Liechtensteins Verfassung 1992-2003
Patricia M. SchiessRütimann
Christoph Maria Merki:
Liechtensteins Verfassung, 1992-2003.Ein Quellen- und Lesebuch.
ChronosVerlag, Zürich, und Historischer Vereinfürdas Fürstentum Liechtenstein.
Vaduz,Zürich,2015. 747Seiten.
Gebunden.
ISBN978-3-906393-79-7 CHF68.—/EUR62.—
DasBuchvonChristophMariaMerkiüber denvon1992 bis 2003 dauerndenVerfassungskonflikt trägt fast 400 Dokumente zusammen.Siezeigen,wiedieVerfassungs¬
revisionvon2003 zustandekam. Merkibelässtes dabei nichtbei derWiedergabe derTexte, sonderner erklärt die EntwicklungLiechtensteins seit1719. Erbeleuchtet die Hintergründe, die zum Konflikt zwischen Fürst Hans-Adam II. undRegierung sowie Landtagführten.
UnderzeichnetdasVerhalten der Beteiligtenindenver¬
schiedenen Phasen des Konflikts nach. Dabei nimmt ChristophMariaMerki nichtnuraufOriginaldokumente (Thronredendes Fürsten,Parlamentsdebatten,Medien¬
interviews, Leserbriefe,Gutachten etc.) Bezug, sondern erarbeitetauchdiewissenschaftlicheLiteraturauf.Dem LesererschliesstsichsodieLiteraturausundüberLiech¬
tenstein.
Ziele des Buches
Das Buch geht auf die Initiative des Unternehmers Gebhard Sprenger zurück. Sprengers Ziel ist es (S. 7), denVerfassungskonflikt «nachfolgenden Generationen zugänglichzu machenund damit Geschichtsfälschun¬
genvorzubeugen«. «Aussagen, Deutungen, Gutachten, StatementsundMeinungsäusserungen«sollenbereitge¬
stellt werden,damitsichjedermann darüberinformieren kann, unter welchen Umständen die bisher umfang¬
reichsteRevision der liechtensteinischen Verfassungim
Jahr2003zustandekam. DievonChristophMariaMerki
mitneun ZeitzeugengeführtenInterviews (S. 665-718) zeigeneindrücklich, dass die Beteiligten die Ereignisse unterschiedlich beurteilen. Umsowertvollerist diePub¬
likationder Quellen.
Christoph Maria Merki vertraut darauf(S. 10), dass dievon ihmzusammengetragenenund fachkundigein¬
geführten Dokumente direkt zumLeser sprechenund sichdieser eineigenes Urteilbildet. Dieses Ziel erreicht Merki ohneZweifel. Ebensoistihmzuzustimmen, dass esfüreineabschliessendeWertungdesVerfassungskon¬
fliktsnoch zufrühist(S. 10f.).Einerseits,weilnochnicht alle Quellen zugänglichsind, und andererseits, weil es
seit 2003 nicht mehr zu einem solch heftigen Macht¬
kampfzwischen Fürstund Landtag gekommen ist. Ob die 2003 aufVorschlag vonFürst und Erbprinz in die VerfassungaufgenommenenBestimmungenwirklich in derLagesind, Konfliktezwischen denStaatsorganen zu befrieden, ist ungewiss. Oder wie es Merki formuliert
(S. 11, ähnlich S. 718): «Die revidierte Verfassung von
2003hatihre Nagelproble nochvorsich.« DasinderVer¬
fassung von 1921 angelegte Spannungsverhältnis von Demokratie und Monarchie besteht nämlich nach wie vor(S. 12).
Esist zubegrüssen,dassChristophMariaMerkiseine Zurückhaltungim Schlusskapitel (S. 711-718) einStück weit ablegt. Neben einerZusammenfassung der Ereig¬
nisseund der Folgen desVerfassungskonflikts lieferter hierDeutungsangebote. Soweist er daraufhin (S. 716), dassFürstHans-AdamII.von einemsogenanntenElite- Basis-Konflikt,alsovon einem Misstrauen derStimmbe¬
rechtigten gegenüber Regierungund Landtag, profitie¬
ren konnte. Hilfreich waren für den Fürsten gemäss Merki auch die Symbolkraft der Monarchie sowie die Verlustangst derBevölkerung(S. 716). Nichtvergessen werden darf,dassessichbei denMitgliedernvonRegie¬
rung und Landtag
-
anders als beim Landesfürsten-
nichtum Berufspolitikerhandelt (S. 717). Merki kommt zumSchluss, dass die Kritiker derVerfassungsrevision
«von Beginn weg auf verlorenem Posten« kämpften
(S. 717),nichtzuletzt,weildieMonarchieIdentitätstiftet undalsGarantvon Sicherheit dient. FürstHans-AdamII.
