Studien zu Technologie und Innovation TSB Technologiestiftung Berlin
www.tsb-berlin.de ISBN 978-3- 929273-78-6
RE GIO VER L A G Sc hülerlabor & C o .
Zu den Autoren
Jana Huck, M.A., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Erziehungswissenschaftliche Zukunftsforschung der Freien Universität Berlin. Sie war für das EU-Projekt Form-it: ›Take Part in Research‹ (2006 – 2008; 6. FRP) tätig und ist derzeit im Projekt ITS – Integrierte Transfer-Strategie (2008-2010; BMBF) angestellt.
Prof. Dr. Gerhard de Haan ist Leiter des Arbeitsbereichs Erziehungswissenschaftliche Zukunftsforschung des Fachbereichs Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin. Er ist Vorsitzender des Nationalkomitees der UN-Dekade ›Bildung für nachhaltige Entwicklung‹ und der Deutschen Gesell- schaft für Umwelterziehung e.V. Forschungsschwerpunkte sind Allgemeine Erziehungswissenschaft, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Zukunftsforschung, Wissensgesellschaft, Kulturgeschichte.
Dr. Michael Plesse (Fachlehrer für Chemie und Biologie und promovierter Chemiker) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Erziehungswissenschaftliche Zukunftsforschung der Freien Universität Berlin. Er war im Programm Transfer-21 für den Arbeitsschwerpunkt Grundschule zuständig und zuvor Schulleiter an der 11. Grundschule-Schulkinderhaus, Europaschule in Neubrandenburg, wo er das Konzept des ›Schulkinderhauses‹ entwickelte.
Dieses Projekt der TSB Technologiestiftung Berlin wird aus Mitteln der Investitionsbank Berlin gefördert, kofinanziert
Jana Huck, Gerhard de Haan und Michael Plesse
Schülerlabor & Co.
Außerschulische naturwissenschaftlich-technische
Experimentierangebote als Ergänzung des Schulunterrichts
in der Region Berlin-Brandenburg
Schülerlabor & Co.
Außerschulische naturwissenschaftlich-technische Experimentierangebote als Ergänzung des Schulunterrichts in der Region Berlin-Brandenburg
Studien zu Technologie und Innovation
Eine Schriftenreihe der TSB Technologiestiftung Berlin
herausgegeben von Christian Hammel
Jana Huck, Gerhard de Haan und Michael Plesse
Schülerlabor & Co.
Außerschulische naturwissenschaftlich-technische Experimentierangebote als Ergänzung des
Schulunterrichts in der Region Berlin-Brandenburg
R EG I OV E R LAG
Herausgeber Christian Hammel
TSB Technologiestiftung Berlin Fasanenstraße 85 · 10623 Berlin fon +49.30.46302-500 fax +49.30.46302-444
[email protected] www.technologiestiftung-berlin.de
REGIOVERLAG 2010
Schwedter Straße 8 / 9B · 10119 Berlin fon +49.30.443 77 015
fax +49.30.443 77 02 22 [email protected] www.regioverlagberlin.de
Lektorat Peter Ring
Übersetzung Text International GmbH, Berlin
Layout Hans Spörri
Lithos und Fotosatz typossatz GmbH Berlin
Druck Druckhaus Köthen
Umschlagfotos oben: Biochemie-Labor Freie Universität Berlin Foto David Ausserhofer
unten links: Foto Thomas Oberländer, HELIOS Klinikum Berlin-Buch
unten Mitte: Carl Zeiss Mikroskopierzentrum, Museum für Naturkunde Berlin
unten rechts: Schüler-Experimentallabor (Unex) der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus (BTU) Foto Olaf Gutschker
Redaktionsschluss: September 2009
© TSB / REGIOVERLAG Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-929273-78-6
Vorwort des Herausgebers
In der Schriftenreihe Studien zu Technologie und Innovation erscheinen in unregelmäßigem Abstand Untersuchungen zu regionalen Aspekten von Tech- nologie und Innovation in Berlin-Brandenburg. Entsprechende Studien wer- den von der TSB Technologiestiftung Berlin seit 1994 durchgeführt und dienen neben dem eigenen Erkenntnisinteresse zur Identifizierung von Technologie- feldern, denen die Innovationsstrategien der Region besondere Aufmerksam- keit widmen sollten (innovationspolitisches Portfoliomanagement).
Die Studien stellen Daten, Fakten und Einschätzungen zur künftigen Ent- wicklung einzelner Technologiefelder oder von Querschnittsthemen vor. Mit ihrer Veröffentlichung sollen diese Informationen über den engeren Kreis der Akteure in den jeweiligen Themenfeldern hinaus jedem Interessierten zugänglich gemacht werden. Die Schriftenreihe beleuchtet insbesondere neue Technologien oder Technologien, zu denen bisher keine regional fokussierten Zusammenstellungen, Kompetenzbewertungen und daraus abgeleitete Hand- lungsvorschläge vorliegen. Außerdem werden Themen aufgegriffen, die für die Entwicklung der Kompetenzen in der Region von grundsätzlicher, technologie- übergreifender Bedeutung sind.
In den Publikationsformaten der TSB-Gruppe spiegelt sich die Aufgaben- teilung zwischen der gemeinnützigen TSB Technologiestiftung Berlin (TSB) und ihrer Tochtergesellschaft TSB Innovationsagentur Berlin GmbH (TSB-GmbH) wider: Die TSB-Reports der gemeinnützigen Stiftung zeigen Potenziale spezi- eller Technologien auf, verzichten dabei aber auf die Darstellung ganzer Fach- gebiete und enthalten im Gegensatz zu den TSB-Studien keine Bewertungen oder Handlungsempfehlungen. Mit den TSB-Branchenreports verfolgt die TSB- GmbH regelmäßig die Entwicklung innerhalb der Berliner Kompetenzfelder, stellt einzelne herausragende Akteure oder Projekte vor und liefert Politik und Öffentlichkeit Fakten zur Fortschreibung der Strategie innerhalb der einzelnen Berliner Kompetenzfelder.
Ausgewählte Publikationen der TSB-Gruppe sind:
Studien
RITTS (Regional Innovation and Technology Transfer Strategie) Final Report,
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TSB, 1999
Safner, B., Potenzialstudie Innovatives Bauen, TSB, 2002
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Hammel, C., Lebensmittelindustrie und Lebensmittelrelevante Forschung
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in Berlin und Brandenburg, Regioverlag Berlin, Edition Stadtwirtschaft, 2004
Kunze, H., Büttner, H., Medizintechnik in Berlin, TSB(Hrsg.), Regioverlag
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Berlin, 2006
Vogel, S., Das Technologiefeld Energie in Berlin-Brandenburg, in ›Studien
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zu Technologie und Innovation‹, Hammel,C. (Hrsg.), Regioverlag Berlin, 2008
Reports
Abwärmenutzungskonzepte bei Schiffs- und Bahnantrieben und Block-
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heizkraftwerken, TSB(Hrsg.), TSB, 2008
AIMED, Ambient Intelligence in Medical Enviroments and Devices,
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TSB (Hrsg.), TSB, 2008
Konzeptstudie zur Energie- und Ressourceneffizienz im Betrieb von
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Rechenzentren, TSB (Hrsg.), TSB, 2008
TSB-Report Berlin-Brandenburg: Hier forscht die Jugend!, TSB (Hrsg.),
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TSB, 2009
Branchenreports
Branchenreport Biotechnologie 2007/2008 (englisch), TSB-GmbH (Hrsg.),
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TSB-GmbH, 2008
Branchenreport Medizintechnik 2008, TSB-GmbH (Hrsg.), TSB-GmbH, 2009
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Branchenreport Optische Technologien und Mikrosystemtechnik
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2008/2009, TSB-GmbH (Hrsg.), TSB-GmbH, 2009
Branchenreport Verkehrssystemtechnik 2008, TSB-GmbH (Hrsg.),
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TSB-GmbH, 2008
Branchenreport Wasser 2008, TSB und KWB gGmbH (Hrsg.), TSB, 2008
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Der vorliegende zweite Band der Studien zu Technologie und Innovation widmet sich dem Querschnittsthema natur- und ingenieurwissenschaftlicher Nachwuchs. Dieses Thema ist vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden Mangels an Ingenieuren für sämtliche Technologiefelder relevant. Die Autoren zeigen Möglichkeiten zur Weiterentwicklung außerschulischer Maßnahmen auf, die angeboten werden, um das Interesse an MINT-Berufen und damit die Chancen einer entsprechenden Berufswahl zu erhöhen.
