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Debatte: Wirtschaft und Politik in der Schweiz

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Debatte:

Wirtschaft und Politik in der Schweiz

Die schweizerische Wirtschafts- und Fiskalpolitik im internationalen Vergleich1

Klaus Armingeon, Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern;

E-Mail: armingeon@ipw.unibe.ch

Probleme

Die Schweiz hat ein eigentümliches wirtschaftliches Leistungsprofil. Im Ver- gleich mit anderen etablierten Demokratien der OECD-Ländergruppe weist sie seit mehr als einem Vierteljahrhundert ein rekordniedriges Wirtschaftswachs- tum auf. In der Folge rutschte sie von einer früheren Spitzenposition auf der Rangliste des Inlandsprodukts pro Kopf (in Kaufkraftparitäten) im Jahr 2003 auf den 5. Platz ab. Mit 32‘500 USD p.c. liegt sie hinter Irland, Norwegen, den Vereinigten Staaten und Luxemburg. Der Abstand zu den acht nachfolgenden Ländern ist gering. Belgien, Island, das Vereinigte Königreich, Australien, Nie- derlande, Kanada, Oesterreich und Dänemark haben ein kaufkraftbereinigtes Inlandsprodukt p.c. das mindestens 90% des schweizerischen Wertes beträgt.

Häufig wird darauf hingewiesen, diese Zahlen zeichneten das Bild zu dunkel (siehe jüngst: Kohli 2005; Rich 2005). Zum einen würden die Verbesserungen der Handelsbedingungen (terms of trade) nicht sachlich richtig – als Vorteile tech- nologischen Fortschritts – statistisch bei der Berechnung der Wachstumsindices erfasst. Und viel besser sehe es ohnehin aus, wenn man sich nicht auf das Brut- toinlandsprodukt (also im Wesentlichen das im Land entstandene Einkommen) stütze, sondern auf das Bruttosozialprodukt (Bruttonationaleinkommen), also

1 Dieser Beitrag dient als Einleitung zu der nachstehend dokumentierten Debatte. Im Gegensatz zu den anderen Beiträgen unterlag er aufgrund seines summarischen Charakters nicht dem Begutachtungsverfahren. Die verwendeten Daten zur ökonomischen Variablen stammen von der OECD (www.oecd.org). Als Herausgeber bin ich dem Gutachter dankbar, der mit einer Ausnahme alle der folgenden Analysen evaluiert hat und wichtige Anregungen zur Verbesserung gegeben hat.

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des von Inländern in der Schweiz und im Ausland erzielten Einkommens. Die Differenz kommt zustande, weil Inländer – vor allem durch ihre Vermögens- anlagen – im Ausland beträchtliches Einkommen erwirtschaften. Unter Ge- sichtspunkten des Erfolges nationaler Wirtschaftspolitik ist dies allerdings ein schwacher Trost. Für Schweizer sind offensichtlich die Bedingungen im Aus- land Einkommenssteigerungen zu erzielen, ceteris paribus besser als im Lande selbst. Und zur Beurteilung der Erfolge der nationalen Wirtschaftspolitik taugt das Inlandsprodukt besser als das Bruttosozialprodukt, das auch im schweizeri- schen Falle in starkem Masse Erfolge und Niederlagen der Wirtschaftspolitik des Auslandes widerspiegelt.

