aus dem Diskurs der „ffentlichen Vernunft“ ausschließt, sondern gleichermaßen alle Stellungnahmen, die als „com- prehensive doctrines“ mit einem letzten, gewissermaßen „metaphysischen“ Wahr- heitsanspruch zu verstehen sind. Darunter fallen aber auch solche „nicht-religi- sen“ Weltbilder oder wissenschaftlich auftretende Welt- und Selbstbeschreibungen, die in irgendeiner Weise auf die Frage nach einem Lebenssinn oder Glck des Lebens der Menschen bezogen sind. Doch diese als „nicht-religis“ qualifizierten, gleich- wohl von ihrem epistemischen Status her betrachtet doktrinell nicht weniger „um- fassenden“ berzeugungen und Hintergrundannahmen vieler sich selbst „skular“

verstehenden Brger werden bei den berlegungen von Habermas weitgehend aus- gespart. Dadurch entsteht aber unwillkrlich ein epistemologisches Ungleichge- wicht zwischen den so genannten „religisen“ und „skularen“ Brgern, aus dem in der weiteren Argumentation bei Habermas ein Vorrang der „skularen Brger“

folgt, von dem aber in der Sache nicht ohne weiteres ausgegangen werden darf.

Dieser vermeintliche Erkenntnisvorteil der „skularen Brger“ gegenber den

„religisen“ soll bei Habermas jedoch durch Forderungen an die Seite der „skula- ren“ fair ausgeglichen werden; denn die Brde, die „religisen Brgern“ in Form des

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bersetzungsvorbehalts begegnet, dem alle „religisen“ ußerungen unterworfen sind, bevor sie die Schwelle der staatlichen Institutionen berschreiten drfen, soll nach Habermas dadurch kompensiert werden, dass den „nicht-religisen“ Brgern zugemutet wird, an der bersetzung von „religisen“ in „skulare“ Argumente mit- zuarbeiten. Das verlangt von den „nicht-religisen“ Brgern, dass sie ihrerseits ein mglicherweise „skularistisch verhrtetes Selbstverstndnis“ korrigieren und von dem berlieferten szientistischen Vorurteil abrcken, in den Stellungnahmen der Religion prinzipiell nichts anderes als Obskurantismus, Unwahrheit oder vorauf- geklrte Ideologien zu sehen. Jrgen Habermas artikuliert mit diesem Postulat eine Einsicht, die in den europischen Zivilgesellschaften heute offenbar noch keines- wegs selbstverstndlich ist und sich einer allgemein uneingeschrnkten Zustim- mung erfreut. Auch dies markiert einen Unterschied zu Rawls’ Ausfhrungen zum

„Politischen Liberalismus“, der von den Erfahrungen mit der US-amerikanischen Zivilgesellschaft in der zweiten Hlfte des 20. Jahrhunderts ausgeht. Die geforderte kooperative bersetzung von „religisen“ Stellungnahmen durch sowohl „religi- se“ als auch „nicht-religise“ Brger in einer pluralistischen Gesellschaft beschreibt Jrgen Habermas denn auch als ein normatives Postulat fr eine „postskulare Gesellschaft“, das erst noch eingelst werden muss; eine postskulare Zivilgesell- schaft unterscheidet sich nmlich von einer noch in „skularistischen Vorurteilen“

befangenen Gesellschaft dadurch, dass in ihrem ffentlich geteilten Selbstverstnd- nis der Standpunkt eines im 19. und 20. Jahrhunderts dominierenden weltanschau- lichen Szientismus allgemein berwunden ist. So fordert Habermas fr eine post- skulare Gesellschaft, dass zumindest die große Mehrheit der in ihr lebenden Zeitgenossen aus guten epistemologischen Grnden von der kognitiven Erwartung ausgeht, dass selbst unter den Bedingungen einer fortschreitenden Skularisierung die Gesellschaft als ganze dauerhaft auf Einsichten und Impulse angewiesen ist und bleibt, die von den Vertretern der Religion eingebracht werden knnen. Mit diesem Postulat zieht Habermas die praktisch-normativen Konsequenzen aus der vernder- ten theoretischen Einsicht in die Bedeutung der Religion „nach der Religionskritik“, die durch die zeitgenssische Philosophie formuliert worden ist.36

3. Die Grundlegung von „Religion“ im Paradox des Glaubensvollzugs Mit der Anweisung, wie die „skularen“ oder „nicht-religisen“ Brger mit reli- gisen Stellungnahmen im Raum der pluralistischen ffentlichkeit der Gesellschaft umgehen sollen, beschreibt Habermas in der Sache nichts anderes alsseine eigene religionsphilosophische Position. Das Grundmuster hierfr sieht Habermas in der Philosophie Kants und ihrer Wirkungsgeschichte vorformuliert, so bei Friedrich Schleiermacher und vor allem bei Sren Kierkegaard.37Dabei ist Kant fr Habermas nicht nur der entscheidende Wegbereiter eines „nachmetaphysischen Denkens“, sondern auch einer semantischen Aneignung religiser berlieferungen durch die

