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Albert Salomon (1891 — 1966)Graduate Faculty, The New School for Social Research

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© F. Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 3, Juli 1979, S. 279 - 308 Der F reu n d sch a ftsk u lt d e s 18. Jahrhunderts in D eu tsch lan d :

V ersuch zur S o z io lo g ie ein er L e b e n sfo r m 1.

Albert Salomon (1891 — 1966)

Graduate Faculty, The New School for Social Research New York: 1935-1966.

Aus dem Nachlaß Albert Salomon herausgegeben von:

Richard Grathoff

Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld Universitätsstraße 1, D-4800 Bielefeld 1

Editorische Vorbemerkung: Die letzte Vorlesung von Albert Salomon im Herbst 1966 galt Wilhelm Dilthey. Die Be­

deutung des 18. Jahrhunderts, von Turgot und Saint Simon, von Balzac und Condorcet: Salomon erarbeitete aus den Materialien der Vorklassiker der Soziologie die Problematik des „Zusammenhangs der Kultur“, eine Thematik, die eine ganze Reihe soziologischer Arbeiten der zwanziger Jahre motivierte. Karl Mannheims „Soziologie der Generationen“, zahlreiche Arbeiten zur Klassenstruktur (Emil Lederer, Georg Lukacz usf.), die durch Max Scheler angeregte Arbeit von Aron Gurwitsch „Über die mitmenschlichen Begegnungen in der Milieuwelt“, Carl Mayers Studie „Sekte und Kirche“ : All dieses sind materiale Untersuchungen zum Problem der sozialen Bindung (the social fabric) und des gesellschaftlichen Zusammenhangs, die ihre Selbstverständlichkeiten inzwischen verloren hatten. Wie notwendig ist für ein Verständnis dieser Zusammenhänge eine Aufklärung der Sozialstruktur des 18. Jahrhunderts?

Die Frage wurde zum Leitmotiv der Arbeiten von Albert Salomon und realisierte sich bereits als Dissertationsthe­

ma, 1914 begonnen und 1921 in Heidelberg abgeschlossen, das in engstem Kontakt mit den erstgenannten Hei­

delberger Freunden entstand. Richtungsbestimmend für diese Dissertation waren dabei insbesondere zwei Arbeiten des Heidelberger Kreises: Emil Lederers „Zum sozialpsychischen Habitus der Gegenwart“ (1918) und Georg Lu- kacs’ „Die Seele und die Formen“ (1911). Die soziale Organisation der personalen Intimstruktur als zentrales kon­

stitutives Moment der in historischer Relevanz und Bedeutung sich abzeichnenden gesellschaftlich repräsentativen Gebilde (der Arbeiter, die Jugendbewegung, der Freundschaftskult): Albert Salomon wendet diesen Theorieansatz in eine groß angelegte Untersuchung der sozialpsychischen Charakteristik des 18. Jahrhunderts, die aus zwei Grün­

den nur Fragment geblieben ist: Gedrängt durch die äußeren Auflagen des Promotionsverfahrens legte er 1921 die hier zum ersten Mal vollständig veröffentlichte Fassung der Heidelberger Fakultät vor; biographische Momente und eine Theorieentwicklung, die zusehends dominanter werdend das hier gestellte Problem in die Spanne zwischen Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse drängt, wurden der weiteren Behandlung zum Hindernis. Vielleicht kann diese Veröffentlichung dazu beitragen, einen gelasseneren und unbefangeneren Blick für die außerordentlich produk­

tive Szene soziologischer Theoriebildung zu gewinnen, die sich sozusagen im Schatten ihrer Klassiker, verdeckt von Simmel, Tönnies und Max Weber, bereits entwickelt hatte.

Nach Abschluß der Dissertation begann für Salomon eine anfangs vielversprechende wissenschaftliche Karriere: Seine erste große Veröffentlichung über Max Weber (in: Die Gesellschaft, 1926, 3, 131) führt zur Berufung durch Hans Simons an die Berliner Hochschule für Politik und in den Redaktionskreis der sozialdemokratischen Zeitschrift

„Die Gesellschaft“ ; sie war von Rudolph Hilferding (in engem Kontakt mit Karl Kautsky) gegründet worden, und Salomon übernahm von 1928-1931 ihre Redaktion, als Hilferding Finanzminister war. 1931 Berufung auf eine Professur an der gerade gegründeten Fachhochschule in Köln und Entlassung am 1. April 1933.

Alvin Johnson und Emil Lederer hatten als Antwort auf die Vertreibung der Sozialwissenschaft aus Deutsch­

land in New York eine „University in Exile“ gegründet, die spätere Graduate Faculty der New School for Social

1 Anm. des Herausgebers: Die vorliegende Dissertation von Albert Salomon ist aus dem Salomon-Nachlaß herausgegeben worden, der im Sozialwissenschaftli­

chen Archiv Konstanz-Bielefeld hegt. Die Arbeit geht auf Anregung von Emil Lederer zurück, wurde im Mai 1921 an der Universität Heidelberg abgeschlos­

sen, und zwar im Rigorosum vor Anschütz, Gothein, Lederer und Rickert (Autobiographische Notizen des Autors aus den 60er Jahren). Eine Kopie des Originals befindet sich auch in der Universitätsbiblio­

thek Heidelberg (W 475: 1922), ein Auszug wurde im „Jahrbuch der Philos. Fak. Heidelberg“ 1921/

22, S. 1 7 4 -1 7 5 veröffentlicht. - Das maschinenge­

schriebene Manuskript scheint in Eile hergestellt

zu sein, ist auf Schreibfehler offensichtlich vom Au­

tor durchgesehen worden, verlangte aber in dieser Druckfassung einige stilistische Änderungen. Insbe­

sondere sind die Überschriften zu Abschnitt und Kapitel aus einer beiliegenden Arbeitsübersicht ein­

gesetzt worden, die Nummerierung stammt vom Her­

ausgeber. - Textverweisungen und Literaturliste sind vollständig überarbeitet worden und den Zita­

tionsweisen dieser Zeitschrift angepaßt worden:

Herrn Dipl. Soz. Gerhard-Uhland Dietz (Bielefeld) ist für diese sorgfältige und gewissenhafte Literatur­

arbeit zu danken. Leider sind wegen der Termin­

auflagen dieser Zeitschrift, die ja unvermeidlich sind, einige wenige Textverweise offen geblieben.

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280 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 3, Juli 1979, S. 279 - 308 Research. Salomon, neben dem Verlust der Lehrstelle noch durch eine gleichzeitige schwere Polio-Erkrankung gezeichnet, nahm Lederers Ruf 1935 an. Im „Social Research“ dieser 30er Jahre erscheint nun in kurzer Folge eine Reihe von Veröffentlichungen, die die außerordentliche Produktivität dieses Mannes in jenen ersten Jahren belegt. Zusammen mit Alfred Schütz und Carl Mayer bestimmte Salomon in den späteren Jahren das Profil der so­

ziologischen Lehre dieses Instituts.

Seine Veröffentlichungen: zwischen 1926 und 1933 in der „Gesellschaft“ , ab 1935 in „Social Research“, verstreu­

te Arbeiten wurden in zwei kleineren Sammelbänden publiziert, „In Praise of Enlightenment“ und „The Tyranny of Progress“ (New York 1955). Der letztere Band wurde von Rainer Lepsius übersetzt und erschien 1957 bei Enke in Stuttgart, „Fortschritt als Schicksal und Verhängnis“. Die Titel beider Bände bezeichnen auch die personale Spannung eines zutiefst betroffenen und zerrissenen Intellekts, dem die Emigration die natürliche Sprache nahm, dessen Seele zwischen gesellschaftlicher Skepsis und leidenschaftlicher Empfindsamkeit für den Anderen keine Ruhe fand. Salomon erlebte, was zum Abschluß seiner Dissertation ein bloßes Urteil gewesen war, eine recht akademische Frage nach der Möglichkeit eines Freundschaftskultes im 19. Jahrhundert: „ . . . es gibt in die­

ser Zeit nur noch private Beziehungen zwischen einzelnen Menschen (als repräsentative Form von Freundschaft), es gibt keine Gemeinschaft, keine Gemeinde - nur die arme irrende Seele zu sich und Gott.“

Richard Grathoff

In dieser Arbeit wird der Versuch unternommen, eine typische Lebensform in ihrem Eingebettet­

sein in eine historische Kulturperiode von einem soziologischen Gesichtspunkt aus zu betrachten.