nahmim Laufe der Auseinandersetzung verschiedene Rollen ein(S. 715):besorgter Landesvater,Verfassungs¬
theoretiker, Opfervon Monarchiegegnern,Wahrer der Interessen seiner Familie. Ernützte verschiedene Kom¬
munikationsmittel (S. 715): Ansprachenauf der Schloss¬
LIECHTENSTEINS
1992-2003
Ein Quellen-und Lesebuch
kßll\
Historischer VereinfürdasFürstentumLiechtenstein,Jahrbuch Band 115,2016 167
wieseund Thronreden
im
Landtag, Medieninterviews, Leserbriefe, Einsitznahmein
der Verfassungskommis¬sion,Abstimmungswerbung,Empfängeauf demSchloss, VersandeinalleLiechtensteiner Briefkästen.
Gliederung
undInhalt
des BuchesDieEinleitung(S. 9-12)dientnichtnurdemeiligen oder
mit
Liechtenstein wenig vertrauten Leser als Einstieg, sondernsiehebt auchdieBedeutung derMonarchiefür
Liechtensteinhervorundruft
dieFunktionen von Ver¬fassungen
in
Erinnerung.Das Kapitelüber die liechtensteinische Verfassungs¬
geschichte(S. 13-26) setzt 1719
mit
derVereinigung der Herrschaft Schellenbergmit
derGrafschaft Vaduzzum reichsunmittelbaren Fürstentumein. Christoph Maria Merkistreichthervor, welche Entwicklungenin
Liech¬tenstein parallel zu denen
in
anderen europäischen Staaten verliefen (absolutistische Herrschaft, Zugehö¬rigkeit
zu Rheinbundund DeutschemBund,Übertritt
vom Absolutismus zum Konstitutionalismus) undwo¬rin
sichLiechtensteinvon vielen anderen Staatenunter¬schied(Fürst, der
im
Auslandresidiert; Beibehalten der Monarchie nach dem ErstenWeltkrieg). Dabeibeleuch¬tet er die Dienstinstruktion von 1808, die Landständi¬
scheVerfassungvon 1818,die KonstitutionelleVerfas¬
sungvon 1862 unddie Verfassung von 1921. Erst
mit
dieserVerfassung,welche die Monarchie fortsetzteund sichsowohl anösterreichischen Normen orientierte als auch direktdemokratische Elemente nach SchweizerVorbild
integrierte, beschrift Liechtenstein eineneigen¬ständigenWeg.
Im nachfolgenden Kapitel (S. 27-42) vergleicht der
Autor
Liechtensteinmit
anderen europäischen Monar¬chien. In ihnen konzentriertsich derMonarchje länger jemehr aufdas Repräsentativeund Symbolische. Dass dieliechtensteinische Verfassung ein solches Amtsver¬
ständnisnichtvorzeichnetundFürstHans-AdamII. die
Politik
als Staatsoberhaupt aktivgestaltenwollte, lässt ChristophMariaMerki
als eine Ursachefür
den Aus¬bruch des Verfassungskonflikts erkennen (S. 30 f.).
Merkibelässt esnicht beim Vergleich
mit
Monarchien, sondern schlägtfür
Liechtenstein eine Qualifikation als«semipräsidentielle Demokratie« vor,
in
welcher derRe¬gierungschefvom Parlament abberufen werden kann.