36 Vgl. hierzu Lutz-Bachmann (2001).

37 Habermas (2005c).

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Philosophie, „ohne die Grenze zwischen den Universen des Glaubens und des Wis- sens zu verwischen“.38Inwieweit Kant von Habermas zu Recht als ein „nachmeta- physischer“ Philosoph im strikten Sinn bezeichnet werden kann, soll hier nicht diskutiert werden, ebenso wenig wie die von Habermas vorgelegte Rekonstruktion der Argumente Kants fr die vernnftige Annahme der Existenz Gottes im Rahmen der „Dialektik“ derKritik der praktischen Vernunft39oder seine Interpretation von Kants Idee einer „Stiftung eines Reiches Gottes auf Erden“40als Begleitung der Er- richtung eines „ethisch gemeinen Wesens“ in Kants Religionsschrift. Habermas geht jedenfalls – ob zu Recht, sei dahingestellt – von der Annahme aus, dass durch Kants Philosophie die Austreibung derspekulativ gestelltenGottesfrage aus dem Wissen, das unsere theoretische und praktische Vernunft erreichen kann, grundgelegt wor- den ist, und er sieht damit einen neuen Weg erffnet, die Bedeutung von Religion philosophisch korrekt zu thematisieren, nmlich alleine aus der Perspektive eines vom Wissen getrennten Glaubens. Die von Habermas „nachmetaphysisch“ genann- te Perspektive der Religionsphilosophie fhrt Friedrich Schleiermacher dazu, die Religion ganz auf das subjektiveGefhldes Glubigen zu grnden, whrend Sren Kierkegaard den Weg eines Zugangs zum religisen Glauben aus der Rekonstruk- tion einer fr die Moderne typischen inneren Erfahrungwhlt, nmlich aus der Zerrissenheit des Subjekts und seiner existentiellen Verzweiflung. Als nachmeta- physische Denker fordern Schleiermacher und Kierkegaard von einer skularen Philosophie, „die Religion als ein Gegenber auf gleicher Augenhhe zu akzeptie- ren“.41 Das ist ihnen nach Habermas gelungen, weil sie „das Christentum aus der Verbindung mit der griechischen Metaphysik lsen“.42

Friedrich Schleiermacher und Sren Kierkegaard erffnen Habermas somit sys- tematisch den philosophischen Zugang zum Phnomen der Religion. So setzt Schleiermacher in seinen Reden ber die Religion aus dem Jahr 1799 mit einer erkenntnistheoretisch aufschlussreichen Analyse des religisen Selbstbewusstseins an und weist auf diesem Weg im Anschluss an die drei Kritiken Kants das Gefhl der Frmmigkeit als einen gleichsam transzendental gerechtfertigten, eigenstndi- gen „Erkenntnismodus“ des Menschen aus. So kann er dem auf dieses Gefhl gesttzten religisen Glauben neben den Leistungen des theoretischen Verstands, der praktischen Vernunft und der sthetischen Urteilskraft einen philosophisch gerechtfertigten eigenstndigen Platz zuweisen, ohne dass allerdings die Grenzen zwischen dem menschlichen Wissen und seinem Glauben verschwimmen.43 Ge- genber dieser bei Schleiermacher noch immer vernunftkonformen Begrndung des religisen Glaubens beschreitet Sren Kierkegaard den Weg einerparadoxalen

38 Ebd., 218.

39 Vgl. hierzu Kant,Kritik der praktischen Vernunft, A 223-A 241.

40 Vgl. hierzu Kant,Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 127/A 119–B 222/A 208;

vgl. hierzu Lutz-Bachmann (2005).

41 Habermas (2005c), 251.

42 Ebd.

43 Vgl. Schleiermacher (1958).

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Erschließungder Religion durch einen „Sprung“ in die Lebensform der religisen Existenz. In seiner 1849 erschienenen SchriftDie Krankheit zum Tode44 legt Kier- kegaard eine philosophische Deutung der existentiellen Verzweiflung vor, die dem Subjekt der Moderne aus seiner Einsicht in das abgrndige Scheitern seiner ver- zweifelten Suche nach dem „Selbst“ schließlich nur die Mglichkeit einer Abkehr vom Weg der Vernunft berhaupt nahelegt. Die von Kierkegaard im Blick auf den religisen Glauben skizzierte „Umkehr“ erffnet dem Menschen die Rettung von Freiheit und sittlicher Autonomie alleine im Akt der Anerkennung seiner unend- lichen Abhngigkeit von Gott. Der religise Glaube erscheint so als das absolut Andere der Vernunft. Beide Philosophen, Schleiermacher und Kierkegaard, argu- mentieren fr Habermas im Horizont einer „nachmetaphysischen Vernunft“. Wir knnen sie zur Vermeidung von Missverstndnissen45auch einfach als die endliche Vernunft von uns als sprachlich-kontingent erkennenden und gesellschaftlich-situ- iert handelnden Lebewesen bezeichnen. Zu Kierkegaard merkt Habermas an, dass dieser der erste Philosoph in der Geschichte der Philosophie nach Kant ist, der

das nachmetaphysische Denken mit der unberbrckbaren Heterogenitt eines Glaubens [konfrontiert], der die anthropozentrische Sicht des innerweltlich ansetzenden Denkens kom- promisslos leugnet.46