Diese Formulierung der Aufgabe drängt sofort methodische Fragestellungen verschiedener Art auf:

1) Wie ist die Struktur der Lebensformen be­

schaffen?

2) Wie gehen diese in das historische Geschehen ein?

3) Wie gestaltet sich die soziologische Analyse der konkret erfüllten Lebensform?

Die Strukturanalyse der Lebensformen weist in ihnen drei Schichten auf, die der Natur, des Geistes und der Seele. Diese sind im Leben stän­

dig als Einheit ineinander verschlungen und als solche wirksam. Bei einer analysierenden Unter­

suchung aber müssen sie auseinandergehalten und getrennt werden. Entsprechend diesen drei Grundfaktoren (Natur, Geist, Seele) unterschei­

den wir drei Sphären in jeder Lebensform: Na­

turformen, Geistesformen und seelische Formen.

Deren besonderer Charakter ist im folgenden zu bestimmen. Vorher aber muß betont werden, daß nicht jede konkrete, historisch-empirische Lebensform diese drei Schichten sämtlich zu ent­

halten braucht. Es scheint durchaus möglich, daß nur eine oder zwei dieser Schichten über­

einandergelagert sind oder daß die Prävalenz ei­

ner Schicht eine andere verschüttet hat. Das ist aber für die abstrakte Formanalyse irrelevant.

1. Strukturanalyse der Lebensformen

Unter Naturformen verstehen wir diejenigen For­

men, die mit dem biologischen Leben selbst mit­

gesetzt sind, ohne diese Schicht zu überschrei­

ten. Denn alles menschliche Leben ist ursprüng­

lich eingeschlossen in die Form dieses Lebens selbst. Sein Rhythmus des Zeugens und Blühens, der Reife und des Verfalls gliedert naturnotwen­

dig die menschliche Existenz nach den Perioden des einfachen vegetativen Prozesses. Als Lebe­

wesen sind wir einbezogen in die morphologische Dynamik des Naturgeschehens, welches unser Le­

ben in sein Gesetz hineinnimmt. Die Formen des Kindes und des Mannes, des Jünglings und des Greises sind naturhafte Stationen unseres Da­

seins, in welchem wir letzthin noch dem strö­

menden und gleichmässigen Melos des ursprüng­

lichen Lebens verbunden sind: mit Recht nannte Victor Hehn (1913) sie „Naturformen“ des menschlichen Daseins. Sie gelten nicht nur für das einzelne menschliche Wesen. Auch die näch­

sten zwischenmenschlichen Beziehungen von Mutter und Kind, von Mann und Frau, die Be­

ziehungen des Blutes oder des örtlichen Beieinan­

derseins von Nachbarn gehören diesem Zusam­

menhang des organischen Lebens an und bestim­

men die Struktur der Gemeinschaft (Tönnies 1912: 78). Diese ist der Grund und die Wurzel, aus der alles höhere Leben empordringt. Sie ist nichts anderes als die still wirkende Kraft des Lebens selbst, nichts mehr als Stoff. Diesen zu erfüllen, zu lenken und zu beherrschen, ist die

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A. Salomon: Der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in Deutschland 281 eigentliche Aufgabe des menschlichen Geistes.

Erst wenn der Geist zum Bewußtsein seiner selbst gelangt ist, entstehen aus den dumpfen Naturformen „Sinngebilde“ , d.h. Formen der Bedeutung und des Zweckes, der Wertbezogen- heit und der Geltung. Das rational intellektua- listische Gestaltungsprinzip der Lebens- und Na­

turbeherrschung bemächtigt sich auch der For­

men des nahen natürlichen Daseins und bezieht sie in den neuen Kosmos der zu gestaltenden geistigen Welt ein. Indem der Geist diese auf Werte bezieht, lagert er Sinnesschichten den vor­

handenen Naturformen auf und schafft, wenn neue „Lebensaggregierungen“ (A. Weber 1920) es erforderlich machen, neue Relationen als Träger eines neu erkannten Sinnes. Wir wollen unter „Geistesformen“ die zunächst auf prak­

tisch soziale (im engeren Sinne: auf Zivilisation), weiter aber auch auf absolute Werte bezogenen Lebensformen verstehen, welche auch ohne jede Beziehung auf ein Seelisches (d.h. ohne als Aus­

druck gefaßt werden zu müssen) objektiv faß­

bar und verständlich sind. Gewiß können auch diese Lebensformen, welche auf soziale, prakti­

sche und ethische Werte bezogen sind, als Aus­

druck aufgefaßt werden. Aber für sie ist kenn­

zeichnend, daß sie auch ohne jede Beziehung auf die sich ihrer bedienende Seele rein objek­

tiv betrachtet sinnvoll und verständlich sind.

So gestaltet das Recht die Naturformen zu Ge­

sellschafts- und Herrschaftsformen um, indem es jene auf rechtliche, sakrale oder ethische Werte bezieht. Die Geschlechts- und Blutsge­

meinschaft, die Sippe und der gentilizische Ver­

band verlieren den organischen Charakter ihres originären Wesens und werden zu geistigen Formen, zu Sinngebilden, die nunmehr auf ethische, soziale und rechtliche Werte bezogen werden. Sie werden Funktionen und Bezie­

hungen einer rationalen Betrachtungsweise, wel­

che das Wesen der „Gesellschaft“ konstituieren2.

2 Wie wichtig die Schichtung und Durchdringung natürlicher und geistiger Formen für eine soziologi­

sche Betrachtung ist, dafür hier nur ein kurzer Hinweis. Die strenge und selbstverständliche Glie­

derung der Lebensalter, die Achtung vor dem Al­

ter, die rührende und erhebende Gestalt des Jüng­

lings, welche das deutsche Schrifttum noch bis zu Stifter hin kennt, ist im Verlauf einer totalen Le­

bensumformung von einer kleinbürgerlich -tradi- tionalistischen, auf der Agrar Sphäre ruhenden Wirt­

schaft zu einer großstädtisch-industriellen Form des Hochkapitalismus vollständig verschwunden.

Immer richten sich die Prinzipien der Lebens­

ordnung innerhalb dieser Sphäre des Geistes auf Beherrschung und Gestaltung der intensiven und extensiven Fülle des Lebensstoffes. Ihre Tendenz ist „zweckrational“ und „wertrational“

(M. Weber 1922). Für die Lebensformen bedeu­

tet dies: in diesem Bezirk des Geistes entstehen neben den umgeformten Verbindungen mensch­

licher naturhafter Nähe, auf welche kurz hinge­

wiesen wurde, neue Formungen aus dem We­

sen der neuen Lebenshaltung und Sinnbezogen- heit heraus. Zweckrational sind vor allem die zivilisatorischen Formen der Lebensordnung, wel­

che Verkehr, Wandel und ein gewisses Maß von Lebenssicherheit ermöglichen: der Kaufmann, der Händler und der Beamte des Gerichts, der Polizist. In der sozialen Sphäre: die Formen der Ordnung von Herrschaftsverhältnissen: Herr und Diener, Fürst und Vasall, der königliche Schrei­

ber, der nach gesetztem Recht urteilende Rich­

ter, der militärische Genosse, der Gastfreund.

In der sozialen Sphäre sind zweckrationale und wertrationale Formen flüssig, wie die letzten Beispiele zeigen. Und um auch eine spätere ty­

pische Form dieser geistigen Lebensformen nicht unerwähnt zu lassen, sei auf den Typ des Bü- dungsmenschen hingewiesen.