Dr. Christian Hammel
Inhalt
Günther Seliger
Technologiestiftung Berlin forciert Dialog über außerschulische
Experimentierangebote 9
Zusammenfassung 11 Abstract 14
1 Einordnung des Themas in gesellschaftliche Zusammenhänge 17 1.1 Bedeutung von Naturwissenschaft und Technik in der Gesellschaft 17 1.2 Interesse an Naturwissenschaft und Technik 20 1.3 Naturwissenschaft und Technik im Schulunterricht 22 1.4 Entwicklungen im formalen Bildungssystem am Beispiel
Berlins und Brandenburgs 27
2 Hintergrund und Anlass der Studie 31
2.1 Einordnung in die Arbeit der TSB Technologiestiftung Berlin 31
2.2 Fragestellung und Ziel 32
2.3 Methodischer Ansatz und Datenbasis 33
3 Abgrenzung des Forschungsgegenstands 37
3.1 Art und Ausprägung außerschulischer MINT-Bildungsangebote 37 3.2 Differenzierung der Kategorie 1: MINT-Experimentierangebote 39
4 Erkenntnisse über außerschulische Experimentierangebote 43
4.1 Ergebnisse quantitativer Studien 43
4.2 Außerschulische Experimentierangebote in Berlin und Brandenburg 47
4.2.1 Vorkommen und Formen 47
4.2.2 Fachliche Schwerpunkte 49
4.2.3 Zielgruppen 50
4.2.4 Anbieter/Träger 50
4.2.5 Vernetzung der außerschulischen Angebote 51
4.2.6 Unterstützungsstrukturen 51
4.3 Ergebnisse der Wirksamkeitsforschung 52
5 Ergebnisse einer Primärerhebung in Berlin-Brandenburg 55 5.1 Die Betreiber und ihre außerschulischen Experimentierangebote 55 5.1.1 Hintergründe zu Entstehung und Zielen der Angebote 55
5.1.2 Kontaktaufnahme mit Nutzern und Auslastung der Angebote 58
5.1.3 Räumliche Herkunft der Nutzer 60
5.1.4 Angebotsspektrum für Schüler 61
5.1.5 Unterstützungsstrukturen und Ressourcenausstattung 62 5.1.6 Kooperation der Anbieter untereinander vs. Konkurrenz 68 5.2 Lehrkräfte mit Schulklassen in außerschulischen
Experimentierangeboten 71
5.2.1 Motive der Angebotsnutzung 71
5.2.2 Häufigkeit der Angebotsnutzung 75
5.2.3 Äußerungen zu den Kosten der Angebote 77
5.2.4 Unterstützung durch Schulleitung und Kollegium 77 5.3 Einbettung der außerschulischen Angebote in den schulischen
Kontext 78 5.3.1 Disney Park Forschung? Wandertagatmosphäre vs. Integration
in Unterricht 79
5.3.2 Bezug zum Schulcurriculum 79
5.3.3 Vor- und Nachbereitung im Schulunterricht 80
5.4 Ablauf der Experimentierangebote 84
5.5 Wirkung der Experimentierangebote 92
5.6 Beurteilung der Zusammenarbeit zwischen Anbietern
und Lehrkräften 97
5.7 Aus- und Fortbildungsangebote 100
5.8 Probleme und Kritik 102
5.9 Wünsche, Ideen und Zukunftsvorstellungen 105
6 Diskussion der Ergebnisse 115
7 Empfehlungen und Handlungsansätze 125
7.1 Zehn Empfehlungen 125
7.2 Handlungsansätze 132
8 Ausblick 135
Anhang
Außerschulische MINT-Bildungsangebote in der
Region Berlin-Brandenburg 141
Literatur 145
Technologiestiftung Berlin forciert Dialog über außerschulische Experimentierangebote
Die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften – acatech – und der Verein Deutscher Ingenieure, VDI, haben im Juli 2009 eine Studie vorgelegt, in der 13.000 Schüler, Studierende, Ingenieure und Naturwissenschaftler zu Berufs- wahl und zu Berufsperspektiven befragt wurden. Das Ergebnis dieses ›Nach- wuchsbarometer Technikwissenschaften‹ erschreckt: Obwohl die Schüler die gesellschaftliche Bedeutung von Naturwissenschaften und Technik relativ hoch einschätzen, kann sich gerade jeder Zehnte vorstellen, Ingenieur zu werden.
Dies liegt auch an einer Wahrnehmung der Berufsbilder, die in krassem Gegen- satz zu den positiven Einschätzungen derer stehen, die als Naturwissenschaft- ler oder Ingenieur tätig sind und diesen Beruf zu 90 Prozent wieder ergreifen würden.
In der universitären Ausbildung von Naturwissenschaftlern und Ingeni- euren hat der experimentelle Zugang zur Materie einen hohen Stellenwert.
Dies ist am Kurspraktika-Angebot der Hochschulen abzulesen. Unabhängig davon ist es für die Fachwelt unzweifelhaft, dass Experimentieren den unmit- telbaren Zugang zu diesen Fächern eröffnet. Im Schulunterricht hat selbststän- diges Experimentieren oder gar das Lösen eigener Fragestellungen allerdings nur einen geringen Stellenwert. Dies mag zu den Fehlauffassungen über die einschlägigen Berufsbilder beitragen.
Unter anderem deshalb fördert die TSB seit über zehn Jahren regelmäßig außerschulische MINT-Experimentierangebote (MINT: Mathematik, Informa- tik, Naturwissenschaften und Technik) für Schüler. Beispiele sind das gläserne Labor in Berlin-Buch, die Initiative Life Sciences in die Schulen und das Schüler- labornetzwerk GenaU. Auch im bundesweiten Wettbewerb ›Jugend forscht‹ ist Berlin in jedem Jahr mit über 200 teilnehmenden Schülern vertreten.
Von der Analyse der pädagogischen Konzepte, die hinter solchen Ange- boten stehen, durch empirische Bildungsforscher erwartet die TSB Aussagen darüber, ob neben dem ohnehin zu erwartenden besseren Zugang zur Materie für Schüler, die bereits naturwissenschaftlich-technisch interessiert sind, auch das Interesse derjenigen Schüler an MINT-Themen gesteigert werden kann, die bisher kein ausgeprägtes Interesse an entsprechenden Themen haben.
Dies sollte klar belegbar sein, wenn man – auch vor dem Hintergrund aktu- eller Kürzungen schulischer Stunden im MINT-Bereich – die Ausweitung der Angebote auf mehr Schüler und zusätzliche Altersstufen fordert. An Hand von Interviews und durch die Teilnahme an außerschulischen Experimentieran- geboten sollten empirisch fundierte Hinweise gegeben werden, mit welcher Ausgestaltung möglichst nachhaltige Bildungseffekte erzielt werden können.
Außerdem sollten Handlungsempfehlungen für die Verbesserung der Angebote gegeben werden.
Dass Bildungsforscher bei der Beurteilung außerschulischer Angebote in Berlin im wesentlichen zum gleichen Resultat kommen wie Fachdidaktiker oder Ingenieurpädagogen, die sich mit universitären Lehrmethoden befassen, überrascht mich als Hochschullehrer im Maschinenbau wenig. Als Vorstand der Technologie stiftung, die über Jahre hinweg erhebliche Mittel eingesetzt hat, um das MINT-Interesse von Schülern zu fördern, beruhigt es mich aber, dass das Thema Experimentierangebote, auf das wir unseren Förderschwerpunkt setzen, auch aus der Sicht empirischer Bildungswissenschaftler nicht nur als geeignete Herangehensweise zur Vermittlung von MINT-Interesse bei Schülern angesehen wird, sondern dass man auch der Ausweitung solcher Angebote auf jüngere Zielgruppen und auf Zielgruppen, die nicht ohnehin bereits naturwis- senschaftlich-technisch interessiert sind, erhebliche Chancen attestiert. Dies bestärkt uns, die Aktivitäten in diesem Bereich fortzusetzen und auszubauen.
Dazu wird die TSB im ersten Halbjahr 2010 Anbieter von Experimentierangebo- ten, Bildungspolitiker und Unternehmen, die unter Nachwuchsmangel leiden, zum Dialog einladen, um gemeinsam nach Wegen zur Verstetigung und zur Ausweitung der Angebote für mehr Schüler in Berlin zu suchen.