Die von Jrgen Habermas im Anschluss an Kierkegaard ins Zentrum seiner ei- genen religionsphilosophischen berlegungen gerckte Heterogenitt religisen Glaubens liegt darin begrndet, dass der Glaube fr den Menschen eine existen- tielle Gewissheit nicht mehr aus seiner als endlich und fallibel erfahrenen Er- kenntniskraft erwartet und Moralitt nicht mehr aus der in der Vernunft des Men- schen gegrndeten Autonomie. Die Freiheit des Menschen erhofft der heterogene Glaube angesichts seiner Schuld alleine aus der zuvorkommenden Gnade. Der von Kierkegaard gewiesene Zugang zum religisen Glauben – im Ausgang von der Erfahrung der „Krankheit zum Tode“ genannten Verzweiflung – setzt fr Haber- mas die philosophische Absage an das Konzept von „Metaphysik“ voraus; denn Habermas zufolge prtendiert das metaphysische Denken, mit seinen Grundbegrif- fen immer schon Vernunft und Glauben, Welt und Gott spekulativ vermittelt zu haben. Insofern sieht Habermas in der Kritik Kierkegaards an Hegel zugleich den Bruch von Kierkegaard mit der gesamten Symbiose von Metaphysik und christli- cher Gotteslehre vollzogen. Unter den Bedingungen des nachmetaphysischen Den- kens aber gewinnen fr Habermas die Erfahrungen, die Kierkegaards Denken an- leiten, ein solches philosophisches Gewicht, dass sich die Philosophie als ganze grundlegenden Zweifeln ausgesetzt sieht. Es ist diese Herausforderung, „durch die die Philosophie erst ein ernstlich dialektisches Verhltnis zum Bereich der religisen Erfahrung [gewinnt].“47Doch auch wenn der nachmetaphysische Philo- soph mit Kierkegaard dessen Zugang zur Beschreibung des Phnomens der Ver- zweiflung teilen mag – die Motive und strikt innersubjektiven Grnde, die den

44 Vgl. Kierkegaard (1957).

45 Vgl. hierzu Lutz-Bachmann (2002).

46 Habermas (2005c), 251.

47 Ebd.

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Menschen schließlich zur religisen Entscheidung und zur Annahme der Haltung des Glaubens fhren, kann sich die Philosophie mit ihren begrifflichen Mitteln nicht erschließen. Hier endet die Zustndigkeit einer nachmetaphysischen Philoso- phie, und der „Kern“ jener weitergehenden „Erfahrung“, die den Glubigen schließlich zum Sprung in den Glauben bewegen, ist fr Habermas so dunkel wie eine „black box“. Dieser Kern „entzieht sich dem skularisierenden Zugriff der philosophischen Analyse auf hnliche Weise wie auch die sthetische Erfahrung dem rationalisierenden Zugriff trotzt.“48

Daraus ergibt sich folgender Befund: Die nachmetaphysische Philosophie kann sich zu der nachmetaphysisch erschlossenen, ganz auf die innere Glaubenserfah- rung gestellten Religion in ein Verhltnis setzen. Dabei bernimmt die Religion die Aufgabe, die innersten, existentiellen Erfahrungen in einer nur dem Glubigen selbst aus der Perspektive der ersten Person Singular zugnglichen Sprache zu ar- tikulieren, whrend die Philosophie versucht, die in der Sprache der Religion for- mulierten „semantischen Gehalte“, die allerdings keinen Anspruch auf ein intersub- jektives Wissen erheben knnen, in eine skulare Sprache zu bersetzen und sie so behutsam interpretatorisch zu retten, nicht aber zu zerstren. Den „profanen Wahr- heitsgehalt“49 der religisen Semantik vermutet Habermas in der Richtung einer antizipatorischen Beschreibung eines heilen, eines gelingenden solidarischen Le- bens von uns Menschen. Diese besitzt „eine inspirierende Kraft fr die ganze Gesell- schaft“,50 solange es dieser nicht gelingt, diese religise Vision des Heils fr alle, insbesondere aber fr die vom Neuen Testament favorisierten Mhseligen und Be- ladenen zu verwirklichen. Dabei, schreibt Habermas, „verhlt sich“ das von ihm vertretene nachmetaphysische Denken

zur Religion lernbereit und agnostisch zugleich. Es besteht auf der Differenz zwischen Glaubensgewissheiten und ffentlich kritisierbaren Geltungsansprchen, enthlt sich aber der rationalistischen Anmaßung, selber zu entscheiden, was in den religisen Lehren ver- nnftig und was unvernnftig ist. Die Gehalte, die sich die Vernunft durch bersetzung an- eignet, mssen dem Glauben nicht verloren gehen. Aber eine Apologie des Glaubens mit phi- losophischen Mitteln ist nicht Sache der agnostisch bleibenden Philosophie.51

4. Religion in der demokratischen ffentlichkeit

Die epistemologische Beschreibung der kognitiven Verfassung eines religisen Menschen, wie sie uns Habermas im Anschluss an Kierkegaards paradoxalen

„Sprung“ in die Haltung eines „heterogenen Glaubens“ vorlegt, stellt auch in der Moderne bestenfalls eine Sonderform des religisen Bewusstseins dar, die mit Si- cherheit nicht verallgemeinert werden kann. Dies indizieren jedenfalls die unter- schiedlichen Zugnge und Interpretationen, die im breiten Spektrum der sich