Es könnte nun scheinen, als ob sämtliche mög­

lichen Lebensformen innerhalb der Natur- und Geistesformen ihren Platz zu finden vermögen:

Zumal wir auch die auf ethische Werte bezo­

genen Formen dem Bereich des Geistes zuge­

rechnet haben, bleibt offenbar kein Raum für eine besondere Sphäre der Seele. Darum müssen wir besonders streng die Region der seelischen Formen aus der Verbundenheit mit den anderen Formen herauslösen und ihre besondere Struk­

tur heraussteilen. Bezeichnen wir etwa als reprä­

sentative Formen der Seele den Heiligen, den Liebenden, den Freund, so ist sofort ersichtlich, daß hier ungeachtet der vorhandenen ethischen

Ein neuer Lebensstil, den hier näher zu charakte­

risieren zu weit führen würde, hat diese natürlichste Ordnung des einfachen Lebens rationalisierend zer­

setzt und aufgehoben. Wie tief diese Wandlung (wie die raschere Periodisierung des Lebens, die Labilität und Enge der Psyche des modernen Ar­

beiters, der losgelöst ist vom Besitz an sachlichen Produktionsgütern, seine Existenz auf Grundlage kurzfristiger Verträge führt) mit der Verengung der Produktionsunterlagen zusammenhängt, das hat Lederer (1918: 114 ff. und 124) nachgewie­

sen. Vgl. auch Levenstein (1912: 58 und 262 ff).

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282 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 3, Juli 1979, S. 279 - 308 Wertbeziehung noch ein Überschuß, ein in die

sittliche Geltungssphäre nicht eingehendes Et­

was vorhanden ist.

Freundschaft wirkt sich nicht aus in Freund­

schaftspflichten, Liebe besteht keineswegs nur in Taten und Bezeugungen der Gesinnung:

Nicht der soziale Mensch in uns tritt zum An­

deren als soziales Wesen in Beziehung. Nicht durch ein Drittes, durch ein auf Werte bezoge­

nes Handeln verknüpft sich Seele mit Seele.

Und wo doch ein Objektives Menschen vereint, ist es nur das Sprungbrett in das andere Reich der Seele. Die tiefste und letzte Ichheit findet sich nur in diesen Formen ganz im Anderen wieder. Sind auch diese Formen „mehr perso­

nal“ (Reinach), so sind sie dennoch nicht so­

zial. Drei Gründe berechtigen uns, von den Geistesformen die Lebensformen der Seele ab­

zulösen:

1. Lebensformen der Seele sind auf keinen ob­

jektiven Wert bezogen, bzw. die objektive Wertbeziehung gibt ihnen nicht den ihnen eigentümlichen Sinn.

2. Lebensformen der Seele erhalten ihren Sinn aus der reinen Individualität, die losgelöst ist von der sozialen Person (welche als Va­

ter, Bruder, Bürger, Handwerker usw. nicht in die tiefste Schicht der Persönlichkeit hereinragt).

3. Nur Lebensformen der Seele haben einen spe­

zifischen Ausdruckscharakter.

Während eine ethische Lebensform (eine hilf­

reiche Tat, ein gutes Werk, ein edelmütiger Verzicht) als Ganzes nur ein Moment an uns ausdrückt (z.B., daß wir gut sind, daß wir der Norm des Sittlichen uns unterworfen haben), ist in den seelischen Formen alles Ausdruck, und zwar in der universalen Tendenz, uns ganz als Totalität auszusagen, wie z.B. in einer Um­

armung. Je tiefer das Gefühl ist, daß wir gerade hier und nur hier das Ewige in uns stammelnd und fragmentarisch auszudrücken vermögen, um so größer wird der Abstand und Unterschied von den Geistesformen, welche nur die zeitlich­

empirischen Relationen der Menschen zu-, für- und miteinander umfassen. Als solche sind sie mit den historischen, kulturell gerade geltenden Wertbeziehungen zu eng verwoben und belastet, als daß sie eine spezifische Ausdrucksqualität gewinnen könnten. Die seelischen Formen aber

drücken in ihrer Vollendung gerade eine kultur­

jenseitige Beziehung zwischen Mensch und Mensch aus.

Wenn es auch wahr ist, daß (historisch-genetisch betrachtet) die Naturformen den Geistesformen und diese den Seelenformen vorangehen, so sind die letzteren der Dignität nach doch die frühe­

ren, da ihnen eine gewisse Apriorität, eine Unab­

hängigkeit von der historisch-zeitlichen Empirie innewohnt. Sinn-genetisch betrachtet ist also die empirische Reihenfolge umzukehren. Und dann erhebt sich die Frage: Wie werden diese reinen Lebensformen in das empirisch-soziale Leben auf­

genommen; wie gehen sie ein in den Lebensstoff?

Denn unbeschadet ihrer Apriorität ist zuzuge­

ben, daß z.B. die reine Lebensform Freundschaft sich mannigfaltiger empirischer Gestaltungen be­

dienen kann, um sich auszudrücken und zu ver­

wirklichen, und daß diese empirischen Formen nur mehr ein einheitlicher Sinn verbindet.

Umgekehrt ist aber festzustellen, daß eine bloß geistig-soziale Form sich selbst of transzendiert und zum Träger eines seelischen Gehaltes wird.

So kann z.B. der Typ des Abenteuerers (der so­

ziale, der erotische, der geistige Abenteuerer:

Max Weber 1922: 140) zum Träger einer reinen Lebensform werden, wenn er eine Form des ewi­

gen Sich-Suchens darstellt und an jeder Einzel­

heit scheiternd immer wieder mit der Hoffnung, das Ewige zu finden, sub specie aeterni, das zeitlich Zufällige ergreift. So wird der Ketzer und Häretiker, der zunächst nur Feind und Be- kämpfer eines sozialen kirchlichen Gebildes und seiner Institutionen ist, zum Träger einer ewi­

gen seelischen Lebensform, wenn er sich und seinen Kampf zum Ausdruck des in der Empirie unaufhebbaren Gegensatzes von Zeitlich-Festge- ranntem und Zeitlosem zu erheben vermag. In derselben Art wird der Krieger (historisch das Glied eines sozialen Militärverbandes) zum Hel­

den, wenn er Krieg und Kämpfe als schicksals­

hafte Notwendigkeit für die eigene Lebensform erlebt, wenn ihm diese seine Existenzform des Kriegers zum Ausdruck einer letzten Attitüde der Seele wird und die Beziehung zwischen Le­

ben und Tod nur durch den Kampf für die Er­

füllung seiner Seele sinnvoll zu lösen ist.

Dieses empirisch-unauflösliche Ineinandergewo­

bensein geistiger und seelischer Lebensformen, wo seelische und geistige Lebensformen sich wechselseitig einander bemächtigen, darf uns

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A. Salomon: Der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in Deutschland 283 nicht darüber hinwegtäuschen, daß die beiden

grundverschieden sind: bei jeder geistigen Form wird sich eine jeweils mitklingende seelische Form abheben, deren Sinn man beschreiben muß, wie es in diesem Abschnitt versucht wur­

de.

2. Lebensform und Geschichte

Damit drängt sich uns von selbst das Problem auf, das wir als zweite methodische Frage­

stellung oben so formuliert hatten: Wie gehen diese Lebensformen in die Geschichte ein? Wie ist es möglich, daß diese reinen und sinnerfüll­

ten Beziehungsformen in das Geschehen ein- treten, welches wir als „historisch“ zu bezeich­

nen pflegen?3 Hier liegt offenbar eine unauf­

hebbare Paradoxie vor, welche ihren Ausdruck darin findet, daß eine Wertverwirklichung nur an und in dem sinnfremden, amorphen Lebens­

stoff sich vollziehen kann. Für die Bestimmung der Geschichte ist dies Ineinandergeflochtensein von geltenden Werten und ungeformtem Mate­

rial ein schlechthin konstitutives Merkmal. Der reine Sinncharakter der Werte und apriorischen Formen — der Schönheit, der Güte, der Heilig­

keit, der Freundschaft — muß in einen hete­

rogenen Stoff hineingebildet werden, um nur Erscheinung zu werden. Das Paradoxe liegt ge­

rade in dem notwendigen Zusammentreffen von sinnlichem Material und normativem Gel­

ten. Wie sich dieses Zueinanderfinden vollzieht, ob gewissen Formen gewisse Stoffelemente zu­

geordnet sind und ihnen „entgegengelten“ (um einen Terminus von Emil Lask einzufuhren) ist eine hier nicht zu behandelnde Frage. Wir be­

gnügen uns mit der Feststellung, daß Geschichte bedeutet: den Prozeß von Wertrealisierungen.