nicht aber das Staatsoberhaupt (S. 35). Hilfreich
für
die nichtin
Liechtenstein wohnenden Leser sind MerkisAusführungen
über den respektvollen Umgang der Journalistenmit
der Fürstenfamilie und über den Zu¬gangvonFürstund Erbprinzzu denMedien(S.38).Be¬
reits an dieser Stelle (S. 40 f.) weist der
Autor
auf die hoheMobilisierung
der Bevölkerung anlässlich der Staatskrisevon 1992undvorderVolksabstimmungvon 2003 hin. Interessant ist dabei der Hinweis, dass sich verschiedenepolitische Akteure (insbesondere der Ar¬beitnehmerverbandund die Wirtschaft, aber auch die katholische Kirche)
mit
Stellungnahmen zurückhielten und/oder(sodiepolitischenParteien) keineöffentlichen Veranstaltungendurchführten.IneinemumfangreichenKapitel (S.43-154) stellt der
Autor
den Gang des Konflikts dar. Dabei geht esihm
(S. 43) weniger umeine Deutungdes Konflikts alsum dessenAusbruch, seine «entscheidenden Wegmarken«
unddiehandelndenPersonen. Erläutertwerden hierbei ersteSpannungen
mit
Fürst FranzJosefII. (S.48f.)sowie der «Kunsthausfall« (S. 49-51), die Meinungsverschie¬denheiten bezüglich der Ernennung der Beamtenund Richter (S. 52-54), bevor dann aufdie Staatskrise von
1992 eingegangen
wird.
Regierungund
Fürst Hans- AdamII. stritten dabei über das Datumfür
die Volks¬abstimmung betreffend EWR-Beitritt(S. 56-59). Erwäh¬
nung finden auch das neue Hausgesetz des Fürsten
(S. 63-65)und der«Fall Wille« (S. 65-69). Neue Fakten legt Merki zu diesen Ereignissen nicht vor
-
das ent¬spricht aber auchnicht seinem Auftrag. Wohl aberer- schliessendie Fussnoten dievorhandeneLiteratur.
Obwohl FürstHans-AdamII. bereits
in
seiner Thron¬redevom12.Mai 1993konkrete Vorschläge
für
eineVer¬fassungsänderung unterbreitet hatte (S. 61), sollte es
noch biszum16.März2003dauern(S.85),bisdieStimm¬
berechtigtenüber die von
ihm
und Erbprinz Aloisfor¬muliertenVerfassungsbestimmungen abstimmenkonn¬
ten. ChristophMariaMerkischildert hierbei die Arbeit der drei Verfassungskommissionen (der Landtag hatte sich
-
sieheS.268undS.273-
niemit
demerforderlichen qualifizierten Mehrfür
die Vorlage des Fürsten ausge¬sprochen), wer wann
mit
Indiskretionenan die Öffent¬lichkeit gelangte, wann Fürstund Regierung fachkun¬
dige Unterstützung
im
Ausland anforderten und wie nationale Gerichte und internationale Organe (siehe auchS.643-645) angerufen wurden.168 Rezensionen
Daslängste Kapitel (S. 177-642) gliedertsich nach den Akteuren(Fürstenhaus, Landtag, Regierung, Justiz,in- und ausländische Experten, Parteien, Zeitungen, Zivil¬
gesellschaft).Es lässtihre Ansichten anhand dervonih¬
nen verfassten Dokumente deutlich werden. Vorange¬
stelltwerdenihnenEinführungenzu denAkteurenund ihrem Agieren. Dabei sticht hervor, dass die Gerichte wegen derÄnderungen
im
Richterbestellungsverfahren und der dem Staatsgerichtshof entzogenenKompetenz starkbetroffen waren, sichinderDiskussionaberkaum Gehörverschaffenkonnten(S. 453).Den
in
denMedien geführten Diskursillustrierendie vonChristoph MariaMerkizusammengetragenenLeser¬briefe (S. 487-617), wobei diese
lediglich
einen Aus¬schnitt darstellen, daMerki vonjeder Personhöchstens einen Leserbrief
in
die Sammlung aufgenommen hat(S.486).
Weiterer Forschungsbedarf
Esist zu hoffen,dass Merkis Wunsch(S. 10),weitereUn¬
tersuchungen anzuregen,
in Erfüllung
geht. Soweiter¬sichtlich, steht zumBeispiel der Nachweis, dass Fürst Hans-AdamII. (siehe dazu S. 667) bereits vor der Ab¬
stimmungüber den EWR
mit
der Schweizausgehandelt habe, dass derZollanschlussvertrag fortbestehen könne, wenn Liechtenstein dem EWR beitrete, die Schweizhin¬gegennicht, nochaus.Ebenso,dassdiefürstlicheFamilie beieinerÜbersiedlung nach Österreich als (für sie steu¬
erlich vorteilhaft) exterritorial behandeltwordenwäre (siehedazuS.668). Mehrüber dieStrategieunddenEin¬
fluss der den Fürsten beratenden Werbefachleutezu er¬
fahren(siehedazuS. 674undS.709),wäre ebenfallsauf¬
schlussreich. Da es an einer Untersuchungder Folgen des neuen Richterbestellungsverfahrens fehlt, wären weitereBelegeüberseineEntstehunghilfreich.DieInter¬
views (S. 668 und S. 684) lassennämlichkeinenklaren Schlusszu.