48 Ebd.

49 Habermas (2005b), 149.

50 Ebd.

51 Ebd., 149 f.

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„nachmetaphysisch“ verstehenden, aber nicht prinzipiell vernunftskeptischen reli- gionsphilosophischen Anstze vorgelegt wurden, so vom Neukantianismus und der Phnomenologie, ber den Pragmatismus bis hin zur Analytischen Philosophie.52 Aus der Perspektive dieser untereinander hchst unterschiedlichen Anstze zeigen sich eben auch unterschiedliche Einschtzungen des kognitiven Status religiser Aussagen, und diese Differenz lsst auch das Verhltnis von Glauben und Wissen, Religion und ffentlicher Vernunft in einem jeweils anderen Licht erscheinen. Auch wenn ich diesen Gesichtspunkt hier nicht weiter vertiefen kann, so mchte ich im Folgenden zeigen, dass selbst dann, wenn wir dem Einstieg in die Bestimmung des religisen Bewusstseins ber Kierkegaard folgen, nicht das abgeleitet werden kann, was Jrgen Habermas aus ihm zu folgern sucht. Das hat natrlich auch Folgen fr die Bestimmung des Verhltnisses von Demokratie, ffentlicher Vernunft und Reli- gion.

Unter den genannten Voraussetzungen ist der Feststellung von Habermas zuzu- stimmen, dass sich der Philosophie nicht die innersten Willensgrnde erschließen, die einen Menschen veranlassen, der – wie bei Kierkegaard beschrieben – abgrund- tief an sich selbst verzweifelt, sich trotzdem im Ganzen seiner Existenz mit Vertrau- en und Hoffnung auf die Gnade einzulassen. Die Philosophie kann eine solche wil- lentliche Entscheidung, die die gesamte Existenz eines Menschen betrifft und von Grund auf ndert, gleichsam nur von außen zur Kenntnis nehmen, ohne jedoch ber die Vernnftigkeit oder Unvernnftigkeit eines solchen Willensakts zu einem Urteil befugt zu sein. Das zuzugeben heißt aber nicht zu behaupten, dass die Phi- losophie mit ihren diskursiven Mitteln zu diesem Willensakt weiter nichts begrn- det sagen kann. Vielmehr bleibt der Philosophie hiererstensnoch immer die Auf- gabe, rational verstehen und sogar diskursiv berprfen zu knnen, dass bzw. ob dieWahl des Glaubensund derAkt des Glaubensvollzugs(hier noch immer verstan- den wie bisher im Sinne einer„fides qua“) durch den Glubigen mit einer gewissen inneren Logik aus der Situation der Verzweiflung, also gewissermaßen „ex negati- vo“, erfolgt, wie es Kierkegaard mit den philosophischen Mitteln seiner existenz- dialektischen Analyse beschrieben hatte. Sie kann darber hinaus aber auchzwei- tensden besonderenInhalt des Glaubens(nun im Sinne einer„fides quae“), auf den sich der Willensakt bezieht, auch losgelst vom spezifischen Kontext der existen- tiellen Bedeutsamkeit fr ein bestimmtes Subjekt diskursiv verstehen. Das gilt auch fr denjenigen, der auf diesem Weg selbst zum Glauben gekommen ist; denn in seiner Einstellung des Glaubens muss er „etwas“ verstanden haben, auf das er sich im Vollzug seines Glaubens vertrauensvoll beziehen kann, damit sein glubiges Vertrauen zu Recht „Vertrauen auf etwas“ oder auch „Vertrauen auf jemanden“

genannt werden kann. Ohne eine solche Referenz auf etwasoder jemanden,d. h.

ohne jedenInhalt wre der Vertrauensakt des Glaubens selbst fr den Glubigen vllig blind und nicht als ein „Vertrauen auf“ zu verstehen. Das aber bedeutet fr die Philosophie, dass sie sich diesen semantischen Glaubensgehalt, das „Was“ oder

52 Vgl. hierzu Forum fr Philosophie Bad Homburg (1996) (mit einer umfangreichen Bibliographie zur Religionsphilosophie nach 1945); Jung/Moxter/Schmidt (2000); Dethloff/Nagl/Wolfram (2002); Uhl/Boel- derl (2003) oder Ricken (2003).

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das „Woraufhin“ des Glaubensakts, diskursiv aneignen kann, auch unabhngig vom Glaubensvollzug des Glubigen. Dieser Gehalt kann weiterhin mit anderen Aussagen abgeglichen werden, seien es theoretische Aussagen ber die Welt oder praktische Aussagen ber moralische Normen und Werte, und so einer weiterge- henden argumentativen Errterung zugefhrt werden. Damit aber ist die Mglich- keit einer kritischen berprfung des fr den Glauben konstitutiven Bestands von Behauptungen angelegt; das religise „Sprachspiel“, wie es von Habermas gedeutet wird, kann nmlich nur dann performativ fr jemandenbedeutsam sein und sich existentiellim Leben eines Glubigenintegralauswirken, wenn es zugleichetwas Bedeutsameszu sagen hat ber diesen Menschen und seine jetzige Lage in der Welt, oder auch ber die Menschheit insgesamt und die Welt im Ganzen. Aus diesem Grund erheben die Aussagen der Religion auch einen Anspruch nicht nur auf sub- jektive Wahrhaftigkeit, sondern auch auf eine wie auch immer im Einzelnen ber- prfbare, intersubjektiv nachvollziehbare Wahrheit im strengen Sinn. Dabei will ich gerne einrumen, dass sich der Sinn einzelner religiser Aussagen nicht selten nur ber andere Aussagen erschließt, und dass sich damit auch deren Anspruch auf Wahrheit nur vermittelt ber grßere Komplexe von Aussagen oder ber Hand- lungskontexte zu erkennen gibt. Grundstzlich aber gilt auch fr die Aussagen, die das performativ bedeutsame religise „Sprachspiel“ bestimmen, dass sie in einem diskursiv bestimmbaren Verhltnis zu anderen Aussagen ber die Welt und den Menschen stehen. Sonst knnten sie ihre von Kierkegaard beschriebene Funk- tion nicht ernsthaft erfllen.