Die Geschichte ist also das Mittelreich zwischen der geschichtsjenseitigen Geltungssphäre und dem wertfreien Leben der „Natur“ . In ihr tref­

fen beide Reiche zusammen, und die Dynamik der Wertrealisierungen bestimmt das Wesen der Geschichte. Die Werte ragen als Formprinzipien und Erfüllungspostulate in den amorphen Le­

bensstoff hinein. Sie realisieren sich im konkre- 3 Georg Lukäcs (1911) hat für die objektivierten

Formen der Kunst und Religion von der Hegel’

sehen Geschichtsmetaphysik des absoluten Geistes her diese Frage zuerst gestellt.

ten Stoff der ihnen sich anschmiegenden Empi­

rie. Und zwar wird die Wertfealisierung formal durch diese Umstände gekennzeichnet: 1. zwi­

schen Form und Stoff, zwischen Wert und Ma­

terial besteht eine Entsprechungsrelation; 2. das volle Durchdrungensein des Stofflichen durch den Wert führt zu einem Sinngebilde. Ein sol­

ches nennen wir (von der Geltungssphäre her gesehen) „werterfiillt“ , von der konkreten Hi­

storie aus: „wertbezogen“ , und zwar im Gegen­

satz zu dem absoluten Sinn des überhistorisch geltenden Wertes. Diese inhaltliche Erfüllung der Werte im historischen Prozeß ist nie zu vollen­

den. Solange das konkrete Leben sich noch schlichtet, umgestaltet und verändert, solange die Spontanität menschlicher Seelen nicht erlo­

schen ist, werden immer wieder neue Möglich­

keiten der Wertrealisierung gegeben sein. Dieser Relativismus verbleibt im Historischen, im Be­

reich der Werterfüllungen. Niemals aber kann die Feststellung dieses Tatbestandes die Geltung der Werte und die Apriorität der reinen Formen aufheben.

Für unseren Zusammenhang ist die weitere Fra­

ge wichtig, wie sich dies Herabsinken in das Geschichtliche vollzieht, wie die Deprivation und Trübung des Wertes im Konkret-Empirischen ihrer Struktur nach beschaffen ist. Anders aus­

gedrückt: Wie verhält sich das Form-Inhaltsver- hältnis in der Region der Werterfüllungen und besonders in dem für uns wichtigen Gebiet der reinen seelischen Lebensformen?

Zur Herausarbeitung der möglichen Strukturver­

hältnisse innerhalb der Werterfüllung ziehen wir die Werterfüllungsformen des Ethischen und Aesthetischen heran und betrachten zunächst diese.

Die Normen des Ethischen, des pflichtgemäßen Handelns, der Gerechtigkeit führen am weitesten vom Historischen — d.h. dem Eingebettetsein einer normativen Form in einen konkret-empiri­

schen Stoff - fort. Denn die sittliche Geltung postuliert Tun und Handeln als die ihr konstitu­

tiven Merkmale. Sie bedarf weder der Geste noch des Ausdrucks. Darum löst sie sich am weitesten aus der Geschichte heraus: Sie zer­

bricht deren Fesseln inhaltlicher Zeit-, Raum­

und Situationsbestimmtheit und tritt unmittel­

bar unter die gesollte Form ihrer Bewährung.

Die Majestät des sittlichen Postulates zertritt

(6)

284 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 3, Juli 1979, S. 279 - 308 gerade im entscheidenden Handeln alle Inhalte

dieses Tuns zugunsten der in ihr enthaltenen Geltungsform. Mit Recht findet man nirgends in der Geschichtswissenschaft sittliche Taten behandelt - es sei denn, daß sie für einen Wir­

kungszusammenhang relevant seien. Sie voll­

ziehen sich abseits der großen Heerstraße histo­

rischer Werterfüllungen. Niemandem würde es einfallen, eine Geschichte der Sittlichkeit zu schreiben, weil dies ein unmögliches Unterfangen wäre.

Wohl aber kann man eine „Sittengeschichte“ dar­

stellen: das Reich derjenigen Formen, die sich bilden, wenn die ethischen Normen die Autono­

mie der eigenen Sphäre transzendierend in jene des sozialen und kulturellen Lebens herabdringen.

Was an Regeln und Konventionen, an Sitten und Satzungen in den verschiedenen historisch individuellen Epochen galt, was man inhaltlich für ehrbar oder tadelnswert, für gerecht und bil­

lig, für schändlich und verächtlich gehalten hat­

te, das kann jederzeit Gegenstand historischer Betrachtung werden. Die sittliche Tat hingegen als Wertrealisation, als Erfüllung ethischer Postu­

late hat alles Inhaltliche ganz aufgesogen und ist reine Form.

Im Bereich der aesthetischen Geltung aber erle­

ben wir gerade die Umkehrung der Form-Mate­

rialbeziehung4. Die Paradoxie aller Kunst beruht gerade darin, daß der aesthetische Wert nur rea­

lisiert werden kann, indem er Erscheinung wird, und nur durch sein Eingehen in das sinnlich­

anschauliche Material jenes „Selig-an-ihm-selbst“

zustande kommt: daß also das geformte Mate­

rial selbst Sinn- und Werterfüllung repräsentiert.

Hier besteht die Realisierung des Schönheitswer­

tes gerade in dem harmonischen Durchdrungen­

sein von Form und Inhalt in der Wertidentität.

Hier ist die innere Adäquatheit von Stoff und Form, von Gehalt und Apriorität des „Kunstwol- lens“ , die vollendete Einheit beider das konsti­

tutive Merkmal der besonderen Form-Inhaltrela- tion der ästhetischen Sphäre. Die Kunst ist Ob- jektivation des seelischen Ausdrucks. Sie kommt

als „Die Kunst“ nur in der Ästhetik, d.h. in der Wertphilosophie der Schönheitsregion vor. In der Werterfüllungssphäre (der Geschichte) hat sie mannigfaltige Gestaltungs- und Ausdrucksformen 4 Vgl. zu diesem Absatz Georg Lukacs (1918): Die

Subjekt-Objektbeziehung in der Ästhetik.

angenommen: jede kann Gegenstand einer histo­

rischen und soziologischen Untersuchung wer­

den. Denn die konkreten Erscheinungen der Kunst sind sowohl als Kunstformen — Epos, Tra­

gödie, Gruppenporträt, Sonate — wie in den Aus­

drucksformen, welche man gemeinhin „Stil“

nennt, mehr oder weniger tief bestimmt durch die geistige und soziale Umwelt (Lukacs 1914).

Wie die Kunst in der objektiven Gestaltung die Seele ausformt, so bilden die seelischen Aus­

drucksformen der personalen Lebensregion die übersozialen Werte der Liebe, Freundschaft, Heiligkeit als Ausdrucksgebilde aus. Und zwar können wir die Werterfüllungen dieses Bereichs analog dem der Kunst differenzieren. Diese apri­

orischen Formen strömen als Sinnrealität ihrer rein autarken Form in immer neue mögliche empirische Relationen ein. Wir wollen diese „hi­

storisch-empirische Gestaltungsformen“ nennen und von diesen die Ausdrucksformen unterschei­

den, deren sich Freunde und Liebende bedienen.

Im Wort des Freundes, in der Geste der Gelieb­

ten wird offenbar, daß den Ausdrucksformen Sinn und Wert nur eignet, wenn sie vom Aufneh­

menden als Form zerbrochen werden und wie­

der ins Leben zurücktauchen können. Sie sind transparent zu denken. Kunst ist werterfüllt durch die Endgültigkeit und Bedeutsamkeit des konkreten Ausdrucks. Aber die Realisierung der seelischen Formen als sinnerfüllte Gebilde ist nur unter der Voraussetzung möglich, daß ihre Ausdrucksformen in jedem Fall unangemes­

sen und fragmentarisch bleiben, daß sie nie mehr als Träger des Sinnes und Substrat sind.

Als solche aber sind sie bedingt durch die gesell­

schaftlichen und geistig seelischen Gegebenhei­

ten der Welt, von der sie umgeben sind. Als Ausdrucksformen stehen die konkretisierten See­

lenformen innerhalb einer kulturellen Einheit, auch wenn man sie als empirische Gestaltungs­

formen betrachtet. Beim Herabsinken aus der rei­

nen Sinnregion des Seelischen stoßen sie durch in die Bezirke des Geistes und des sozialen Le­

bens. Sie nehmen eine Gestalt an, welche die Kultursituation, auf die sie treffen, als eine ihnen mögliche Sinnrealisation darbietet. Dann er­

scheinen sie als Vergesellschaftung oder Verge­

meinschaftung, als autoritäre Herrschaftsformen von Meister und Jünger, von Führer und Gefolg­

schaft, oder aber auch als pneumatische Brüder­

gemeinde, als „mystische Demokratie“ .