Prof. Dr.-Ing. Günther Seliger
Vorstand der TSB Technologiestiftung Berlin Geschäftsführender Direktor des
Instituts für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetrieb an der Technischen Universität Berlin
Zusammenfassung
Die Ergebnisse der PISA-Studien haben den naturwissenschaftlich-technischen Kompetenzerwerb von Kindern und Jugendlichen in Deutschland in den Fokus der Aufmerksamkeit von Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft gerückt. Die Erwartung, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die sich für eine natur- oder ingenieurwissenschaftliche Bildungs- und Berufslaufbahn entscheiden, hinter dem künftigen Bedarf an qualifizierten Nachwuchskräf- ten zurückbleibt, verleiht dem Thema besondere Brisanz. Der naturwissen- schaftliche Schulunterricht scheint in seiner vielerorts realisierten Form eher abzuschrecken als zu erreichen, dass sich junge Menschen mit den Themen auseinandersetzen und eine naturwissenschaftliche Grundbildung erwerben, die ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Ein technikwis- senschaftlicher Unterricht ist im Bildungsverlauf selten durchgängig präsent.
Neben Maßnahmen zur Veränderung des schulischen Unterrichts in den MINT-Fächern, etwa die stärkere Kontextorientierung, sind im Verlauf des letz- ten Jahrzehnts verstärkt ergänzende außerschulische Angebote entstanden. Die so genannte Schülerlabor-Szene ist inzwischen bemerkenswert umfangreich und vielfältig. So können Schulklassen in Begleitung einer Lehrkraft an einem Unterrichtstag das Schülerlabor besuchen und dort selbstständig experimen- tieren. Es gibt längerfristige Kooperationsprojekte, in denen außerschulische Partner mit einzelnen Schulklassen fest zusammenarbeiten und deren Schul- unterricht entscheidend beeinflussen. Schließlich erhalten Kinder und Jugend- liche vermehrt die Möglichkeit, sich unabhängig von ihrem Klassenverband im Rahmen von Arbeitsgemeinschaften und Freizeitkursen am außerschulischen Lernort in naturwissenschaftlichen Denk- und Arbeitsweisen zu erproben. Das Engagement der außerschulischen Akteure – wissenschaftliche und kulturelle Einrichtungen, Unternehmen, Bildungsträger, Science Center und Privatinitia- tiven – ermöglicht den beteiligten Schülerinnen und Schülern ein Schlüsseler- lebnis oder auch eine längerfristige und tiefergehende Auseinandersetzung mit berufs- und alltagsnahen, an aktuellen Entwicklungen orientierten naturwis- senschaftlich-technischen Fragestellungen.
In der vorliegenden Studie werden vorhandene Erkenntnisse über Schüler- labore und andere MINT-Experimentierangebote zusammengeführt und durch Ergebnisse einer eigenen Primärbefragung in Berlin und Brandenburg ergänzt.
Aufgrund der räumlichen Konzentration der Erhebung können regionale Besonderheiten in Infrastruktur und Bildungspolitik berücksichtigt werden.
Basierend auf den Erfahrungen, Erkenntnissen, Vorstellungen und Wünschen von Betreibern außerschulischer Angebote und von Lehrkräften, die diese mit ihren Schulklassen nutzen, sowie ergänzenden Stellungnahmen von Bildungs-
politikern beider Bundesländer werden Handlungsempfehlungen abgeleitet.
Die Studie stellt sowohl Hintergründe des Entstehens der vielfältigen Landschaft außerschulischer Experimentierangebote als auch die aktuelle Situation dar und gibt einen Ausblick auf mögliche Entwicklungen.
Wichtige Erkenntnisse der Studie und daraus resultierende Empfehlungen sind Die Region Berlin-Brandenburg zeichnet sich durch ein breit gefächertes
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Spektrum außerschulischer Experimentierangebote für verschiedene Ziel- gruppen und Schulfächer aus. Die meisten Angebote richten sich an Schüler der Sekundarstufe II und an Schüler des NaWi-Unterrichts der fünften und sechsten Klassen. Am häufigsten handelt es sich um Schülerlabore. Von Arbeitsgemeinschaften und Freizeitkursen profitieren eher wenige, beson- ders interessierte Schüler. Eine Verstärkung des Angebots mit geeigneten Ansätzen für alle Altersstufen und Kompetenzniveaus ist zu befürworten.
Die anstehende Schulreform in Berlin wird zu einer deutlichen Zunahme von Ganztagsschulen führen. Hier gilt es, Konzepte zu entwickeln, um MINT-Bildungsangebote in Kooperation mit außerschulischen Partnern zu realisieren. Für das Flächenland Brandenburg empfiehlt es sich zudem, verstärkt auf mobile Angebote zu setzen, um auch Schulen zu erreichen, die nicht im Einzugsgebiet ortsgebundener außerschulischer Partner liegen.
Auf Grund ihrer ohnehin nur selten langfristig gesicherten und ausrei-
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chend budgetierten finanziellen Lage ist ein Teil der Betreiber darauf ange- wiesen, von den Schülern zumindest einen Beitrag für Materialkosten zu erheben. Die Förderung durch die Bildungsverwaltungen, unter anderem in Form von Lehrerabordnungen oder ideeller Unterstützung, empfinden die außerschulischen Akteure als hilfreich. Voraussetzung, um das Poten- zial der außerschulischen Bildungslandschaft in der Region zu sichern und zudem die zahlreichen Ideen von Anbietern und Lehrkräften zur Förderung der naturwissenschaftlich-technischen Bildung von Kindern und Jugend- lichen realisieren zu können, ist jedoch ein stärkeres Engagement der Bil- dungspolitik, der Wirtschaft und teilweise auch der Dachorganisationen der Anbieter.
Der Austausch zwischen den außerschulischen Anbietern in der Region ist
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verhältnismäßig intensiv. Dies ist vor allem auf die Tätigkeit und die Struk- turen des regionalen Schülerlabor-Netzwerks GenaU zurückzuführen. Mit ihm ist vor Ort ein starker Verbund entstanden, der entscheidend zur öffent- lichen Wahrnehmung und Förderung vieler Schülerlabore in der Region beiträgt. Mit Blick auf diese Bedeutung ist das Netzwerk in jedem Fall weiter
zu unterstützen. Darüber hinaus sollte ein Forum geschaffen werden, das den Austausch zwischen allen interessierten Betreibern von Experimentier- angeboten und mit Vertretern aus Politik und Wirtschaft fördert.
Forschungsergebnisse zeigen, dass eine stärkere Anbindung von Schüler-
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laborbesuchen an den schulischen Unterricht durch vor- und nachberei- tende Maßnahmen zu empfehlen ist. Die meisten außerschulischen Partner bieten dazu Hilfestellungen unterschiedlichster Art – vom Gespräch bis zu Unterrichtsmaterialien – an. Viele Lehrer greifen diese Anregungen auf und sind sich der Bedeutung bewusst. Offenkundig besteht jedoch Bedarf an weiteren Maßnahmen zur Vor- und Nachbereitung. Die Konzipierung geeig- neter Materialien stellt sowohl für die Betreiber der Schülerlabore als auch für viele Lehrkräfte eine nicht immer zu bewältigende zusätzliche Heraus- forderung dar. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, weiterführende Konzepte im Rahmen von Unterstützungsmaßnahmen durch Bildungsver- waltung, externe Förderer und Wissenschaft gemeinsam zu erarbeiten.
Die Betreiber außerschulischer Experimentierangebote für Schüler sind
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inzwischen auch wichtiger Partner in der Fort- und Ausbildung von Erzie- hern und Lehrkräften. Mit ihren schülerzentrierten Lernformen sowie alltags- oder forschungsnahen Experimenten, die sie an die Lehrenden vermitteln, tragen sie wesentlich zur Weiterentwicklung des schulischen Unterrichts bei. Das Engagement der beteiligten Anbieter und Nutzer muss deshalb stärker unterstützt und wissenschaftlich begleitet werden.
Abstract
The results of the PISA studies have drawn the attention of politics, academia, business and society to the acquisition of scientific and technical skills by chil- dren and young people in Germany. The issue has particular urgency in view of the general prognosis that the number of schoolchildren opting for an edu- cation and career in science or engineering will not meet future demand for qualified new recruits. In many cases, school science classes in their present form seem more likely to deter than to encourage young people to explore the subjects and acquire a basic scientific education that allows them to assume a position in society. Classes in technical science disciplines are rarely offered with any consistency throughout a person’s education.