Wenn dereineoder die andere der damalsEngagier¬
ten
-
so wiedie Interviewpartner-
die Ereignissenoch einmalRevuepassierenlässt unddie wichtigenPunktefür
die kommende Generationen festhält, wäre dies zu begrüssen. DieVerbindungvon historischen Textenund rückblickenden Bewertungen von Beteiligten macht nämlicheinenReiz dieses Buchesaus.Historischer VereinfürdasFürstentumLiechtenstein,Jahrbuch Band 115,2016
Sorgfältige Gestaltung
des BuchesChristophMaria Merkiversammelt
in
seinemBuchfast 400Dokumenteverschiedenster Herkunft, die er (zum Teil gekürzt,wennnötigmit
einerEinleitungversehen) unterAngabe derFundstellenwiedergibt.Siefindensich jeweilsim
thematisch und zeitlich passenden Kapitel.Dies
verführt
den Leser dazu, sichin
sie zu vertiefen, underöffnetihm
dieVielfaltderArgumentationslinien.Für die Nachgeborenen sindauch diesorgfältigaus¬
gewähltenFotos(S. 45, S. 57)undAbstimmungsinserate
(S. 626f., S.640f.) von Wert,sagtdocheinBildmehrals Worte
-
auchüber dieArt, wieeinDiskursgeführtwird.Abgeschlossen
wird
dasBuch(S.719-747)durcheine Chronologie der Ereignisse, Kurzbiographien vonüber 50Personen, einausführliches Personenregisterundein Registerallerabgedruckten Dokumente.Eine
Schlussbemerkung
EsisteineIronie derGeschichte,dassFürstund Erbprinz die von ihnengewünschtenVerfassungsbestimmungen mittels dervon Fürst JohannII.
im
Jahr 1921 eherskep¬tisch betrachteten Volksrechte gegen den
Willen
des Landtages durchsetzenkonnten.Nämlich indemsie am2. August2002 eine Volksinitiative anmelden undsich
im
Abstimmungskampfunverblümt wiePrivatpersonen äussern durften (siehe dazu dieEntscheidung der Ver- waltungsbeschwerde-Instanz vom 12. November 2002:VBI2002/96, LES2002, S. 207ff., abrufbar unter www.
gerichtsentscheide.li).
Die demokratischen Rechte waren auf Drängen von
Wilhelm
Beck und seinenMitstreitern
anlässlich der Schlossverhandlungen (siehe hierzu die Entschliessun- genvon FürstJohannII. vom15. September 1920,abruf¬barunter www.e-archiv.li) vomHerbst 1920
in
dieVer¬fassungaufgenommenworden. Dabeiliess essichFürst JohannII.
-
soberichteteseinunterwww.e-archiv.li ab¬rufbaresDokumentvom18. September 1920
-
nachAb¬schluss der
für
ihnsichernichteinfachenUnterhandlun¬gen nicht nehmen, allen Beteiligten
für
ihren Einsatz zumWohle Liechtensteins zu dankenundjedemEinzel¬nen dieHandzu reichen.
Eine solche Gestehätte nach der Abstimmung vom
16. März 2003 vielleicht dazu beitragen können, Fürst
169
Hans-AdamII. (wieder) als eine «über den Interessen und Parteiendes Alltagsstehende Macht« (S. 29) zuin¬
stallieren.
ChristophMariaMerkiwird denBeteiligtengerecht, indemerdiePhasendesVerfassungskonfliktsdetailliert undunaufgeregt schildertundsowohl seineInterview¬
partner als auchdie informativausgewähltenTexte im Originaltonsprechenlässtund die Ereignisseverständ¬
lich undzugleich packend präsentiert.
Anschriftder Rezensentin
PDDr.iur.Patricia M.SchiessRütimann,Forschungsbeauf¬
tragtefürRecht amLiechtenstein-Institut,St.Luziweg2, FL-9487Bendern
Bildnachweis
S.163:Atelier SilviaRuppen,Vaduz
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