(7)

A. Salomon: Der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in Deutschland 285 Sowohl der Augenblick ihres Eintretens in den

Prozeß der Wertrealisation als auch die Gestalt ihres Auftretens werden stets kulturhistorisch und soziologisch bestimmt sein. Erfolg oder Scheitern, ebenso wie die Richtung ihrer Gestal­

tung werden davon abhängen, ob und in wel­

chem Maße die Zeit (d.h. die Inhalte einer histo­

risch-individuellen Situation) die „Bereitschaft“

für die Erfüllung des Sinnes einer solchen seeli­

schen Lebensform hat.

Mit diesem Begriff der „Bereitschaft“ bilden wir eine erste Kategorie, ihrer Provenienz nach durchaus soziologisch, und kommen so zu der dritten Frage unserer methodischen Voraus­

setzungen: Was ergibt sich denn aus der Vorge­

fundenen Struktur der im Historischen einge­

betteten Lebensformen für die soziologische Analyse?

3. Soziologische Fragestellungen gegenüber den Lebensformen

Jede Wissenschaft bedeutet einen nur ihr eigenen Blickpunkt der Fragestellung, des Interesses (d.h. also der Methode ihrer Auswahl) der Wert­

akzentuierung, der Verbindung und Trennung der Lebenssphäre, der Nähe oder Ferne zu dem sinnlichen Material und der Begriffsbildung ge­

genüber einem gegebenen Materialkomplex. Die­

ser kann darum mehreren Fragestellungen zuge­

ordnet sein, ohne daß aus diesem Grunde nur die eine oder die andere Methode für die wis­

senschaftliche Bearbeitung in Frage käme. Natür­

lich hindert diese Stellungnahme nicht die Auf­

fassung, daß es innerhalb einer möglichen Reihe von Fragestellungen einem bestimmten Stoffe gegenüber eine Hierarchie der Relevanz geben könne (K. Mannheim 1921). Der Stoff, den Kul­

turgeschichte und Soziologie in weitem Maße von ihren Gesichtspunkten her zu analysieren trachten, ist jener Prozeß der Wertrealisierungen, den man in einem zunächst sehr vagen Sinn als

„Geschichte der Kultur“ bezeichnen kann. Die­

se Kultur als Realisierungsprozeß ist der gemein­

same Gegenstand und die Unterlage beider Wis­

senschaften. Die Fragestellung: Wodurch unter­

scheiden sich die Gesichtspunkte von Kulturge­

schichte und Soziologie, insofern sie an diesen Gegenstand herangehen?

Begriff der Kultur: Zunächst soll aber ohne Be­

zugnahme auf diese Wissenschaften definiert

werden, was Kultur ist. „Kultur“ ist jenes Ge­

schehen, in welchem der Mensch danach strebt, das gegebene Leben nach seinen Bedürfnissen und Zwecken, nach seinen intellektuellen gei­

stigen Formen und seiner seelischen Kraft umzu­

formen und zum Ausdruck eines Sinnes zu er­

heben. „Kulturformen“ nennen wir eben solche Lebensformen, in denen die Seele das Leben als ein Sinngebilde gestaltet, seien dies nun objek­

tive Sinngebilde oder subjektiv persönliche Le­

bensgestaltungen. In diesem Sinne sind die Werke der Kunst und Religion und die Erscheinungs­

formen der schönen Seele Kulturgestaltungen.

Georg Simmel (1911) hat einmal in seinem Es­

say „Begriff und Tragödie der Kultur“ sehr mit Recht darauf hingewiesen, daß es auch gewisse seelische Werterfüllungen geben kann, welche durchaus den Sinn jeder Ausdruckskultur trans­

zendieren. Als ein konstitutives Merkmal für den Kulturbegriff bestimmt er gerade eine Synthese von Subjekt und Objekt, eine innere Korrelation beider, von lebendig bewegter Seele und objekti­

vem Gebilde. Darum sind künstlerische Produkte, ein religiöser Kult, eine prophetische Heilslehre als Kulturwerte unabhängig von dem immanen­

ten Maße der Werterfüllung immer auf ein ihnen ideal zugeordnetes, sie aufnehmendes und be­

wahrendes Publikum bezogen. Wenn man dann sogar diese Formen der Wertrealisierungen als spezifische und einzige Phänomene der Kultur bezeichnen will, wie es Alfred Weber (1920) tut, so muß man nicht nur ihren Ausdruckscharakter, sondern auch ihren Relationscharakter als be­

sondere Merkmale, als Gebilde der Kultur anneh­

men. An einem Beispiel möge das verdeutlicht werden. Während der theoretische Wert der Wahr­

heit auch unabhängig von einem erkennenden Subjekt, das die Erkenntnis verwirklicht, gültig ist, sind jene Wertgebilde als seelische Ausdrucks­

formen einmal von der sie schaffenden Persön­

lichkeit und zum anderen von einem rezeptiven Menschentum als ihnen zugeordneten Schichten umlagert.

Von hier aus ergibt sich eine Möglichkeit, den Begriff der Kultur zu erweitern und seinen Sinn gerade in einer Synthese und Harmonie der ver­

schiedenen Lebensregionen mit den formenden und geformten seelischen Kräften zu erblicken.

Und zwar bedeutet Kultur dann immer ein Sinn­

ganzes, das sich in den mannigfaltigsten Formen ausdrückt und doch als Einheit erlebt wird. Am einfachsten definieren wir Kultur als die ein­

(8)

286 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 3, Juli 1979, S. 279 - 308 heitliche Formung des gesamten Lebens einer

historisch individuellen Epoche von einer das Le­

ben durch Werte ordnenden und mit Sinn um­

kleidenden Substanz her. Darunter ist also zu verstehen die Durchdrungenheit eines histori­

schen Lebensstoffes in der Mannigfaltigkeit sei­

ner Auswirkungen mit einer seelischen, wertbe­

ziehenden, sinnverleihenden Kraft.

Methode der Kulturgeschichte: Ein solcher Kul­

turbegriff lag der Methode Jakob Burckhardts zugrunde. Und wenn es auch als empirische Dis­

ziplin nach „Kultur der Renaissance“ (1860) und „Griechische Kulturgeschichte“ (1902) eine Kulturgeschichte nicht mehr gibt, bleibt ihre Aufgabe doch gesetzt. Das spezifisch Historische dieser Kulturgeschichte in der sie gestaltenden Begriffsbildung besteht gerade darin, daß Burck- hardt in „kausaler Analyse“ und „Zurechnung“

die konkreten individuellen Formen in ihrem Entstehen, Werden und Vergehen nebeneinander darstellt. Er verfährt gewissermaßen horizontal, indem er die konkreten historischen Gebilde in der Kontinuität ihrer Formenentwicklung analy­

siert. So fügte er für die von ihm behandelten individuellen Epochen Politik und Feste, Staats­

formen und die konkreten Formen des Familien­

lebens, der Kunst wie der Buchführung als sinn­

lich lebendiges Ganzes zu einem farbigen Mosaik zusammen. Dies konnte er in solch lockerer Ne­

beneinanderreihung nur darstellen und verlangen, daß es als Ganzheit aufgefaßt werde unter der Voraussetzung der inneren Einheit dieser Lebens­

mannigfaltigkeit in einem letztlich unerklärba­

ren Grunde.

Methode der Kultursoziologie: Demgegenüber be­

deutet jede kultursoziologische Fragestellung — um das oben benutzte Bild aufzunehmen - eine vertikale Tendenz, einen Querschnitt. Transzen­

dentallogisch formuliert lautet die methodische Grundfrage einer Soziologie: „Was ändert sich an Sinn und Gehalt des Kulturbegriffes, wenn wir ihn soziologisch anschauen?“ Jede soziolo­

gische Prinzipienlehre muß von diesen Fragen ausgehen: Was bedeuten die subjektiven und ob­

jektiven Kulturgestaltungen als Ausdruck der ge­

sellschaftlich sozialen Lebenskräfte ihres Zeit­

alters, ihrer Umwelt, ihres Landes? Wie weit be­

stimmen sie die Kultur? Wie tief vermögen sie die Autonomie der Formen zu berühren und ihrer Substanz nahe zu kommen? Wie weit drängen deren Formen zur Neuorientierung und

Umwandlung sozialer und gesellschaftlicher Grundsituationen?