In addition to measures aimed at changing school education in the MINT subjects, such as a more context-oriented approach, the range of additional extracurricular opportunities has increased over the past decade. The “learning laboratory” scene is now remarkably extensive and diverse. School classes visit learning laboratories with a teacher and experiment independently. Longer- term projects are in place in which extracurricular partners work in close coope- ration with individual school classes and have a significant impact on their education. Finally, children and young people increasingly have the oppor- tunity to try out scientific ways of thinking and working outside the classroom and without their whole class, in the context of study groups and extracurricu- lar programmes. The commitment of extracurricular stakeholders – scientific and cultural institutions, businesses, education providers, science centres and private initiatives – makes it possible for the schoolchildren involved to have a formative experience or to deal more deeply over a longer period of time with scientific and technical problems that are relevant to professional and everyday life and closely related to current developments.
The present study provides an overview of the available information on learning laboratories and other MINT experimentation initiatives and also brings in the results of our own primary survey conducted in Berlin and Brandenburg.
The concentrated area covered by the statistics allows us to take into account regional features of infrastructure and education policy. Recommendations for action have been derived from the experiences, insights, ideas and requests of those who offer extracurricular activities and of teachers who use these facilities with their classes, as well as from additional comments by politicians responsi- ble for education policy. The study looks at the context from which the diverse landscape of experimentation facilities outside schools has emerged, and out- lines possible future developments.
The following are key findings from the study along with resultant recommen- dations:
The Berlin-Brandenburg region is notable for its wide range of extracurricu-
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lar experimentation opportunities for various target groups and school sub- jects. Most initiatives are aimed at schoolchildren at upper secondary level and science pupils in the fifth and sixth grades. The most common of these is the learning laboratory. Study groups and extracurricular programmes tend to benefit relatively few pupils who show a special interest. A greater number of activities suitable for all ages and skill levels is advisable. The upcoming school reform in Berlin will result in a marked increase in all-day schooling, and it is important here to ensure concepts are developed to implement MINT learning opportunities in cooperation with extracurricular partners. We also recommend that greater emphasis be placed on mobile activities in the Brandenburg area so as also to reach schools that are not in the catchment area for localised non-school partners.
Because of the financial situation, which is very rarely ensured in the
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long-term or sufficiently budgeted, some operators have no choice but to require pupils to pay a nominal fee to at least help cover the cost of materials. Extracurricular stakeholders find the assistance from educational administrations helpful, including teacher delegations and non-material support. However, in order to preserve the potential of the extracurricular educational landscape in the region and to implement the numerous ideas of providers and teachers on how to promote the scientific and technical education of children and young people, greater commitment is required in education policy, the business community, and in some cases from the providers’ parent organisations.
There is a relatively intensive exchange between extracurricular activity pro-
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viders in the region. This is largely attributable to the work and structure of the regional learning laboratory network GenaU. This has led to the for- mation of a strong local network that plays a pivotal role in raising public awareness and funding of a number of learning laboratories in the region.
In view of its significant role, the network should definitely continue to receive support. In addition, a forum should be established to promote the exchange of ideas between all interested operators of experimentation facilities and representatives from the political and business communities.
Research shows that visits to learning laboratories should be more closely
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integrated into school lessons by way of preparatory and follow-up activi- ties. Most non-school partners provide a variety of assistance in this regard,
ranging from talks to teaching materials. Many teachers act on these sug- gestions and appreciate their importance. However, there is still a need for additional preparatory and follow-up measures. Designing suitable mate- rials presents an additional challenge that cannot always be met by many teachers and learning laboratory operators. We therefore recommend that the educational administration, external sponsors and the scientific com- munity work together to prepare concepts for effective support measures.
Operators of non-school experimentation facilities for pupils have also
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become important partners in the professional development and training of teachers and child and youth care workers. By sharing with teaching staff their pupil-oriented teaching methods and experiments relevant to current research interests and everyday life, they make a major contribution to the enhancement of school education. The commitment of the providers and users involved must therefore receive additional assistance and scientific support.
1 Einordnung des Themas in gesellschaftliche Zusammenhänge
1.1 Bedeutung von Naturwissenschaft und Technik in der Gesellschaft
Die naturwissenschaftlich-technische Bildung steht vor allem seit dem letzten Jahrzehnt verstärkt im Fokus der Wahrnehmung durch Politik und Medien.
Dazu tragen nicht nur die Ergebnisse internationaler Leistungsvergleichsstudien mit dem Schwerpunkt naturwissenschaftliche Kompetenz von Schülerinnen und Schülern1, sondern auch bestimmte, als besorgniserregend empfundene Entwicklungen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt bei.
So wird vermehrt darauf hingewiesen, dass die derzeitigen und zukünftigen Absolventenquoten in den naturwissenschaftlich-technischen, vor allem aber in den ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen nicht dem gesellschaftlichen Bedarf entsprechen. Dieser Bedarf an Ingenieuren und Naturwissenschaftlern wird mit den besonderen Herausforderungen der Wissensgesellschaft2 erklärt.
Die Bedeutung von Wissen hat zugenommen und gilt neben Arbeit und Kapital als entscheidender Antriebsfaktor für Wachstum und Wohlstand einer Gesell- schaft.3 Die Europäische Kommission schätzte bereits im Jahr 2000, dass 70 bis 80 Prozent des wirtschaftlichen Wachstums in der Europäischen Union auf neuem oder verbessertem Wissen basieren.4 Mehr und mehr wird wirtschaft- liche Prosperität abhängig von Innovationen – vor allem in den Natur- und Technikwissenschaften. Daher bedarf es entsprechend qualifizierter Arbeits- kräfte, insbesondere im naturwissenschaftlich-technischen Bereich.
Der höhere Bedarf an Nachwuchs in den genannten Disziplinen wird aber auch im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung in Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland gesehen. So wird befürchtet, dass sinkende Geburtenraten den beklagten Mangel noch verstärken könnten. Daher stellt neben dem wachsenden Stellenwert von Wissen auch die Bevölkerungsent- wicklung für die europäischen Staaten eine besondere Herausforderung dar.
Es wird befürchtet, dass das abnehmende Angebot an Arbeitskräften zu einem dramatischen Rückgang des wirtschaftlichen Wachstumspotenzials führen wird5. In Deutschland war der Anteil von Personen mit ingenieurwissenschaft- lichem Hochschulabschluss bei den unter 40-Jährigen im Jahr 2004 geringer als bei den 55- bis 64-Jährigen und ist im Vergleich mit anderen OECD-Ländern besonders ungünstig.6 Dies bedeutet, dass mehr Ingenieure den Arbeitsmarkt verlassen als neu ausgebildete Ingenieure hinzukommen7 (Abbildung 1).
Im naturwissenschaftlichen Bereich ist das Verhältnis zwar besser als im ingenieurwissenschaftlichen (Abbildung 2), entsprechend des höheren Bedarfs an hoch qualifizierten Fachkräften kann es hier aber ebenso zu Engpässen kommen.
1
Personen- und Berufsbezeichnungen umfassen im Folgenden stets weibliche und männliche Personen.
2
Der Begriff Wissensgesellschaft bezieht sich auf ›Veränderungen im technolo- gischen und wirtschaftlichen Bereich (neue Informations- und Kommuni- kationstechnologien), im Bereich der Bildungsplanung sowie im Bereich von Organisation (Wissensmanagement) und Arbeit (Wissensarbeit)‹ (Heidenreich 2002, S. 1).
3
Vgl. Heidenreich 2002, S. 1.
4
Vgl. European Commission 2000, S. 24.
5
Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2005, S. 2.
6
Vgl. OECD 2007a, S. 27.
7
Seit 2006 sind die Studienanfänger- zahlen in den ingenieurwissenschaft- lichen Fächern allerdings wieder leicht angestiegen, auch bei den Frauen (vgl.
Statistisches Bundesamt 2009, S. 43).
Schweden Portugal Irland Spanien Italien OECD Australien Kanada Frankreich Belgien Slowakei Finnland Großbritannien Österreich Niederlande Deutschland Dänemark Ungarn Norwegen
4,7 4,3 4,2 3,5
3,1 2,3
2,3 2,3 2,0 2,0 2,0 1,9 1,9 1,8 1,4 0,9
0,8 0,8 0,8
Die kleiner werdenden Kohorten auf Grund niedriger Geburtenzahlen werden zunächst in den verschiedenen Bildungsabschnitten und folgend auf dem Arbeitsmarkt zu spüren sein. Diese Entwicklung bringt Herausforderungen für die Gesellschaft mit sich: Die Strukturen des Bildungssystems müssen angepasst und die nachwachsenden Generationen für Naturwissenschaften und Technik begeistert werden.