Eine häufige Fehlwahrnehmung in der öffentlichen Debatte bezieht sich auf die Präsenz und Wettbewerbsfähigkeit Schweizer Unternehmen auf dem Welt- markt. Die Schweiz spielt keineswegs im internationalen Handel von Gütern und Dienstleistungen an vorderster Front mit. Andere kleine, weltmarktoffene Länder – wie Luxemburg, Irland, Niederlande, Belgien, Oesterreich – exportie- ren und importieren sehr viel mehr Güter und Dienstleistungen (gemessen in Einheiten des Sozialprodukts, 2000-2002) als dies die Schweiz tut. Es gibt zwar auch andere kleine Nationen, die einen ähnlich bescheidenen Aussenhandel wie die Schweiz haben. Dies gilt für Dänemark, Norwegen, Finnland, Island und Neuseeland. Aber das im Inland gerne kolportierte Bild der Eidgenossen, die auf ausländischen Güter- und Dienstleistungsmärkten nahezu unschlagbar sind, ist ein Wunschtraum. Damit einher geht eine starke Asymmetrie zur EU, dem wichtigsten Wirtschaftspartner. Im Jahr 2003 gingen 60% des schweizerischen Exports in die EU, während nur 7% des EU Exports in der Schweiz landete. Das Wohl und Wehe der schweizerischen Wirtschaft hängt im beträchtlichen Aus- mass von der EU-Oekonomie und deren wirtschaftspolitischen Akteuren ab, während die Bedeutung der Schweizer Wirtschaft für die EU sich einer quantité négligeable annähert.

Erfolge

Auf der Habenseite sind im internationalen Vergleich sicherlich der Arbeits- markt, das System der Arbeitsbeziehungen, das wohlfahrtsstaatliche System und seine Finanzierung sowie die erfolgreiche Geld- und Fiskalpolitik zu ver- buchen. Mit 4.5% war im Jahr 2004 die für den internationalen Vergleich stan- dardisierte Arbeitslosenquote niedrig. Aehnlich gute Werte wiesen acht OECD- Länder auf (Oesterreich, Irland, Japan, Luxemburg, Niederlande, Norwegen und das Vereinigte Königreich). Nur Neuseeland und Korea hatten eine ger- ingere Arbeitslosigkeit. Mit ihrer Erwerbsquote ist die Schweiz zusammen mit Island im Jahr 2004 Klassenbester. Die Frauenerwerbsquote ist hoch und wird nur noch von jener in den nordeuropäischen Ländern übertroffen. Im Gegen-

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satz zu Nordeuropa geht jedoch dieser hohe Frauenanteil sehr stark auf eine deutlich überdurchschnittliche Ausbreitung der Teilzeitarbeit zurück. Die Früh- verrentung mit ihren katastrophalen Folgen für das Sozialstaatsbudget ist viel schwächer ausgeprägt als in den Nachbarländern (Ebbinghaus 2000; Ebbing- haus 2001). Das System der Arbeitsbeziehungen ist durch ein vergleichsweise geringes Streikniveau und eine Dominanz sozialpartnerschaftlicher Orientie- rungen geprägt. Der Wohlfahrtsstaat ist im Moment noch finanzierbar und er richtet grosszügige Leistungen an seine Klienten aus. Entlastend ist in dieser Hinsicht, dass 20% der Bevölkerung und 25% der Erwerbstätigen Ausländer sind. Diese Bevölkerungsgruppe hat bezüglich der Beiträge und Leistungen des Wohlfahrtsstaates eine günstigere demographische Zusammensetzung. Dies ändert sich, wenn eine wachsende Zahl von Ausländern ihr ganzes Erwerbs- leben in der Schweiz verbringt und damit Ansprüche auf volle Altersrenten erwirbt. Ebenso problematisch könnte sich eine Angleichung der Ausländer- fertilität an jene der Schweizer Bevölkerung auswirken. Die Nationalbank hat wie in den vergangenen Jahrzehnten eine Geldpolitik betrieben, die sich kon- sequent und erfolgreich am Ziel der Preisstabilität orientiert. Ihr wurde zwar von Gewerkschaften und Sozialdemokratie vorgeworfen, die restriktive Politik der 1990er Jahre hätte den Aufschwung abgewürgt, bevor er überhaupt hätte beginnen können. Aber in ihrer preisstabilitätsorientierten Politik kann sich die SNB wahrscheinlich auf eine Mehrheit der Bevölkerung stützen, wie man dies anhand der einschlägigen Abstimmungsergebnisse erkennen kann. Die Steuer- belastung ist noch immer gering. Die OECD berichtet, Steuern und Abgaben im engeren Sinne (dazu zählen beispielsweise nicht die Beiträge zur Zweiten Säule) hätten in der Schweiz im Jahr 2005 35% des Inlandsprodukts betragen. Derart niedrige Werte konnten nur noch die USA, Korea, Japan und Irland aufweisen.