Das bedeutet zunächst ein Negatives: eine kul­

tursoziologische Analyse hat es nicht mit den konkreten, gefüllten historischen Individualitä­

ten als Wesenheit zu tun. Im Zusammenhang soziologischer Untersuchung sind sie nicht als Individualitäten eingestellt, sondern als Rela­

tionsformen eines notwendigen Prozesses, als typische Formen in ihrer notwendigen Bezogen- heit. Die soziologische Grundkategorie der „Re­

lation“ verbindet die verschiedenen Lebenssphä­

ren des Historischen weniger nach kausalen als nach funktionalen Momenten, und zwar durch Parallelisierungen und Vergleich ihrer Struktur­

gestaltungen in bestimmten historisch relevanten Momenten. Kultursoziologie ist zunächst „Evi­

denzwissenschaft“, insofern sie nämlich keine kausale Analyse einzelner konkreter Tatsachen lie­

fert, sondern diese in einen notwendigen Zusam­

menhang eingliedert und sie also funktional be­

stimmt. In diese Versuche einer notwendigen, innerlich zusammenhängenden Konstruktion ei­

ner Kultur durch alle Lebensschichten hindurch und in der Zeichnung der Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Gebieten als einer funk­

tionalen Relation liegt einerseits die Überwin­

dung einer spiritualistischen Geschichtsmetaphy­

sik, andererseits die Berechtigung zu einer rela­

tiven Universalität, die nicht Willkür bedeutet, sondern notwendig aus der methodischen Ein­

stellung folgt. Dieser Anspruch auf Universalität, dieses Nachziehen einer Doppelbewegung vom Leben zu den festgewordenen Formen des Gei­

stes und der Seele und von diesen zu jenen zu­

rück, der heroische Versuch, durch ein rational idealtypisches Schema eines notwendigen Kul­

turverlaufs die irrationalen Abweichungen abzu­

messen, all dies weist auf einen Punkt hin, von dem aus gesehen die Kultursoziologie, welche nicht mehr zu sein beansprucht als empirische Kulturwissenschaft, in einem geschichtsphilo­

sophischen Sinne aktuell ist und der Gefahr aus­

gesetzt ist, ins Metaphysische zu transzendieren.

Denn immer führt ihr Weg von den sublimsten Objektivationen der Kultur herab zu den Le­

benstotalitäten, aus denen sie aufsteigen, zu Er­

lebnissen, Lebendigkeiten und „Lebensgefühl“

(A. Weber 1920). In diesem Regressus auf eine rein vitale Form zeigt sie ihren Zusammen­

hang mit gewissen Tendenzen der heutigen Le­

bensphilosophie, mit Dilthey, Croce und Scheler.

(9)

A. Salomon: Der Freundschaftskult des 18: Jahrhunderts in Deutschland 287 Diese Beziehung läßt sich bis in die Begriffsbil­

dung hinein nachweisen. Wenn Alfred Weber den Begriff des Lebensgefühls als formalen Grenzbegriff setzt, als den letzten Nenner für den kausalen Regressus oder als die funktionale Einheit einer Kultursituation, als das letzte be­

griffliche Symbol der emotionalen Lebenskräfte, so hat Dilthey im Begriff der „Generation“

(1906: 271 f.) einen analogen kultursoziologi- schen Begriff gebildet, der noch hinter die be­

dingenden Faktoren zurückgreifend die Dynamik und den Rhythmus des Lebens selbst in seiner Irrationalität noch begrifflich zu bewältigen sucht.

Diese Begriffe sind „Typenbegriffe“ im Unter­

schied zu den individuellen historischen Begrif­

fen. Während diese die Konkretheit des histori­

schen Stoffes in seinem kausalen Ablauf analy­

sieren, haben jene die Bedeutung, die Strukturen der historisch relevanten Formen in ihrer jewei­

ligen inhaltlichen Erfülltheit als im Gesamtle­

benszusammenhang notwendig darzustellen und die Konstellationen der einzelnen Formen in diesem Geschehen anzuzeigen.

Was diese Kultursoziologie aber von jeder ge­

schichtsphilosophischen Konstruktion unterschei­

det: ihre Immanenz als empirische Wissenschaft;

ihre nicht wertende und ein letztes Ziel der Voll­

endung setzende Methode; die tiefe Einsicht in die Strukturbeschaffenheit einer jeden Kultur, welche das Abschneiden des historischen Prozes­

ses durch Verabsolutierung einer oder mehrerer Prinzipien nunmehr wissenschaftlich unmöglich macht. Dieser Nachweis ist die bedeutsame Lei­

stung Alfred Webers in seiner Abhandlung „Prin­

zipielles zur Kultursoziologie“ : er zeigt in sei­

ner Analyse der Schichten des historischen Ge­

schehens in den drei Gebieten des Gesellschafts­

prozesses, des Zivilisationsprozesses und der Kul­

turbewegung, daß nur in den beiden ersten Le­

bensgestaltungen gewisse Stufen und Entwick­

lungstendenzen notwendig eintreten und sich durch den historischen Prozeß hindurchziehen, während die Kulturbewegung das immer neue, nie kraft intellektueller Einsichten und Konstruk­

tionen zu berechnende und zu bestimmende Pro­

duktivwerden und schöpferische Gestalten der Seele darstellt. Die Kultursoziologie begnügt sich also, diese drei Lebensschichtungen in ihrer funk­

tionalen Einheit herauszuarbeiten, und zwar in ihrer Bezogenheit aufeinander und in der für je­

de Region charakteristischen Aufnahme der an­

deren und der eigenen Wirksamkeit, der wechsel­

seitigen Verbindungen — das alles ist aus der konkreten Fülle des historischen Lebens zu deu­

ten.

4. Freundschaftskult als soziologischer Begriff Einer solchen kultursoziologischen Analyse will diese Arbeit dienen, indem sie von gewissen Realisierungen der seelischen Lebensform

„Freundschaft“ handelt. Wir fassen zunächst diese konkreten historischen Lebensformen, von denen die Rede sein wird, unter den generell ty­

pischen Begriff des „Freundschaftskultes“ zu­

sammen, der ein idealtypisches Gepräge hat. Er soll die Sinngesamtheit aller jener konkreter hi­

storischer Freundschaftsgebilde bedeuten, die den Versuch darstellen, in einer individuellen Form die apriorische seelische Form zu realisie­

ren, das Absolute des immanenten Postulates zur Erscheinung zu bringen. Damit soll deutlich werden, daß die zu behandelnden Erscheinun­

gen über die subjektiv personale Werterfüllung hinaus eine historische Relevanz als repräsenta­

tive Gebilde besitzen. Die kultische Gemeinschaft hebt sie heraus als Symbole eines objektiv be­

deutsamen Sinnes. Denn der Ausdruck „Freund­

schaftskult“ hat einen sehr tiefen Sinn, wenn man bedenkt, was „Kult“ bedeutet: die Versinn- lichung und Zelebrierung eines transzendenten Gehaltes in gemeinsamer Handlung.

Als soziologische Kategorie stellt dieser Begriff eine Form dar - dem oben behandelten Lebens­

gefühl nicht unähnlich gebildet —, welche die Relationen der drei Geschehensschichten (Natur, Geist, Seele) zueinander nach ihrem jeweiligen Stand wie ein Pegel die Höhe des Wasserstandes anzeigt. Je nachdem die drei Bereiche einheit­

lich miteinander verbunden sind oder auseinan­

dergebrochen chaotisch daliegen, wird Freund­

schaftskult etwas Verschiedenes bedeuten. Er kann in einer Kultur der Gemeinschaft-als Hö­

hepunkt erscheinen, er wird in anderen Zeiten als revolutionäres Element in eine vergesell­

schaftete Welt eindringen. Er wird zumeist aktuell werden als Antithese einer neuen seeli­

schen Erleuchtung durch ein Absolutes, Ideen­

haftes, gegen erstarrte oder erkaltende soziale Formen, um den neu-alten Sinn wieder im Le­

ben aufzurichten. Dann werden die Bereiche

(10)

288 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 3, Juli 1979, S. 279 - 308 der natürlichen Ordnung und der Zweckzusam­

menhänge durchbrochen. Die Gemeinschaft Liebender wirft sich in die Bresche als immer neu unternommener Versuch, den Bereich der Freiheit, die citivitas Dei, die Gemeinschaft intelligibler Wesen zu begründen.