Dem wird mglicherweise nur derjenige nicht zustimmen knnen, der die Aus- sagen der Religion von vornherein ganz auf eine „therapeutische“ Funktion nach dem Muster des Placebo-Prinzips reduziert. Doch selbst bei einer solchen Interpre- tation wird auf die Ebene der semantischen Bedeutung der religisen Aussagen referiert, wenn auch in Gestalt der Behauptung, dass dem Bedeutungsanspruch re- ligiser Aussagen in der Realitt „nichts Gegenstndliches“ oder „Sachhaltiges“

entspricht, die Extension ihrer zentralen Begriffe (wie etwa des Begriffs Gottes) leer ist. Doch dabei beansprucht der Kritiker, die Intension der Begriffe und damit die Bedeutung der Aussagen der Religion unabhngig vom Akt des Frwahrhaltens vonseiten des Glubigen verstehen zu knnen, weil er sie berhaupt nur unter die- ser Voraussetzung als „illusorisch“ kritisieren kann. Daher knnen wir mit guten Grnden der Philosophie die Aufgabe zuschreiben, mit ihren diskursiven Verfahren den Gehalt der religisen Aussagen gleichsam „von außen“ zu ermitteln und mit der notwendigen hermeneutischen Behutsamkeit den Zusammenhang herauszuarbei- ten, in dem diese mit komplexen Theorien mittlerer und grßerer Reichweite, also mit Metatheorien oder „Theorien zweiter Ordnung“53 in Verbindung stehen. So kann die Philosophie dazu beitragen, die Aussagen der Religion in ein kognitiv nachvollziehbares Verhltnis zu anderen Aussagen zu setzen und auf diesem Weg im skularen Diskurs der ffentlichen Vernunft zur Diskussion zu stellen.

Damit aber entfllt der epistemologische Vorbehalt, den Habermas geltend ge- macht hatte, dass sich nmlich die „nachmetaphysische“ Vernunft zur Religion ver-

53 Vgl. hierzu Lutz-Bachmann (1992).

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hlt wie zur sthetischen Erfahrung, die er jngst noch als den Zustand einer

„sprachlos-sinnlichen Erregung“54 bezeichnet hatte, die die Philosophie mit ihren Vokabeln nur vorsichtig einkreisen kann. Ohne syntaktisch-semantisch versteh- bare, ber das Hier und Jetzt sachlich hinausverweisende Aussagen des Glaubens wre keine „religis“ zu qualifizierende Auflsung der existentiellen Probleme der Verzweiflung bei Kierkegaard zu erwarten, und ein jeder tte gut daran, keinen

„Sprung“ in die Haltung eines solchen Glaubens zu vollziehen, der keinen bestimm- baren Inhalt besitzt. Eine ganz andere Frage ist es aber, ob sich der semantische Gehalt der Aussagen der Religion im Rahmen der berprfung durch die Philoso- phie „besttigen“ lsst oder nicht, d. h. ob er dem Urteil der Vernunft „standhlt“

oder nicht. Kriterien fr eine solche vernunftgeleitete Kritik der Religion sind in der Geschichte der Begegnung und der Auseinandersetzung zwischen der Philosophie und der jdischen, der christlichen sowie der muslimischen Theologie in vielfltiger und auch in durchaus unterschiedlich plausibler Form entwickelt worden, doch sie betreffen nicht primr unsere Fragestellung. So bleibt hier festzuhalten, dass es die syntaktisch-grammatische Struktur und das semantische Potenzial der Sprache der Religion sind (die „fides quae“), die in die Sprache der Philosophie bersetzt und d. h. auch mit philosophischen Argumenten kritisiert werden knnen; denn unbe- schadet ihres Eigensinns sperren sich die Vokabeln und Begriffe, derer sich die Aus- sagen der Religion bedienen, nicht grundstzlich gegen ein Verstehen, das auch unabhngig vom Akt der Zustimmung oder der Ablehnung weiß, wovon die Rede ist und „was auf dem Spiel steht“. Dies erffnet schließlich die Mglichkeit fr eine diskursive Reflexion ihrer Bedeutung in der Begriffssprache der Philosophie, auch wenn ich gerne einrume, dass sich erstensder Philosophie der besondere Gehalt der Aussagen der Religion (was wir als die „fides quae“ bezeichnet hatten) vielleicht niemals voll erschließen mag, und dasszweitensdie performative Dimension der Aussagen des Glaubens, also deren existentielle Bedeutung (die „fides qua“ also), der „nachmetaphysischen“ Philosophie auf eine spezifische Weise unzugnglich bleibt.