Es ist allerdings nicht nur das Interesse an weiterem Wirtschaftswachstum und gesteigertem Wohlstand, das die Frage aufwirft, ob Länder wie Deutsch- land ihrem Nachwuchs hinreichende Kompetenzen8 in den Natur- und Tech- nikwissenschaften vermitteln. Es ist auch das Interesse daran, den jungen Menschen eine Bildung zuteil werden zu lassen, mit der sie die Grund lagen der Gesellschaft verstehen können. Unsere kulturelle Identität basiert zu einem wesentlichen Teil auf naturwissenschaftlichen und technischen Errun- genschaften. Um daran partizipieren zu können, sind Kenntnisse im Bereich von Naturwissenschaft und Technik unverzichtbar. Dies gilt nicht nur für eine wachsende Zahl von Berufsfeldern; auch im Alltag der Bevölkerung spielt die Auseinandersetzung mit Technologien eine wachsende Rolle. Wissen über Technologien sowie die verantwortungsbewusste Anwendung technischer Hilfsmittel sind – ebenso wie die Bewertung und Verarbeitung von Informa- tionen – wichtiger denn je, denn neue Errungenschaften in Wissenschaft und Technik haben wesentlichen Einfluss auf gesellschaftliche Systeme und Politik.
Positive Effekte, Risiken, Potenziale, ethische Aspekte und Leistungsfähigkeit 8
Als Kompetenzen werden hier – in Übereinstimmung mit der Defi nition der OECD – verstanden ›die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbun- denen motivationalen, volitionalen (die willentliche Steuerung von Hand- lungsabsichten und Handlungen; die Verf.) und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können‹ (Weinert 2001, S. 27 f.).
Abbildung 1: Zahl der Nachwuchsabsolventen in den Ingenieurwissenschaften*
je anstehenden Berufsabgänger** im Jahr 2004
* 25 bis 34 Jahre; ** 55 bis 64 Jahre, Referenzjahr 2004. Quelle: OECD, Bildung auf einen Blick, Sept. 08, © Jahnke
sollten daher in gewissem Maße auch von den Individuen identifiziert und beurteilt werden können. Ein fundiertes naturwissenschaftlich-technisches Grundwissen sowie die Fähigkeit, gesellschaftliche Zusammenhänge, die mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen verknüpft sind, zu verstehen, sind schließlich Grundvoraussetzung für die Teilnahme der Bürger an den wichtigen Diskussions- und Entscheidungsprozessen. Naturwissenschaftlich-technische Kompetenz kann also als wichtiger Teil der Allgemeinbildung sowie der kultu- rellen Zukunft unserer Gesellschaft angesehen werden.
Da die Entstehung und Verbreitung neuen Wissens von den Humanres- sourcen bestimmt wird, die in der Gesellschaft zur Verfügung stehen, kön- nen zukünftige Aufgaben und Herausforderungen nur bewältigt werden, wenn die notwendigen Fähigkeiten und Kompetenzen gefördert werden. Die Zukunft der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung hängt insofern wesentlich von der Gestaltung des Bildungssystems im Allgemeinen – und unter Berücksichtigung der genannten Aspekte speziell von der naturwissen- schaftlich-technischen Bildung – ab. Erforderlich ist daher eine Anpassung an die Veränderungen und Anforderungen der Wissensgesellschaft. Dies schließt die Öffnung des Bildungssystems nach außen und seiner Akteure gegenüber neuem fachlichem Wissen sowie didaktisch-methodischen Innovationen für dessen Vermittlung ein.
Abbildung 2: Zahl der Nachwuchsabsolventen in den Naturwissenschaften*
je anstehenden Berufsabgänger** im Jahr 2004
Portugal Spanien Irland Ungarn Österreich Kanada Schweden Australien Frankreich Dänemark OECD Norwegen Slowakei Großbritannien Belgien Deutschland Italien Niederlande Finnland
10,0 8,8
6,8 6,2 4,8
4,4 4,3 3,9 3,3 3,3 3,0 3,0 2,9 2,8 2,1 2,1 2,0 1,8 1,6
* 25 bis 34 Jahre; ** 55 bis 64 Jahre, Referenzjahr 2001. Quelle: OECD, Bildung auf einen Blick, Sept. 07, © Jahnke
1.2 Interesse an Naturwissenschaft und Technik
Doch wie steht es mit dem Interesse von Schülern an Natur- und Technik- wissenschaften, an den Schulfächern und entsprechenden Studiengängen/
Berufen in Deutschland? Voraussetzung für ein beständiges Fachkräfteangebot ist unter anderem, dass genügend junge Menschen für diese Disziplinen inte- ressiert werden. Geringes Interesse an den Naturwissenschaften während der Schulzeit kann dementsprechend bedeuten, dass eine berufliche Laufbahn im naturwissenschaftlich-technischen Bereich gar nicht erst erwogen wird9.
Dass diese Vermutung mit einigem Recht angestellt wird, zeigt die Forschung zur Wahl von Studiengängen: Für einen entsprechenden Studiengang werden vor allem Schüler aus den mathematisch-naturwissenschaftlichen Leistungs- kursen gewonnen. Viele Schüler wählen jedoch Fächer wie Chemie und Physik in der Sekundarstufe II ab. Und selbst naturwissenschaftlich hochkompetente Schüler sind vielfach nur in sehr geringem Maße an naturwissenschaftlichen Themen interessiert10. Studien belegen darüber hinaus, dass nach der Grund- schulzeit das Interesse an den naturwissenschaftlichen Fächern, vor allem an Physik, kontinuierlich abnimmt11. Bei Mädchen ist das Interesse an Physik deutlich schwächer ausgeprägt als bei Jungen.
Dabei haben die Schüler keinesfalls eine negative Einstellung zur gesell- schaftlichen Bedeutung von Naturwissenschaften und Technik. 89Prozent der Schüler in Deutschland sprechen beispielsweise neuen Erkenntnissen in den naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen die Fähigkeit zu, die Lebens- bedingungen der Menschen verbessern zu können12 – auch wenn sich im Vergleich mit Jugendlichen aus Ländern mit geringerem sozioökonomischem Entwicklungsstand zeigt, dass Naturwissenschaften bezüglich ihrer gesell- schaftlichen Funktion von 15-Jährigen aus den westlichen Industriestaaten weniger positiv wahrgenommen werden.13 Fragt man Schüler ferner nach ihrem persönlichen Verhältnis zu Naturwissenschaften, so ergibt sich folgendes Bild:
Während fast alle befragten 15-Jährigen die Naturwissenschaften als bedeut- sam für die Gesellschaft sehen, stimmen nur noch 48 Prozent in Deutschland zu, dass sie für sie persönlich wichtig seien.14 Nach der PISA-Studie 2006 kön- nen sich schließlich nur 34 Prozent der deutschen Schüler vorstellen, später im naturwissenschaftlichen Arbeitsfeld tätig zu werden, bzw. (21 Prozent) in ihrem Leben Naturwissenschaften auf einem fortgeschrittenen Niveau zu betreiben.15 Die Berufserwartung ›Ingenieur/in‹ äußern nur sechs Prozent der Schüler mit einer akademischen Berufserwartung, davon sind nur knapp zehn Prozent Mädchen.16 Gleichzeitig gibt es Erkenntnisse darüber, dass Jugendliche – ins- besondere Mädchen – in Ländern mit einem ähnlichen sozioökonomischen Stand wie Deutschland bei der Frage nach ihrem zukünftigen Berufsfeld per- sönliche Aspekte in den Vordergrund stellen und mit etwas arbeiten möchten, das sie selbst als wichtig und bedeutsam empfinden. Auch möchten insbe- sondere junge Frauen häufig, dass ihr zukünftiger Arbeitsplatz Möglichkeiten bieten soll, anderen Menschen zu helfen.17 Daraus lässt sich schließen, dass
9
Wobei auch an Naturwissenschaften und Technik interessierte Schüler zu weniger als 50 Prozent einen MINT-Beruf anstre- ben (vgl. acatech & VDI 2009, S. 41).
10
Vgl. Prenzel et al. 2007a, S. 114 f.
11
Vgl. Hoffmann et al. 1998.
12
Vgl. OECD 2007c, S. 151.
13
Vgl. Schreiner & Sjøberg 2007 14
Vgl. OECD 2007c, S. 155 f.
15 Vgl. ebd., S. 175.
16
Vgl. Taskinen et al. 2008, S. 90 f.
17
Vgl. Schreiner & Sjøberg 2007, S. 9 f.
Jugendliche aus sozioökonomisch hoch entwickelten Ländern scheinbar natur- wissenschaftlich-technische Arbeitsfelder und die harten naturwissenschaft- lichen Disziplinen nicht mit den für sie persönlich wichtigen Aspekten in Ver- bindung bringen.