Unter diesem Aspekt der Realisierung eines A b­

soluten werden die einzelnen Formen hier be­

handelt. Das Maß ihrer Erfüllung, Wirksamkeit und Dauer gibt einen Querschnitt durch die je­

weilige historische Situation und ihre Verbin­

dung von Natur, Geist und Seele. Sie können inhaltlich ständig wechseln. In religiösen Zeiten wird sich ihre Paradoxie im Gegensatz von Kir­

che und Sekte äußern5, in dogmatisch philo­

sophischen Epochen in der Erhebung des Hu­

manismus gegen die Scholastik, in Zeiten wis­

senschaftlich exakter Bildung im Kampf von Wissenschaft als Selbstzweck und Bildung als menschlicher Lebensform.

Durch diesen Begriff werden nur diejenigen so­

zialen Bildungen ausgeschlossen, welche primär in einer sachlichen Aufgabe zweckrationaler oder wertrationaler Art begründet sind, die na­

türlich sehr nahe menschliche Beziehungen un­

ter den Mitgliedern nicht ausschließen, aber die Gesellschaft nicht tragen. Nur wo die vorlie­

gende sachliche Aufgabe lediglich Vehikel und ein subordiniertes Mittel zu dem höchsten Ziele ist, die seelische Form ins Leben zu versetzen, können jene sozialen Bildungen in den Zusam­

menhang dieser Arbeit aufgenommen werden6.

Kann also im historischen Ablauf eine Form des Freundschaftskults festgestellt werden, so

5 Anm. des Hsg.: „Sekte und Kirche“ als soziolo­

gische Grundgestalten religiöser Vergemeinschaftung hat Carl Mayer (1933) in seiner Heidelberger Dis­

sertation behandelt. Emil Lederer holte beide, Carl Mayer und Albert Salomon, Mitte der dreißiger Jahre als Dozenten an die „New School for Social Research“: Mayers Nachlaß liegt ebenfalls im Sozial­

wissenschaftlichen Archiv Konstanz.

6 Die Grenzen sind natürlich flüssig. Vgl. Max Weber (1922) über Vergesellschaftung und Vergemein­

schaftung. Auszuschließen sind z.B. griechische Kult­

vereine, die Ephebenverbände (Anm. des Hsg.: Ein Verband meist 18-20jähriger griechischer Jungbür­

ger, kaserniert), die platonische Akademie in Flo­

renz, die Sprachgesellschaften des 17. und die Lese­

gesellschaften des 18. Jahrhunderts.

sind folgende spezifisch soziologische Fragestel­

lungen für eine Analyse zu stellen:

1. Welche Bedingungen ermöglichen sein Er­

scheinen? An welcher Stelle der Kulturdyna­

mik erscheint der Freundschaftskult?

Aus welchem Lebensgefühl und innerhalb welcher Schichtungen des gesellschaftlich so­

zialen Lebens bricht er hervor?

2. Welche Formen und Gestaltungen muß er in dem historischen Kairos seines Ausbrechens annehmen oder welcher Ausdrucksmöglichkei­

ten kann er sich bedienen?

Zwei Grundfragen sind damit gestellt: Die erste dient der Feststellung der Bedingungen, der mög­

lichen Situation, in welcher ein Freundschafts­

kult auftreten kann; sie zeichnet die Struktur der Kultursituation auf und bezeichnet den mögli­

chen Punkt, von dem aus das Erscheinen einer solchen ins Objektive erhobenen Lebensform sinnvoll ist. Zweitens soll die Frage beantwortet werden, wie Formgestaltung und Ausdrucksge­

staltung bedingt sind. Hier wird die Formanalyse der konkreten Form verlangt. Ihre Bestandteile als soziologische Tatsachen, als Inhalte der Form, diese wiederum durch jene modifiziert und ein­

geschränkt, gilt es darzustellen. Wie mannigfaltig die Erscheinungsformen von Freundschaftskul­

ten nach Gestalt und Auftreten waren, dafür sei­

en hier einige Beispiele genannt.

5. Historische Beispiele bis zum 18. Jahrhundert

Die hellenische Geschichte weist bereits 3 ver­

schiedene Formen von Gemeinschaftsbildungen freundschaftlicher Art auf. Im 6. Jahrhundert erwuchs in Groß-Griechenland in den blühenden Handelsstädten an der italischen Küste als schärf­

ste Reaktion gegen die weltlich-sinnliche Kultur reicher Kaufherren und Patrizier eine asketisch­

religiöse Gemeinde: der Bund der Pythagoräer (Burckhardt 1919). Durch die moralische Größe des Stifters und den tiefen Eindruck der Seelen­

wanderungslehre war eine kurze Zeit hindurch eine Lebensgemeinschaft gegründet worden, die einen höchsten Sinn zu verkörpern schien. Ganz anders war Form und Gehalt jener tiefen leiden­

schaftlichen Beziehung, welche die jungen Söhne Zeus-entsprossener Geschlechter im Athen des 5. Jahrhunderts miteinander verband. Unbändig stolz im Bewußtsein der adeligen Herkunft, voll

(11)

A. Salomon: Der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in Deutschland 289 größter Verachtung gegen alles, was unter ihnen

stand, schlang der Eros der Älteren zu den Jüngeren diese zu einer Jugendgemeinschaft zu­

sammen, die ihre Dynamik in dem Agon fand, in dem der Liebende den Geliebten zu übertref­

fen versuchte. Es war die noetische Sublimierung und Gestaltung einer vornehmen Jugend, die nichts kannte als die selbstherrliche und sponta­

ne Willkür, die eigenen Wünsche und Verlangen7.

Ein Jahrhundert später entstand der Bund um Epikur. Die Polis war machtlos, ihr Verband zer­

rissen, der Mensch auf sich gestellt in einer von den Göttern gemiedenen Welt. Die lebensferne Serenitas und selbstlose Güte, die hinter einer Philosophie ästhetischen Selbstgenusses (Windel- band/Guenther 1888: 284) - den eigenen Ma­

ximen zum Trotz (Usener 1912: 305 ff.) - im Garten Epikurs von sinnenden und einsamen Menschen gelehrt wurde, ist weltenfern der Ge­

meinschaft souveräner athenischer Jünglinge.

Die „Gärten“ (Usener 1887) waren die Zuflucht für alle, die überdrüssig des weltlich-betriebsa­

men Lebens und der Polis und einer entgötter- ten Natur das Göttliche in die Liebe und Güte zueinander gerettet hatten. Seelische Müdigkeit und Grazie des Herzens scheiden sich freiwillig von der Welt ab, um im Freundeskreis den in der Welt abhanden gekommenen Sinn einer wirk­

lichen Lebensgemeinschaft wieder lebendig zu machen.

Als die Welt in ein anderes Zeichen getreten war, verbanden sich die Söhne überfüllter Kulturen mit den Ärmsten der Armen zu freiwilliger Bruderschaft der „Armen am Geist“

in den frühen Christengemeinden. Dieses ur- christliche Ideal einer Lebensgemeinschaft der Liebe und Brüderlichkeit rief im katholischen Mittelalter immer von neuem begeisterte Scha­

ren zum Zusammenschluß und Kampf gegen das heidnische Imperium der Kirche, um der Verwirklichung des wahren christlichen Lebens willen. Katharer und Waldenser, die exempla­

rischen Ketzergemeinden des Mittelalters, hatten kein anderes Ziel, als den Sinn der christlichen Lehre zu verwirklichen.