Norwegen und Schweden haben hingegen eine Fiskalquote von ca. 60%. Die Defizite der öffentlichen Haushalte sind vergleichsweise gering. Sie betrugen im Durchschnitt der Jahre 1996-2005 gerade 0.5%. Der Schuldenstand wird seit 2002 auf einem Niveau von 55% konsolidiert. In ökonomischer Perspektive sind sowohl Defizit und insbesondere Schuldenstand weit von Idealwerten entfernt.

Aber im Vergleich mit den anderen europäischen Ländern sind diese schlechten Werte noch immer sehr gut.

Gefahren

Auf dieses positive Bild fallen allerdings einige Schatten: Die Arbeitslosigkeit ist anfangs der 1990er Jahre auf das heutige Niveau angestiegen und es gelang der Schweizer Arbeitsmarktpolitik nicht, die Arbeitslosenquote nachhaltig wieder nach unten zu drücken. Die Erwerbsquote der Männer zwischen 55 und 64 Jahren ist seit 1990 um 10 Prozentpunkte gefallen. Dies wirkte sich bei

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der Gesamterwerbsquote nicht aus, weil gleichzeitig die Erwerbsquote älterer Frauen im selben Masse gestiegen ist. Auch in der Schweiz zeigen sich somit Hinweise auf eine bedenkliche Lösung von Arbeitsmarktproblemen durch die zunehmende Frühverrentung von Männern (vgl. die Besprechung des Buches von David Dorn durch Bernhard Ebbinghaus in dieser Ausgabe). Der koope- rative Charakter der Arbeitsbeziehungen schwächte sich in den vergangenen fünf Jahren ab. Auf Seiten der Unternehmer wurde teilweise weniger Wert auf (kostspielige) Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften gelegt (Mach 2004).

Die grossen Gewerkschaften leiden unter Mitgliederschwund. Sie versuchen die finanziellen und politischen Folgen durch Organisationsreformen zu min- dern und führen zunehmend Arbeitskämpfe durch. Eine geringere Konzessions- bereitschaft der Unternehmer dürfte nur ein Grund für diesen Strategiewandel sein. Daneben sind vielleicht die Gewerkschaften zu Medieninszenierungen gezwungen, um ihre Nützlichkeit für Arbeitnehmer zu kommunizieren. Diese neuen Strategien sind umso wichtiger, je mehr die klassischen Arbeitnehmer- milieus mit ihren sozialisierenden Funktionen zerfallen. Und schliesslich wird der bisherige Korporatismus auch geschwächt, weil der Staat die Sozialpartner- verbände weniger als in der Vergangenheit in die Formulierung öffentlicher Politiken einbezieht (Sciarini, Nicolet et al. 2002; Häusermann, Mach et al. 2004).

Dramatisch sind schliesslich die Veränderungen im Bereich des Wohlfahrts- staates. In der OECD-Welt ist die Schweiz Spitzenreiterin bei den Zuwächsen der Sozialausgaben (% BIP). Der Anteil der Sozialausgaben stieg von 14 (1980) auf 26% des Bruttoinlandsprodukt (2001). Daran sind Leistungsausdehnungen nur teilweise schuld. Das Wachstum des Quotienten von Sozialausgaben und Bruttoinlandsprodukt (BIP) geht auch auf den geringen Zuwachs des Nenners, also des BIP, zurück. Der Sozialausgabenanteil wäre fast um die Hälfte geringer ausgefallen, wenn nur das BIP in einem Ausmasse zugenommen hätte, wie das im OECD Durchschnitt in dieser Periode der Fall gewesen ist (Armingeon 2001). Auch dieser Befund deutet auf das fehlende Wirtschaftswachstum als zentrale Herausforderung der schweizerischen Wirtschaftspolitik hin. Wird sie nicht bewältigt, werden ceteris paribus die Erfolge im Bereich der Fiskal- und Sozialpolitik ebenso wenig zu halten sein wie ein überdurchschnittlicher Platz in der Rangreihe des wirtschaftlichen Reichtums.