Kein Wunder also, dass die Studienanfängerzahlen in einigen MINT18- Studiengängen deutlich unter dem prognostizierten Bedarf liegen. Ent- sprechend wird von einer ›Nachwuchsproblematik‹19 und einer ›massive[n]
Rekrutierungskrise‹20 gesprochen. Vor allem bei der geringen Beteiligung von Frauen in Studiengängen wie Physik und Ingenieurwissenschaften wird ein hohes Rekrutierungspotenzial vermutet. In Deutschland waren im Jahr 2006 nur rund 29 Prozent der MST-Absolventen21 weiblich.22 Die derzeitige Situation kann als verlustreich bezeichnet werden, sowohl für das naturwissenschaft- lich-technische Feld, weil dieses es nicht schafft, mehr Frauen für sich zu begeistern und ihr Potenzial zu ›nutzen‹, als auch für Frauen und Mädchen, weil sie sich durch die Distanz zu einigen Disziplinen den Weg zu vielen Berufs- möglichkeiten verschließen. Die beschriebenen Tendenzen weisen also darauf hin, dass nach wie vor Maßnahmen notwendig sind, um junge Menschen und speziell junge Frauen für bestimmte Fachrichtungen zu interessieren.
Aber nicht nur in Wirtschaft und Wissenschaft besteht Bedarf an nachrü- ckenden Fachkräften. Auch der schulische Bildungsbereich wird mit sinken- dem Interesse der jungen Menschen konfrontiert, wie der aktuelle und bis 2015 von der KMK prognostizierte Bedarf an Lehrkräften in den Naturwissenschaften zeigt23. Hier aber wirkt sich ein Engpass besonders fatal aus, da genügend und gut ausgebildete Lehrkräfte für eine qualitativ zufriedenstellende Grundbil- dung der Schüler und deren Bezug zu naturwissenschaftlichen Fragestellungen und Themen unbedingt zu gewährleisten sind.
Darüber hinaus sind, wie erläutert, eine grundlegende Bildung und Inte- resse an den Natur- und Technikwissenschaften auch für andere Berufsfelder und die gesellschaftliche Teilhabe im Allgemeinen erforderlich.
Der Handlungsbedarf ist mithin aus mehreren Gründen außerordentlich groß. Und die entsprechenden Ziele sind von verschiedenen Seiten aus anzuge- hen. Ein Beispiel für entsprechende Maßnahmen ist die Förderung des Dialogs zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Eine Schlüsselfunktion hat der natur- wissenschaftlich-technische Unterricht in der Schule, denn hier kommen Kinder das erste Mal systematisch und pädagogisch begleitet mit naturwissenschaft- lichem Wissen und Arbeitsweisen in Kontakt. Darüber hinaus machen Befunde zur Lernzeit von 15-jährigen Schülern deutlich, dass naturwissenschaftliches Lernen weitestgehend im Schulunterricht stattfindet, für Zusatzunterricht und individuelles Lernen hingegen bringen nur sehr wenige Schüler Zeit auf.24 Jedoch sind nach Ansicht von Experten ›die Ursachen für das schwindende Interesse der Jugend an naturwissenschaftlichen Studienzweigen hauptsächlich in der Art zu finden [...], wie naturwissenschaftliche Inhalte in den Grund- und Sekundar- schulen unterrichtet werden‹.25 Wie ist es aber mit diesem Unterricht bestellt, welche Erkenntnisse liegen beispielsweise über die Lehr- und Lernformen vor?
18
Mathematik – Informatik – Natur- wissenschaft – Technik
19 Euler 2005, S. 17.
20
Herrmann 2002, S. 9.
21
Zu den MST-Fächern (Mathematics, Science and Technology) zählt die Euro- päische Kommission ›life sciences, physi- cal sciences, mathematics and statistics, computing, engineering and engineering trades, manufacturing and processing, architecture and building‹ (Commission of the European Communities 2008, S. 227).
22
Vgl. Commission of the European Com- munities 2008, S. 79.
23
Vgl. Sekretariat KMK 2003.
24
Vgl. Kobarg et al. 2008, S. 268 f.
25
Europäische Kommission 2007, S. 9.
1.3 Naturwissenschaft und Technik im Schulunterricht
Aufgabe des Schulunterrichts ist es, eine naturwissenschaftliche Grundbildung der Schüler zu erreichen. Das Konzept der naturwissenschaftlichen Grundbil- dung schließt neben dem Erwerb von methodischen und kognitiven Kom- petenzen auch motivationale und volitionale Orientierungen mit ein.26 Das bedeutet: Fachliche Kenntnisse allein genügen nicht, und es ist auch nicht hin- reichend, sich ein kompetentes Urteil über Sinn und Zweck von Naturwissen- schaft und Technik bilden zu können. Vielmehr geht es auch um ein generelles Interesse an naturwissenschaftlich-technischen Phänomenen (Motivation) sowie um die Herausbildung eines Handlungswillens: Sich mit Naturwissen- schaft und Technik befassen wollen, Erkenntnisse aus diesem Feld nutzen und sich in ihm engagieren wollen (die volitionale Seite naturwissenschaftlich- technischer Kompetenzen). Dies ist auch deshalb von Bedeutung, weil sich die auf Interesse basierte Lernmotivation wiederum positiv auf den Lernprozess und die Lernergebnisse auswirkt.27 Umso bedeutsamer ist es, diesen Unterricht so auszugestalten, dass das Interesse an Naturwissenschaft und Technik dau- erhaft gefördert wird und ausgezeichnete Leistungen in den entsprechenden Fächern erzielt werden. Diesem Anspruch wird der naturwissenschaftliche Unterricht nicht immer gerecht.
Wie steht es nun in den Ländern Berlin und Brandenburg mit dem Kompe- tenzerwerb in den Naturwissenschaften? Nach Ergebnissen der PISA 2006-Studie befinden sich 20,4 Prozent der 15-jährigen Berliner und 15,7 Prozent der Bran- denburger Schüler unter oder auf der niedrigsten Kompetenzstufe I (Tabelle 1).
Von den Gymnasien der Länder befinden sich weniger als ein Prozent der Schüler auf diesen Kompetenzstufen. Dies bedeutet, dass deren naturwissen- schaftliches Wissen so begrenzt ist, dass sie es nur auf wenige, ihnen bekannte Situationen anwenden können. Darüber hinaus ist auf Grund ihrer einge- schränkten Basiskompetenzen eine erfolgreiche Teilnahme am beruflichen und gesellschaftlichen Leben wenig aussichtsreich. Auf den höchsten PISA-Kompe- tenzstufen (Stufe V und VI) befinden sich hingegen in Berlin 13,5 Prozent und in Brandenburg 12,9 Prozent der 15-jährigen Schüler. Sie können ›naturwissen- schaftliches Wissen anwenden und Argumente entwickeln, um Empfehlungen auszusprechen bzw. Entscheidungen zu treffen, die von persönlicher, sozialer oder globaler Bedeutung sind.‹28 In Berlin wurden zudem signifikante Kompe- tenzunterschiede zugunsten der Jungen festgestellt, besonders bezüglich der Teilkompetenz ›naturwissenschaftliche Phänomene erklären‹.29 In Branden- burg ist der für Deutschland insgesamt festgestellte Unterschied zwischen den gemessenen drei Teilkompetenzen besonders groß: im Bereich ›naturwissen- schaftliche Fragestellungen erkennen‹ erreichen sie deutlich weniger Kompe- tenzwerte als in den Bereichen ›naturwissenschaftliche Evidenz nutzen‹ und
›naturwissenschaftliche Phänomene erklären‹.30
Darüber hinaus zeigt sich, dass die unterrichtliche Lernzeit in den Natur- wissenschaften in den Bundesländern recht unterschiedlich ist und zudem
26
Vgl. Prenzel et al. 2007b, S. 65 f.
27
Vgl. Krapp 2007, S. 7.
28
Prenzel et al. 2007b, S. 77 ff.
29
Vgl. Rönnebeck et al. 2008, S. 81 ff.