Anfangs gelang es der Kirche noch, solche Be­

wegungen für sich fruchtbar zu machen und * 5 7 Wahrscheinlich sind junge Leute niemals wieder so

aufmerksam, so liebevoll, durchaus in Hinsicht auf ihr Bestes (virtus) behandelt worden wie im 6. und 5. Jahrhundert, also gemäß dem schönen Spruch Hölderlins: „Denn liebend gibt der Sterbliche vom Besten“. Vgl. Nietzsche 1901.

vom radikalen Handeln abzulenken. Sie nahmen aber bald die Form an, in welcher die „Lollar- den“ oder „Brüder vom gemeinsamen Leben“

(auch: Alexianer, Alexiusbrüder, Celliten. — Hrsg.) in den Niederlanden und Niederdeutsch­

land ihr urchristliches Ideal organisierten: als Dienst an den Armen und Leidenden, verbun­

den mit strengster Askese der Brüder. Diese Ge­

meinschaften beschränkten sich aber ganz auf das Seelisch-Innerliche, auf die Erweckten und Erleuchteten. So entstehen jene Reise- und Briefgemeinschaften, wie die Gottesfreunde vom Oberrhein, Johannes Tauler und Rulman Merswin, Heinrich von Nördlingen, Christina Ebner und Elsbeth Stagel8.

Welches Maß und auch Übermaß der Belastung wird menschlichen Beziehungen in Zeiten auf­

gebürdet, die das Leben bis zum Äußersten durchrationalisiert haben? Freundschaft und Liebe, Gemeinschaft werden schwer und bleiern, ja sind voll Trauer, wenn alles in die Formen

menschlicher Nähe flüchtet, was noch an Ah­

nung um überrationale Kräfte, an Sehnsucht nach einer versperrten Heimat, an dunklem Glau­

ben der Erfüllung und Gotteskindschaft im Ge- müte unzerstörbar lebt.

Für die neueren Epochen, in denen der Mensch nicht mehr unmittelbar Träger und Bild allen Sinnes ist, in Zeiten, welche die sachlichen Be­

züge und objektiven Bindungen als primär er­

kennen, wird das Auftauchen solcher Verbin­

dungen stets ein Symbol für den Protest der Menschlichkeit sein, ein Ausdruck der Gesinnung, daß der Mensch sich wieder als Sinn der Welt fühlt, daß wichtiger als die Geltung und Hingabe ans Reich der Objektivität die Erfülltheit und Schönheit der Menschen ist.

Die ewige Antinomie der Moderne von Werk, Leistung, Arbeit einerseits und Leben, Geist, Seele andererseits drängt immer wieder zum Aus­

trag und zur Entscheidung. So wird der Einbruch einer „freundschaftlichen Gemeinschaft“ zum Symbol des Kampfes der Seele und ihrer abso­

luten Forderungen gegen den trägen und zähen Lebensstoff. So werden diese Konkretisierungen der seelischen Formen zu ins Leben vorgerück- 8 Anm. des Hsg.: Elsbeth Stagel hat den Lebensbe­

richt von Heinrich Seuse, eine der ersten Auto­

biographien in deutscher Sprache, aufgezeichnet.

Siehe W. Zeller (1967). - Über die „Lollarden“

siehe E. Hoffmann (1936).

(12)

290 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 3, Juli 1979, S. 279 - 308 ten Werken einer ihm fremden Sphäre „reiner

Seelenwirklichkeit“.

6. Der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in Deutschland: Grenzen und Struktur des 18. Jahrhunderts

Es gilt nun, die Form des Freundschaftskultes im 18. Jahrhundert nach den oben ausgeführten soziologischen Gesichtspunkten zu entwickeln.

Zu diesem Zweck ist der Begriff des 18. Jahr­

hunderts zu umschreiben und als geistige Einheit gegen frühere und spätere Perioden abzugrenzen.

Die Grenzen des 18. Jahrhunderts werden durch die Emanzipation des Bürgertums einerseits, die Romantik andererseits bestimmt. Die englische Revolution von 1688 eröffnet den Siegeszug der bürgerlichen Gesellschaft; am Ende des 18. Jahr­

hunderts hat ihr „Geist“ den Kontinent erobert und in Frankreich sich auch politisch Raum ge­

schaffen für die Durchführung demokratischer Ideen und Lebensformen. Alle „neuen“ Ideen blieben aber in Deutschland Theorie und ohne jede praktische Wirksamkeit.

Erst die Romantik bedeutet den Versuch, diesen neuen Geist auch als seelische Schöpfung, als neue Form darzustellen. Das 17. Jahrhundert war höfisch-gelehrt, polyhistorisch, das Zeitalter großer metaphysischer Systeme und einer pom­

pösen barocken Literatur. Es war eine rein ari­

stokratisch-feudale Kultur, begabt und sich wohl­

fühlend in monumentalen Formen und heroisch­

ritterlichen Gesten, insbesondere wo sie in reiner Form auftrat, wie in Frankreich. In Deutschland kam diese Welt des Barock als originale Gestal­

tung kaum vor: er blieb hier immer Übertragung und Nachahmung fremder Lebens- und Kultur­

formen.

Mit den Hamburger moralischen Wochenschriften und dem Auftreten der Schweizer Gelehrten- Dichter tritt das deutsche Bürgertum zum ersten Male produktiv-reproduktiv, dem englischen Mu­

ster folgend, als Repräsentant geistiger Bildung auf. In dem Gegensatz der Züricher zu Gottsched ist heute nicht mehr der Streit um die kunst­

theoretischen Differenzen das Bedeutsame, son­

dern das Aufeinanderprallen zweier Lebensfor­

men in der Stellung zu Wissenschaft und Bildung.

In Gottsched verkörpert sich der Typ des Poly­

histors und Gelehrten überhaupt, der ganz in der

Hingabe an die sachlichen Güter der Kunst und Wissenschaft lebt und, indem er dieser Forderung Genüge tut, seine Lebensform findet. Seine Ver­

dienste beziehen sich in erster Linie auf objekti­

ve Werte der Kultur, der Sprache, des Theaters und der Wissenschaft. Er pflegte sie um ihrer selbst willen.

Die Züricher aber beginnen mit dem Umstellen aller Kulturobjektivationen auf den Menschen:

„Der Mensch steht im Mittelpunkt unserer Ar­

beit“ heißt es in den „Diskursen der Maler“ , anklingend an Alexander Pope’s „The proper study of Mankind is Man“ (1741: Epistel II).

Damit,eröffnen sie eine Tendenz, die für das 18. Jahrhundert konstitutiv wurde: alles hat dem Menschen zu dienen, alle Werte erhalten nur da­

durch ihren Sinn, daß sie im Menschen lebendi­

ge Gestalt werden.

Die Romantik andererseits bedeutet einen Bruch der historischen Kontinuität, einen neuen Anfang,' ein eigenes Schicksal. Friedrich Schlegel und Novalis — und sie allein begründen die Be­

wegung theoretisch und dichterisch — sind Re­

volutionäre der Seele. Es ist für sie nicht ent­

scheidend, daß sie ein großes Erbe vorfinden und als erste Generation in Deutschland in einer Luft aufwachsen, die von dem Zauber einer reichen Poesie erfüllt war, einer erhabenen Philosophie und Kunstbetrachtung. Schlegel und Novalis be­

zeichnet der heroisch-enthusiastische Versuch, aus begeisterten Herzen eine neue Welt zu schaf­

fen. Das Leben zu revolutionieren, Formen zu zerbrechen, und neue an ihre Stelle zu setzen, das ist ihr Streben.

In dunkler und stammelnder Sprache verkünden sie eine neue Welt der Liebe und menschlichen Gemeinschaft, ein „drittes Reich“ , in dem alles Empirische durch Poesie aufgehoben wird. Man tut der Romantik unrecht, wenn man sie eine Literatenbewegung nennt. Der jugendlich glü­

hende Novalis, vor dem ebenso jungen Schlegel in Jena stehend, war gewiß kein phantasieren­

der Literat, sondern ein enthusiastischer Mensch, in welchem das Licht einer anderen Welt brann­

te, als er sagte, es gäbe nichts Böses in der Welt und das goldene Zeitalter nahe sich wieder. Es ist derselbe Mensch, der triumphierend den

„Erdgeist“ überwunden und eine neue Herrlich­

keit entstehen sah. Niemals handelt es sich für die Romantiker um Kunst, sondern immer um

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