Was kann Wirtschaftspolitik tun und erreichen?

Welche politischen Ursachen für solche wirtschaftlichen Probleme, Erfolge und Gefahren gibt es? Die vergleichende Politikwissenschaft hat hierzu in den vergangenen Jahren eine Reihe von Befunden zusammengetragen. Einige besonders interessante Ergebnisse können folgendermassen zusammengefasst werden:

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(1) Die Steuerungschancen des politischen Systems gegenüber dem ökono- mischen System werden systematisch überschätzt, weil in der Regel die Politik nur inkrementale Veränderungen zuwege bringt und weil die politische Intervention in die Wirtschaft häufig aufgrund deren Eigenlogik scheitert. Unter Normalbedin- gungen eines stabilen politischen Systems können unterschiedliche Institutionen, Personen oder Parteien nur inkrementale Veränderungen bewirken (Pierson 1994;

Rose und Davies 1994; Schmidt 2005). Langfristig wirken sich zwar Kurswechsel um nur zwei Grad substantiell aus – man erreicht von Europa kommend nicht Florida, sondern Kuba – aber kurzfristig sind zwischen zwei Wahlterminen grosse Verände- rungen aufgrund der Pfadabhängigkeit von staatlichen Politiken kaum realisierbar.

Und selbst wenn der Politik ein grosser Wurf gelänge, bedeutet dies noch nicht, dass er auch die gewünschte Wirkung hat. So haben beispielsweise die britischen Unternehmer teilweise die Gewerkschaftsreformen von Frau Thatcher unterlaufen, weil diese etablierte betriebliche Arbeitsbeziehungen zerstörten (Marsh 1992).

(2) Eine wichtige Implikation dieses Befundes ist die Bedeutung früher Entschei- dungen. Hat man sich einmal – ohne grosse Chancen auf Antizipation der Folgen in ferner Zukunft – in einer Entscheidungsphase zugunsten eines sozialpolitischen Modells entschieden, kann man sich nicht umstandslos davon verabschieden (Pier- son 2000). Freilich können sich dramatische Dynamiken ergeben, wenn weitge- hend reformresistente Institutionen in der gewandelten Umwelt fortbestehen. Ein Beispiel ist die schweizerische AHV, die kaum ein Finanzierungsproblem kennen würde, wenn die Lebenserwartung und das wirtschaftliche Wachstum seit ihrer Einrichtung annähernd gleich geblieben wären.

(3) Diese Pfadabhängigkeit bedeutet für politische Parteien, dass sie viel weni- ger erreichen können, als sie im Parteienwettbewerb beanspruchen (Schmidt 2002).

Weder haben sie die Option, einen umfangreichen Wohlfahrtsstaat weitgehend abzubauen (Kitschelt 2001; Obinger und Kittel 2004), noch können sie sich Hoff- nungen machen, kurzfristig Arbeitslosigkeit zu beseitigen (Armingeon 2003). Die Logik des Parteienwettbewerbs zwingt sie jedoch dauernd zu weitreichenden Ver- sprechungen, die sie nach dem Stand unseres Wissens kaum erfüllen können.

(4) Institutionen machen einen Unterschied für die Wirtschaftspolitik, jedoch erheblich differenzierter, als die Intuition nahe legt: So liefern eine Reihe von Ana- lysen Hinweise, dass Mehrheitsdemokratien nicht besser als Konkordanz- demokratien geeignet sind, wirtschaftspolitische Strukturreformen durchzufüh- ren. Ebenso liegen recht robuste Befunde vor, dass korporatistische oder konkor- danzdemokratische Länder kein geringeres Wirtschaftswachstum verzeichnen, als Wettbewerbsdemokratien und Nationen mit pluralistischen Staat-Verbände- Beziehungen (Lijphart 1999; Armingeon 2002). Vetopunkte wie starke Gliedsta- aten (Braun 2003; Cusack und Fuchs 2003), unabhängige Nationalbanken (und die direkte Demokratie) korrelieren häufig mit einem fiskalisch schlanken Zentral- staat.