Ohne diese Modifikationen erscheint im brigen das gesamte von Habermas ver- folgte Programm einer kooperativen bersetzung der Aussagen der Religion im Raum der ffentlichen Vernunft epistemologisch schwer durchfhrbar. So bleibt die in vielen seiner Texte angedeutete Absicht von Habermas, den „semantischen Gehalt“ der Religion in die „skulare“ Sprache der ffentlichen Vernunft bersetzen zu wollen, reichlich vage. Dieses Faktum berrascht nicht, denn es bleibt innerhalb des konzeptuellen Rahmens bei Habermas systematisch unklar, wie etwas in die skulare Sprache der Philosophie bersetzt werden soll, das zugleich nach dem Muster einer „black box“ beschrieben wird, und dessen Eigensinn nach Art der sthetischen Expression vorgestellt wird. Fr eine „bersetzung“ im nicht-meta- phorischen Sinn des Wortes sind jedochrationale Kriterienunabdingbar. Zu ihnen zhlen das grammatisch-syntaktische Sprachverstehen, die begriffliche Explikation der Bedeutung der zentralen Aussagen bis hin zum Zugang zur sprachlichen Er- schließung der Welt, auf die die verwendeten Begriffe referieren. Wenn Jrgen Ha-

54 Habermas (2005c), 251 f.

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bermas tatschlich eine bersetzung des „semantischen Gehalts“ der Aussagen der Religion fr mglich hlt und es ihm, wie er selbst sagt, in jedem Fall nicht um einen Erbantritt, eine freundliche (also nicht-skularistische) bernahme oder eine freie Nachkomposition geht, dann muss er auch epistemologisch die Mglichkeit einrumen, dass der semantische Gehalt der Aussagen zumindest von denjenigen Religionen, die ihre Lehren auf der Basis von hermeneutisch reflektierten Schrift- traditionen ausformuliert haben, an diskursiv einsichtige, philosophische Theorien mittlerer und grßerer Reichweite angeschlossen werden kann. Ob dieser Anschluss dann allerdings im Resultat positivgelingt oder ob sich hier mit der philosophi- schen Vernunft unvershnlichekognitive Dissonanzenauftun, lsst sich nicht vor und unabhngig von diesen bersetzungsversuchen bestimmen. Dieses Resultat veranlasst mich, der Einschtzung von John Rawls zuzustimmen, der, wie wir ge- sehen hatten, die Aussagen der Religion grundstzlich zu den „vernnftigen um- fassenden Lehren“ zhlt, die von vernnftigen Brgern in den pluralistischen De- mokratien geteilt werden, auch wenn zugleich gilt, dass sie als solche noch nicht bereits den Kriterien der „ffentlichen Vernunft“ entsprechen.

Damit komme ich zur Frage nach der Stellung und Bedeutung von Religion im Rahmen des Konzepts der politischen Demokratie und der diese tragenden plura- listischen Zivilgesellschaft. Wie wir gesehen hatten, knnen wir selbst im Fall einer extrem fideistischen, ja sogar paradoxalen Entscheidung des Menschen fr einen religisen Glauben noch immer den Aktder Annahme dieses Glaubens von dem geglaubtenGehaltunterscheiden. Damit ist selbst fr den hier alleine nur berck- sichtigten Extremfall eines aus der Sicht der Vernunft ganz und gar paradoxal erscheinenden Sprungs in den Glauben die Mglichkeit aufgetan, dass dessen Ge- halt in einem anderen Diskursuniversum als dem des existentiellen Vollzugs des Glaubens verstanden und diskutiert, also argumentativ verworfen, kritisiert oder verteidigt werden kann. Von der Sache des Glaubens her betrachtet gibt es somit keinen guten Grund, dass das Verfahren einer Explikation von Aussagen des Glau- bens vor dem Forum einer „ffentlichen Vernunft“ im Sinne von John Rawls eine Zumutung darstellt; denn diese Vernunft darf nicht mit einer „skularistischen Vernunft“ verwechselt werden. Wie Rawls ausgefhrt hatte, sind auch die inhalt- lichen Hintergrundannahmen und umfassenden Weltdeutungen der anderen um- fassenden Doktrinen, zu denen die „nicht-religisen“ Weltbilder zhlen, in keiner besseren Situation angesichts der Forderungen der „ffentlichen Vernunft“. Wer in einer politischen Demokratie unter Rekurs auf seinen Glauben oder auf seine

„nicht-religise“, aber „umfassende Doktrin“ Forderungen fr sich und andere auf- stellt, wer Beitrge zur Interpretation der Verfassungsprinzipien oder zu den Grundlagen der politischen Gerechtigkeit formuliert, von dem kann und muss ver- langt werden, dass er sie in einer allgemein verstndlichen Sprache, in der Sprache der „ffentlichen Vernunft“ vortrgt. Dieses Postulat brdet keinem der betroffenen Brger eine zu große oder unfaire Last auf. In diesem Sinn mchte ich auch dem von Robert Audi im Anschluss an John Rawls aufgestellten „Prinzip der skularen Rechtfertigung“ zustimmen. Dieses Prinzip setzt epistemologisch ausdrcklich vo- raus, dass auch den Aussagen der Religion, wenn sie die genannten Kriterien er- fllen, an sich der Charakter der „Vernnftigkeit“ zugesprochen werden muss. Was

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in diesem Sinne fr sich betrachtet bereits alsvernnftigqualifiziert ist, von dem kann im Blick auf das Erfordernis des ffentlichen Diskurses uneingeschrnkt ver- langt werden, dass es sich den Kriterien einesffentlichenVernunftgebrauchs stellt.