30 Vgl. ebd., S. 83 f.
die Rahmenbedingungen in den Gymnasien vergleichsweise günstig sind. So erhalten 34 Prozent der Berliner und 38 Prozent der Brandenburger 15-jäh- rigen Schüler weniger als zwei Stunden naturwissenschaftlichen Unterricht, in Deutschland sind es im Durchschnitt 36 Prozent.31 Vier oder mehr Stunden naturwissenschaftlichen Unterricht erhalten in Berlin im Schnitt 37 Prozent der Schüler, in Brandenburg sind es 30 Prozent. In den Gymnasien ist die unter- richtliche Lernzeit höher als in den anderen Schulformen: 57 Prozent der Berli- ner und 48 Prozent der Brandenburger Gymnasiasten berichten von mindestens vier Stunden Unterricht pro Woche in diesen Fächern. Vermutet wird, dass sich eine längere Unterrichtszeit positiv auf die Kompetenzförderung auswirkt.32 Darüber hinaus scheint es in nur wenigen Unterrichtsstunden kaum möglich, selbstständiges Experimentieren der Schüler zu realisieren und sie mit natur- wissenschaftlichen Denk- und Arbeitsweisen vertraut zu machen, sodass sie wissenschaftliche Forschungsmethoden kennen und diese anzuwenden lernen.
Welche Aspekte des naturwissenschaftlichen Schulunterrichts werden in Bezug auf Kompetenzen und motivationale Orientierungen diskutiert? Betrach- tet werden im Folgenden einige als problematisch angesehene Bereiche. Viele als Probleme benannte Aspekte des Schulunterrichts sind dabei, wie am Bei- spiel des Physikunterrichts deutlich wird, keine neuen Phänomene.33
Frühzeitiger Beginn naturwissenschaftlich-technischer Bildung
Die Auseinandersetzung mit chemischen, physikalischen und technischen Phänomenen und Fragestellungen spielt gegenüber dem Einbeziehen und dem Umgang mit der belebten Welt, mit Tieren und Pflanzen in der elementar- Tabelle 1: Anteile der Schülerinnen und Schülern unter/auf Stufe I bzw.
auf Stufe V und VI der naturwissenschaftlichen Kompetenz in Deutschland, Berlin und Brandenburg nach Schularten
Land Schulart
unter/auf Kompetenzstufe I
(in Prozent)
Kompetenzstufe V und VI (in Prozent)
Deutschland Alle Schularten 15,4 11,8
Berlin Alle Schularten 20,4 13,5
Hauptschule 65,3 0,3
Integrierte Gesamtschule 23,5 3,1
Realschule 16,0 2,7
Gymnasium 0,5 33,3
Brandenburg Alle Schularten 15,7 12,9
Integrierte Gesamtschule 24,1 2,2
Realschule 7,6 3,5
Gymnasium 0,8 33,9
Quelle: Prenzel et al. 2008, eigene Darstellung.
31
Vgl. Kobarg et al. 2008, S. 267 f.
32 Vgl. ebd., S. 289.
33 Vgl. Euler 1982.
pädagogischen Praxis und im Sachunterricht der Grundschulen eine vernach- lässigbare Rolle.34 Damit bleiben Möglichkeiten ungenutzt, da der frühe Bil- dungsbeginn die Entwicklung des Interesses der Kinder positiv beeinflusst, eine Techniksozialisation aber nicht in allen Familien stattfindet. Das Interesse an Naturwissenschaften und Technik wurde nach eigenen Angaben nicht einmal bei einem Drittel der Schüler und Studierenden in der Kindheit durch die Fami- lie verstärkt gefördert.35
Daher wird ein früher Beginn der naturwissenschaftlich-technischen Bil- dung gefordert, der zum Ziel hat, bei den Kindern ein nachhaltiges Interesse an diesen Themenfeldern zu fördern.36
Unterrichtsinhalte
Der naturwissenschaftliche Unterricht gilt als abstrakt, faktenbasiert und schwierig.37 Zudem werden soziokulturelle Bezüge im Schulunterricht selten aufgegriffen. Viele Schüler sind nicht in der Lage, das erworbene fachliche Wissen anzuwenden und zu übertragen. Sie wenden selten selbstständig naturwissenschaftliche Konzepte auf alltagsrelevante Probleme an. Bezüge zwischen naturwissenschaftlichen Inhalten und der Außenwelt werden meist durch Lehrpersonen hergestellt.38 Die Bedeutung der Naturwissenschaften in der Gesellschaft wird nicht diskutiert, es mangelt an einer kritischen und pro- blemorientierten Ausrichtung.
Die Berücksichtigung von neuen, innovativen Themen und aktuellen gesellschaftlichen Phänomenen im Curriculum, die Schüler der jeweiligen Zeit als spannend empfinden, da sie einen lebensweltlichen Bezug zu ihnen haben, hilft jedoch, ihr Interesse am Unterricht zu steigern.39 Es liegen genü- gend Erkenntnisse darüber vor, welche Themen Schüler besonders interessie- ren.40 Somit wäre die Gestaltung eines lebens- und alltagsnahen, kontext- sowie anwendungsbezogenen Naturwissenschaftsunterrichts orientiert an den Interessen der Schüler umsetzbar. Ziel dieses innovativen Unterrichts ist es, die Schüler zu befähigen, sich Probleme und Fragestellungen der Gesellschaft und ihres Alltags zu erschließen und den Mehrwert naturwissenschaftlich-tech- nischer Erkenntnisse und Anwendungen kritisch zu reflektieren.
Pädagogische Konzepte und Organisationsformen von Experimenten
Der Schulalltag steht in enger Verbindung mit dem Frontalunterricht und vor allem mit dem fragend-entwickelnden Unterricht, also mit der Anwendung deduktiver Methoden.41 Vergleicht man die Wirkung unterschiedlicher Unter- richtsmuster, so zeigt sich jedoch, dass das Interesse an Naturwissenschaft von Schülern, die in einer traditionellen Form42 unterrichtet werden, in der Regel deutlich geringer ist als bei Schülern in einem Unterrichtsmuster ›Globaler Aktivitäten‹, die beispielsweise häufig selbst Experimente planen und durch- führen, Schlussfolgerungen ziehen und Bezüge zur Außenwelt herstellen.43
Wie sehen Herangehensweise und Lehrer-Schüler-Rollen beim Experimen- tieren aus? Experimente spielen im naturwissenschaftlichen Unterricht eine
34
Vgl. Lück 2004, S. 332 f.
35
Vgl. acatech & VDI 2009, S. 27.
36
Vgl. KMK 2009, S. 4.
37
European Commission 2004, S. 184.
38
Vgl. Kobarg et al. 2008, S. 277.
39
Vgl. Häußler & Hoffmann 1995.
40
Vgl. Elster 2007; Bertelsmann Stiftung 2009.
41
Vgl. Europäische Kommission 2007, S. 10.
42
Die traditionelle Unterrichtsform weist eine geringe Berücksichtigung der Aktivitäten des naturwissenschaftlichen Arbeitens und Denkens auf, beispiels- weise, dass Schülerexperimente selten ermöglicht und Bezüge zur Außenwelt selten hergestellt werden (vgl. Kobarg et al. 2008, S. 280).
43
Vgl. Kobarg et al. 2008, S. 287 ff.
wichtige Rolle und stehen häufig im Mittelpunkt. Jedoch handelt es sich mei- stens um Demonstrationsexperimente oder um Schülerexperimente mit einem geringen Grad an Offenheit. Eigenständiges Experimentieren erleben Schüler hingegen selten, wie eine Videostudie zum Physikunterricht zeigt.44 So geben nur 23 Prozent der im Rahmen von PISA 2006 befragten 15-jährigen Schüler an, dass sie regelmäßig die Möglichkeit erhalten, selbst zu experimentieren.45 Es bleiben also erhebliche Potenziale ungenutzt. Weiterreichende Aktivitäten des Forschens werden noch seltener in den naturwissenschaftlichen Unter- richt einbezogen. Beispielsweise geben nur 13 Prozent der befragten Schüler an, dass sie regelmäßig eigene Experimente entwickeln würden. Eigene Ideen in Untersuchungen austesten erleben nur 19 Prozent von ihnen häufig. Auch Gymnasiasten wird selten die Möglichkeit gegeben, im Unterricht den natur- wissenschaftlichen Forschungsprozess eigenständig nachzuvollziehen.46
Aber auch im Bereich der Lehr-/Lernmethoden liegen Erkenntnisse über erprobte Ansätze vor, die eine stärkere Berücksichtigung im Unterricht finden sollten, um ihn abwechslungsreicher, attraktiver und lernfördernder zu machen. Dazu zählen das kooperative Lernen, Projektarbeit und hands-on Experimente, die erfahrungsbasiertes Lernen ermöglichen. Im Mittelpunkt der Empfehlungen in der fachdidaktischen Diskussion steht die ›Inquiry-Based Science Education‹. Diese Unterrichtsform baut auf problembasiertem und untersuchendem Lernen auf. Sie wird als eine umfassende Methode angese- hen, um Probleme des naturwissenschaftlichen Unterrichts zu beheben.47 So hat sie sich sowohl bei Grundschülern als auch bei Schülern der Sekundarstufe als wirksam erwiesen, ›um das Interesse und den Kenntnisstand der Schüler zu steigern und dabei gleichzeitig auch noch die Motivation der Lehrer zu fördern.‹
Darüber hinaus führt dieses didaktische Konzept nicht nur bei guten, sondern auch bei schwachen Schülern zu Leistungserfolgen und wirkt sich außerdem positiv auf das Interesse der Mädchen aus.48 Für die Fortbildung von Lehr- kräften in didaktisch-methodischen Grundlagen innovativen Unterrichts wird daher auch gefordert, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen.49
Berufsorientierung
Der aktuelle MINT-Unterricht bietet leider wenig Aufklärung über Berufs- felder. Die Lehrkräfte sind mit ihrem Wissen nicht auf dem aktuellen Stand;
für eine Beratung über Studien- und Arbeitsperspektiven sind sie nicht ausgebildet. Schüler verfügen jedoch über geringe Kenntnisse über mögliche Tätigkeitsfelder50 bzw. Anforderungen von naturwissenschaftlich-technischen Studiengängen.51
Um die Distanz der Schüler zu entsprechenden Studiengängen und Berufs- feldern zu reduzieren, wird daher immer wieder propagiert, sie umfang- reicher zu informieren sowie mit entsprechenden Arbeitsmöglichkeiten ver- traut zu machen – am Besten über den direkten Kontakt zu Personen, die im naturwissenschaftlich-technischen Feld tätig sind.52 Darüber hinaus sollte ein persönlicher Bezug zu den Disziplinen gefördert und jungen Menschen ver- 44
Vgl. Tesch & Duit 2004.