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(5) Für das wirtschaftliche Wachstum ergibt sich der erstaunliche Befund, dass in der Regel Politik nicht wichtig ist. Der robusteste politisch-institutionelle Indikator ist die Garantie von Eigentumsrechten. Der robusteste ökonomische Indikator ist der wirtschaftliche Reichtum zu Beginn des Beobachtungszeitrau- mes. Je höher das Sozialprodukt zu Beginn einer Untersuchungsperiode ist, desto geringer sind seine nachfolgenden Wachstumsraten (Sala-i-Martin 2002;

Obinger 2004).

(6) Die ökonomischen Wirkungen von Wirtschafts- und Sozialpolitiken sind hochgradig kontextabhängig (Hall und Soskice 2001). Ein umfangreicher Sozi- alstaat ist beispielsweise systematisch nicht wachstums- und beschäftigungs- feindlicher als ein schlanker Wohlfahrtsstaat. Grosszügige passive Arbeits- marktpolitiken haben nicht durchgängig die verhängnisvollen Beschäftigungs- wirkungen, die ein einfaches ökonomisches Modell unterstellt. Aktive Arbeits- marktpolitik erhöht nur unter bestimmten Bedingungen die Beschäftigung. So wurde kürzlich gezeigt, dass die kontinentaleuropäische Sozialpolitik mit ihrem Schwergewicht auf den beitragsfinanzierten Sozialwerken beschäftigungs- feindlich ist, weil sie die Schaffung von Arbeitsplätzen für schlecht Qualifizierte erschwert. Aber umgekehrt hat der umfangreiche nordeuropäische Sozialstaat nicht diese Effekte, weil er sich stärker über Steuern finanziert und Beschäfti- gung im öffentlichen Sektor schafft (Scharpf 2000).

Wendet man diese Befunde auf die Schweiz an, so sind die in der Oeffentlich- keit häufig erhobenen Vorwürfe gegen Konkordanz, Korporatismus, direkte Demokratie und Föderalismus gegenstandslos. Ein beträchtlicher Teil des ge- ringen Wachstums wäre als Ausdruck eines kaum vermeidbaren Konvergenz- prozesses hin auf ein einheitliches Niveau wirtschaftlichen Reichtums zu ver- stehen. Dem schwach ausgebildeten Parteienwettbewerb wäre das Ausbleiben von Strukturreformen nicht anzulasten. Ein Hauptproblem der schweizerischen Wirtschaftspolitik bestünde nicht in der Variation einer einzelnen Politik oder eines Sets von Politiken, sondern vielmehr in einer effizienten Konzertierung von Institutionen und Politiken.

Die Beiträge zu der Debatte

Was im Allgemeinen für die OECD-Länder gilt, muss nicht notwendigerweise für die Schweiz gelten. Der prominente Basler Oekonom Silvio Borner und seine Mitarbeiter betrachten die Schweiz als System sui generis, das sich gegen einen Vergleich mit anderen etablierten Demokratien sperre. Sie vertreten zusammen mit anderen Wirtschaftswissenschaftlern, wie Walter Wittmann, seit längerer Zeit die These, die ökonomischen Probleme der Schweiz liessen sich auf die Wirkung von politischen Institutionen zurückführen. Dazu gehören die direkte Demokratie und die Konkordanz.

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Die in diesem Heft dokumentierte Debatte wurde durch einen Beitrag von Hans Peter Fagagnini ausgelöst, den er der Redaktion zum Abdruck anbot.