Da Jrgen Habermas aber, anders als John Rawls, der Religion diese Form von Vernnftigkeit nicht konzediert, lsst er die Religionen im Raum der politischen ffentlichkeit zwar zu, jedoch nur um den Preis, dass er ihnen grundstzlich nicht nur eine unzureichende skulare Vernnftigkeit, sondern auch eine diskursive Un- verstndlichkeit zuschreibt. Die damit verbundene epistemologische „Ghettoisie- rung“ teilen die Religionen mit der Kunst. Doch erscheinen die Grnde, die Haber- mas fr diesen Vorschlag prsentiert, nicht berzeugend, weder aus der Sicht der Religionsphilosophie noch aus der Sicht der politischen Philosophie.

Das im Unterschied hierzu von Robert Audi vertretene, fr alle Religionen gel- tende „Prinzip der skularen Rechtfertigung“ verpflichtet alle Religionsgemein- schaften in der pluralistischen Gesellschaft einer politischen Demokratie, nicht nur eine allgemein verstndliche Sprache im Blick auf die Debatten ber die Prinzipien der Verfassung und der politischen Gerechtigkeit zu entwickeln, sondern auch in einen ernsthaften, weilwahrheitsfokussierten Diskurs zwischen den Religionenein- zutreten. Dieser ist, wie wir gesehen hatten, nicht nur epistemologisch mglich, sondern stellt zugleich eine Forderung ersten Ranges der „ffentlichen Vernunft“

dar. Zu diesem Postulat gesellen sich jedoch noch weitere Grnde, die aus dem Gehalt der Religionen selbst hervorgehen. Ich verweise hier lediglich auf den Um- stand, dass die monotheistischen Religionen, wenn sie ihr Glaubensbekenntnis richtig verstehen,vernnftigerweise,d. h. um ihres eigenen Glaubensgehalts willen, gehalten sind, ihren Glauben „an den einen Gott“ in ein affirmatives Verhltnis zu dem Bekenntnis der anderen theistischen Religionen zu bringen. Dieses Gesprch zwischen den Religionen nimmt im zivilgesellschaftlichen Raum der Theologien und der anderen Wissenschaften der Universitt, der Akademien und der Kirchen die Gestalt einesDialogsan, der den Regeln der Vernunft und der beteiligten wis- senschaftlichen Disziplinen, aber nicht unbedingt den engeren Kriterien des ffent- lichen Vernunftgebrauchs entsprechen muss, also denen des skularen Diskurses.

Zu dem bereits aus der Binnenperspektive der Religionen geforderten Dialog der Religionenmiteinander tragen nmlich entscheidend die Beitrge der wissenschaft- lich verfahrenden Theologie(n) bei, die die Aussagen der Religion gleichsam „von innen“ methodisch-reflektierend explizieren, historisch-hermeneutisch interpretie- ren und argumentativ systematisieren und so der Sache nach unverzichtbare Grundlagen fr das Religionsgesprch legen.55Auf eine andere Weise knnen hier- zu auch die komparativ verfahrenden Religionswissenschaften beitragen, die die religisen Aussagen, methodisch anders als die Theologie(n), aus der distanzierten Beobachterperspektive betrachten und historisch-komparativ verfahrend Gemein- samkeiten und Differenzen zwischen den Religionen herausarbeiten knnen. Vom Dialog zwischen den Religionen, den die Vertreter der Religionsgemeinschaften nur miteinander fhren knnen, unterscheidet sich derReligionsdiskursim Medium der skularen Vernunft, zu dem auch der genannte Diskurs zwischen den Religionen

55 Vgl. hierzu Lutz-Bachmann (2004).

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gezhlt werden kann; denn dieser beschrnkt sich methodisch und thematisch da- rauf, die fr die faire politische Kooperation der Brger in einer Zivilgesellschaft und fr die grundlegenden Auseinandersetzungen ber die demokratischen Prinzi- pien der Verfassung der Republik und die Grundstze der politischen Gerechtigkeit unverzichtbaren epistemologischen Mindestbedingungen im Rahmen der Postulate der ffentlichen Vernunft zu sichern.

Mit der Forderung, den Diskurs zwischen den Religionen auf der kognitiven Grundlage einer „ffentlichen Vernunft“ zu vollziehen, konvergiert auch die prak- tische Einsicht, dass in einer nicht „laizistischen“ bzw. „skularistisch“ geprgten liberalen politischen Ordnung Religionsgemeinschaften einepositiveReligionsfrei- heit genießen, fr die sie selbstverstndlich den Preis der Anerkennung der anderen zahlen mssen, aber eben auch die Bereitschaft zur bersetzung ihrer Argumente in die Sprache der ffentlichen Vernunft. Religise Intoleranz und die fundamentalis- tische Verweigerung, sich dem vielfach mhevollen, aber durchaus zumutbaren Prozess der Rechtfertigung der eigenen ffentlichen Stellungnahmen in der all- gemeinen Sprache der Brgervernunft zu unterziehen, knnen um der sensiblen normativen Grundlagen der Demokratie willen, aber auch um der Wahrheitsfhig- keit der Religion willen nicht akzeptiert werden. So ist dieDelegitimierungnicht nur des religisen Fundamentalismus, sondern aller Fundamentalismen eine zentrale Aufgabe. Dabei knnen wir im Anschluss an die bisherigen berlegungen als eine fundamentalistische Haltung die Weigerung von Vertretern einer „umfassenden Lehre“ definieren, im Raum der demokratischen ffentlichkeit eigene Stellungnah- men nur in bereinstimmung mit den Forderungen des „Prinzips der skularen Rechtfertigung“ vorzutragen. Doch auch wenn der religise Fundamentalismus eine besondere Bedrohung der liberalen Demokratie darstellt, so sollte nicht ber- sehen werden, dass die fundamentalistische Verweigerung nicht nur in den bekann- ten Varianten des religisen Fundamentalismus begegnet, sondern auch in Positio- nen eines szientifisch auftretenden Fundamentalismus auftreten kann, der sich hartnckig weigert, die den Wissenschaften selbst gezogenen methodischen oder epistemologischen Grenzen anzuerkennen. In Folge dessen lehnt es der szienti- fische Fundamentalismus ab, die eigenen Position als eine „comprehensive doctri- ne“ im Sinne von Rawls zu bestimmen, die keinen Anspruch auf eine alle Brger bindende Wahrheit erheben kann.