Er argumentiert, die wirtschaftlichen Probleme der Schweiz seien zu einem beträchtlichen Teil durch institutionell abgestützte und verstärkte Fehlentschei- dungen der Wirtschaftseliten verursacht, die unter anderem die Politik für ihre kurzfristigen Interessen instrumentalisiert hätten. Fagagnini nimmt damit eine Gegenposition zur These von Borner und Mitarbeitern ein. Ich habe daraufhin eine Reihe von Politikwissenschaftler und Oekonomen gebeten, mit einer kurzen pointierten Stellungnahme auf der Basis der eigenen einschlägigen Forschung einen Beitrag beizusteuern. Als Fragestellung gab ich vor, ob und wie politische Institutionen oder politische Kräfteverhältnisse die wirtschaftlichen Problemen der Schweiz verursacht oder verstärkt haben. Damit sich die Beiträge aufein- ander beziehen können, bat ich eines der drei folgenden Probleme zu behan- deln: Das geringe Wirtschaftswachstum, die Hysteresis der Arbeitslosigkeit auf international niedrigem Niveau oder die Finanzierungsdefizite der Sozialwerke.

Es wurde klargemacht, dass keine umfassenden und differenzierten Analysen erwartet werden. Vielmehr ging es um eine kurze pointierte Stellungnahme, in der ein zentraler Punkt deutlich zu machen sei.

Den Beginn der Auseinandersetzung markieren die konträren Beiträge von Bodmer/Borner und Fagagnini. Die Oekonomen Feld und Schaltegger weisen in ihrer Analyse auf die ökonomischen Vorteile von direkter Demokratie (Inno- vation, breite Legitimation staatlichen Handelns), Föderalismus (z.B. Kantone als Labors für innovative Lösungen) und Konkordanz hin (zuverlässige, nach- haltige und wenig durch Partikularinteressen geprägte Politik). Gebhard Kirch- gässner behandelt den Zusammenhang zwischen Staatsquote und Wirtschafts- wachstum. Er argumentiert, die beobachteten hohen kantonalen Staatsquoten seien nicht wachstumsfeindlich. Vielmehr könnten reiche Kantone mit hohem Wirtschaftswachstum ihren Bürgern mehr Leistungen bieten und hätten trotz- dem eine geringere Staatsquote als einkommensschwächere Kantone mit gerin- gem Wachstum. Zu einem gegensätzlichen Befund kommen Jan-Erik Lane und Dominic Rohner. Sie argumentieren, die wachsende Belastung der Bürger mit Steuern und Sozialabgaben seien die Ursachen des geringen wirtschaftlichen Wachstums. Den politischen Institutionen seien keine wachstumsfeindlichen Effekte anzulasten. In diesem Punkt treffen sie sich mit Georg Lutz und Thomas Votruba. Die Autoren untersuchen, ob der Vorwurf berechtigt ist, die direkte Demokratie wirke wirtschaftsfeindlich. Sie haben hierzu das Abstimmungsver- halten der Bürger untersucht und finden, die Bürger stimmten meist wirtschafts- freundlich ab. Rita Nikolai geht in ihrem Beitrag der Frage nach, wie man die positive Arbeitsmarktperformanz trotz geringem Wachstum erklären könne. Sie hebt drei Punkte hervor: Die hohe Flexibilität des Arbeitsmarktes, das beschäfti- gungsfreundliche sozial- und fiskalpolitische Klima und der Ausbau der aktiven

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Arbeitsmarktpolitik. Herbert Obinger weist in seiner Analyse darauf hin, dass die Wachstumsraten der Schweiz recht gut den Vorhersagen der neoklassischen Wachstumstheorie entsprechen. Institutionen wie direkte Demokratie, Födera- lismus oder Konkordanz wären nicht die Ursache der Wachstumsschwäche.

Mehr spricht – ebenso wie bei Lane und Rohner – für politische Fehlentschei- dungen. Die Chance zur Korrektur solcher Fehlentscheidungen sei in der Schweiz besonders hoch, weil hier die institutionellen Voraussetzungen für einen verhandelten Wandel der Wirtschaftspolitik besonders gut seien.

An dieser Debatte sind mehrere Ergebnisse interessant. Unter anderem fällt auf, dass das Lager der Oekonomen in der Ursachenanalyse genauso wenig kohärent ist, wie jenes der Politikwissenschaftler. Und zum zweiten fällt die Konvergenz von methodischen Zugängen trotz beachtlicher methodischer Unterschiede auf. Die Vorgehensweisen der Oekonomen bei der Analyse des konkreten Falles der Schweiz unterscheiden sich kaum von jenen der Poli- tologen, obwohl die letzteren den Fokus auf politische Variablen legen und die Wirtschafswissenschaftler sich eher auf ökonomische Grössen konzentrie- ren. Diese internen Unterschiedlichkeiten der Argumente der Fachwissen- schaften und die methodischen Aehnlichkeiten zwischen den beiden beteiligten Disziplinen könnten selbstverständlich einen Selektionseffekt darstellen, weil sich nur jene an dieser Diskussion beteiligt haben dürften, die vermuten, dass sich beide mit wirtschaftspolitischen Problemen beschäftigten Disziplinen etwas zu sagen haben. Dass tatsächlich die wechselseitige Wahrnehmung von Argu- menten vorteilhaft ist, zeigt meines Erachtens auch diese Debatte. Vielleicht sind solche Konfrontationen von Befunden unterschiedlicher Disziplinen intellek- tuell ergiebiger, als dem immer wieder nachdrücklich vorgetragenen politischen Wunsch nach Interdisziplinarität nebst Synergieeffekten mit Lippenbekenntnis- sen nachzukommen. In der Praxis zeigt sich, dass diese Interdisziplinarität in den je unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Kreisen mit ihren spezifischen Erfolgs- und Reputationskriterien kaum zu verwirklichen ist. Viel mehr scheint es etwas zu bringen, wenn man mit Interesse, Lernbereitschaft und Skepsis Analysen aus den Nachbardisziplinen rezipiert. Dies gilt für die Politikwissen- schaft. Aber auch für die Oekonomie.

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Ist die direkte Demokratie mitschuldig an der wirtschaftlichen Stagna- tion der Schweiz?

Frank Bodmer, Wirtschaftswissenschaftliches Zentrum, Universität Basel;

E-Mail: frank.bodmer@unibas.ch

Silvio Borner, Wirtschaftswissenschaftliches Zentrum, Universität Basel;

E-Mail: silvio.borner@unibas.ch

1 Einleitung

Die Schweiz stagniert. Seit Beginn der 90er Jahre konnte praktisch kein Wachstum erzielt werden. Die Schweiz liegt damit im Vergleich zu den anderen OECD-Län- dern weit abgeschlagen auf dem letzten Platz, noch deutlich hinter Deutschland und Japan, über deren Krisen schon viel geschrieben wurde.1 Gleichzeitig stiegen die Staats- und die Fiskalquote markant an. Während für die 90er Jahre die Krise allgemein sicht- und spürbar ist, so liegen ihre Wurzeln bereits in der Phase nach der ersten Erdölkrise von 1974.

Worauf ist diese Wachstumsschwäche nun zurückzuführen? Grundsätzlich gibt es nur drei Erklärungsmöglichkeiten: erstens könnte es sich um Pech in Gestalt von exogenen Angebots- oder Nachfrageschocks gehandelt haben, zweitens um wachstumsfeindliche Verhaltensänderungen von Unternehmen und Arbeitnehm- ern oder schliesslich drittens um falsche Weichenstellungen in der Wirtschafts- politik. Die erste Möglichkeit können wir ausschliessen, scheint die Schweiz

1 Seit der kürzlichen Revision der Zahlen für das Bruttoinlandprodukt ist auch klar geworden, dass die Wachstumsschwäche nicht nur scheinbar ist und auf mögliche Daten- probleme zurückgeht. Für eine Übersicht zur Entwicklung der schweizerischen Volks- wirtschaft, siehe Borner und Bodmer (2004).

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