Bezogen auf die heute mehr denn je virulente Problematik des religisen Fun- damentalismusaber drfen wir unseren Blick nicht nur auf unsere eigenen, nmlich die westlichen Zivilgesellschaften richten. Angesichts der vielfltigen Prozesse der Globalisierung zeigt es sich, dass das Prinzip der normativen Verpflichtung einer ffentlichen Vernunft ein politisches Gebot von hchster Dringlichkeit ist, das sich nicht auf den Westen beschrnken darf. Zu tief greifen die Vernderungen im Ge- folge der Globalisierung in die bislang voneinander abgeschirmten Zivilgesell- schaften und in von ihnen getragenen politischen Ordnungen ein. Es ist auch ein Ausdruck unserer eben auch kulturell zerrissenen und fragmentierten Welt, dass sich die berechtigten Forderungen der ffentlichen Vernunft bislang noch allzu sehr auf „den Westen“ beschrnken. Aber sie gelten, wie die Philosophie zu zeigen versucht, wahrhaft universell, und es liegt an uns, durch geeignetesupranationale

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Institutionen und transnationale politische Maßnahmen56 dafr zu sorgen, dass sowohl ein „clash of civilizations“ als auch ein „clash of religions“ vermieden wird.

Hierzu ist allerdings die Anerkennung der allgemeinen Geltung der Prinzipien der Demokratie und der Forderungen der ffentlichen Vernunft ohne Einschrnkung auch im Maßstab der pluralistischenWeltgesellschaft notwendig. Zu dieser Aner- kennung mag auch die weiterfhrende Einsicht beitragen, dass die Beachtung der Postulate der „ffentlichen Vernunft“ nicht nur im Eigeninteresse der Weltreligio- nen liegt, sondern auch mit der ihnen eigenen „Vernnftigkeit“ konvergiert. Doch das den Religionen auch von John Rawls zugesprochene Vernunftpotenzial kann erst im Horizont einer demokratischen Rechtskultur wirksam zum Vorschein kom- men, die allerdings im Weltmaßstab bislang nur in ersten Anstzen eingefhrt ist.

Die in den Religionen selbst enthaltene „Vernunft“ setzt nmlich den doppelten konstitutionellen Rahmen einer pluralistischen Zivilgesellschaft und einer demo- kratischen politischen Verfassung voraus. Wie wir aber aus der Erfahrung der Ge- schichte der Menschheit wissen und nicht erst aus den bedrngenden Konflikten der Gegenwart, sind die Religionen ohne den ihnenvorgegebenenRahmen einer repu- blikanischen Rechtsordnung von sich aus vielfach nicht in der Lage, das in ihnen angelegte Vernunftpotenzial wirklich angemessen auszuschpfen und auch ffent- lich wirksam zur Geltung zu bringen.

LITERATURVERZEICHNIS

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56 Vgl. hierzu u. a. Habermas (2005d).

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ABSTRACTS

Fr Theorien des demokratischen ffentlichen Rechts und des republikanischen Verfassungsstaats, die wie bei John Rawls und Jrgen Habermas auf starken Konzeptionen „ffentlicher Vernunft“ aufbauen, stellen sich unausweichlich auch Fragen nach der epistemischen Bedeutung und der institutionellen Rolle von Religion in der pluralistischen Gesellschaft. Auf der Grundlage einer philosophischen Anerkennung der Wahrheitsfhigkeit und Wahrheitsverpflichtung auch fr religise Aussagen in ffentlichen Debatten pldiert der Aufsatz fr ein „Prinzip der skularen Rechtfertigung“ von religis begrndeten Stellung- nahmen sowohl im Hinblick auf den ffentlichen „Diskurs der Politik“ als auch fr den „Dialog der Reli- gionen“.

Theories of a democratic public law and a republican constitution of the state like those of John Rawls and Jrgen Habermas which are based on strong conceptions of „public reason“ are necessarily confronted with the problem of the epistemic status and the institutional function of religion in a pluralistic society.

On the basis of a philosophical argument for the possibility of truth-claims of specific religious assertions and for the obligation to be truthful in a strict sense for religious people in the public debate this article argues in favor of a „principle of secular legitimation“ for religious statements concerning both the public

„political discourse“ as well as the „dialogue of religions“.

Referenzen

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