45
Vgl. Kobarg et al. 2008, S. 272.
46 Vgl. ebd., S. 274 f.
47
Vgl. Europäische Kommission 2007.
48 Vgl. ebd., S. 2.
49 Vgl. KMK 2009 S. 6.
50
Vgl. European Commission 2004, S. 142.
51
Vgl. acatech & VDI 2009, S. 47.
52
Vgl. European Commission 2004, S. 140 sowie KMK 2009, S. 6.
mittelt werden, dass Forschung und Entwicklung in Natur- und Technikwis- senschaften trotz der technisch weit entwickelten Gesellschaft maßgeblich zur Behebung gesellschaftlicher Probleme beitragen können und einen sozialen Nutzen mit sich bringen.53 Dennoch zeigt sich im internationalen Vergleich, dass sich deutsche Jugendliche durch die Schule über naturwissenschaftsbezogene Berufe durchschnittlich informiert und vorbereitet fühlen – wobei Haupt- schüler ihre Kenntnisse über naturwissenschaftsbezogene Berufe und Berufs- relevanz der naturwissenschaftlichen Fächer deutlich niedriger einschätzen als Gymnasiasten.54
Geschlechterdifferenzen
Dem naturwissenschaftlichen Unterricht gelingt es besonders bei Mädchen nicht, Anfangsinteresse und Neugierde aufrecht zu erhalten. Dies gilt weniger für die belebte Natur (und Studiengänge wie Tiermedizin, Humanmedizin und Biologie), als vielmehr für die Disziplinen des ›unbelebten‹ Materials. Außer- dem herrschen nach wie vor große Geschlechterdifferenzen bei der Selbstein- schätzung naturwissenschaftlicher Kompetenzen: Mädchen schätzen sich trotz objektiv gleicher Leistung schlechter ein als Jungen.55 Zudem gilt es tief verwur- zelte Rollenbilder und Geschlechterstereotypen aufzubrechen, beispielsweise über die Darstellung und den Kontakt mit weiblichen Vorbildern. Es zeigt sich, dass Mädchen von innovativen didaktisch-methodischen Konzepten stärker profitieren als von traditionellen, deduktiven Ansätzen.56
Wie erläutert, spielen im Elementarbereich und in der Grundschule physik- und technikbezogene Inhalte eine marginale Rolle. Dies hängt damit zusam- men, dass überwiegend Frauen in diesen Bildungsbereichen tätig sind, diese jedoch häufig eine hohe Technikdistanz aufweisen. Hier zeigt sich auch, dass sich eine nicht erfolgte Techniksozialisation bei ausbleibenden geschlechter- sensiblen Konzepten und Maßnahmen auch auf die nächsten Generationen überträgt.
Technische Bildung
Insbesondere ist zu hinterfragen, wie es neben der naturwissenschaft- lichen Grundbildung mit einer technikwissenschaftlichen Grundbildung im Besonderen bestellt ist. Bislang sind eher Einzelinitiativen zu beobachten, ein flächendeckendes Schulfach Technik gibt es nicht, und im naturwissenschaft- lichen Unterricht ist der Anteil technischer Inhalte gering. Es sind daher eher punktuelle Schlüsselmomente, die die Schüler erleben; die Techniksozialisation geht mit Brüchen im Bildungssystem einher.57 Ziel muss es jedoch sein, über den Status einzelner Initiativen hinwegzukommen und technische Bildung als ein Bildungsstufen übergreifendes und aufeinander aufbauendes Kontinuum in das Bildungssystem zu integrieren, so dass sie zu einem festen Bestandteil im Bildungsverlauf jedes Einzelnen wird58 – dies auch deshalb, weil sich Tech- nikunterricht in der Schule nachweisbar positiv auf das Technikinteresse von Schülern auswirkt.59
53
Vgl. Osborne & Dillon 2008, S. 18.
54
Vgl. Senkbeil et al. 2007, S. 191 ff.
55
Vgl. OECD 2007b, S. 31.
56
Vgl. Europäische Kommission 2007, S. 14.
57
Vgl. acatech & VDI 2009, S. 57.
58
Zu den Voraussetzungen der Imple- mentation innovativer technischer Bildung in den Unterricht der allgemein bildenden Schulen vgl. Euler 2008, S. 84 ff.
59 Vgl. ebd., S. 30.
Aus- und Fortbildung von Erziehern und Lehrern
Bezüglich der Lehrerbildung wird beklagt, dass Lehramtsstudierende nicht genug Einblicke in naturwissenschaftliche Forschungsprozesse erhalten.60 Auch in der Lehrerfortbildung sind Mängel feststellbar. Die Motivation, die eigenen fachlichen und fachdidaktischen Kompetenzen zu stärken, ist gering – was auch mit der generell sehr hohen Belastung der Lehrkräfte zusammenhängt.
Dadurch ist der Transfer von aktuellen Erkenntnissen aus der didaktischen Forschung in den Lehralltag nicht gewährleistet.61 Dies gilt insbesondere für den Elementarbereich, weshalb der Erwerb naturwissenschaftlich-technischer Grundlagen und entsprechender didaktisch-methodischer Kompetenzen nicht nur verstärkt für Grundschullehrer, sondern auch im Rahmen der Ausbildung von Erziehern gefordert wird.62
1.4 Entwicklungen im formalen Bildungssystem am Beispiel Berlins und Brandenburgs
Einige der dargelegten Probleme wurden in jüngster Zeit auch in Berlin und Brandenburg aufgegriffen und haben teils zu einer Reformierung des natur- wissenschaftlich-mathematischen Unterrichts an den Schulen geführt. Dazu zählen der integrierte (fächerverbindende) naturwissenschaftliche Unterricht, problemorientiertes Lernen, eine stärkere Berücksichtigung von Alltags- und Lebensweltbezug und konstruktivistische Lernumgebungen sowie eine Orien- tierung an Kompetenzen, die in Bildungsstandards beschrieben sind.
Als unterstützende Maßnahmen sind einige länderübergreifende Bildungs- programme zu erwähnen, die zur Qualitätsentwicklung des naturwissenschaft- lichen Unterrichts beitragen, indem sie die Reform von Lehren und Lernen in den Schulen sowie deren Vernetzung fokussieren. Sie sehen in ihrer Konzeption vor, dass die Lernenden ihr Wissen selbst konstruieren und dieses Wissen situ- iert63 erwerben.
Auch einige Schulen in Brandenburg und Berlin profitieren von den länder- übergreifenden Programmen. Zu ihnen zählen:
SINUS (Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen
■
Unterrichts) bzw. SINUS-Transfer und SINUS-Transfer Grundschule: 120 teil- nehmende Schulen in Berlin, 82 in Brandenburg,64
Chemie im Kontext (ChiK): 15 teilnehmende Schulen in Berlin, elf in Bran-
■
denburg,65
Physik im Kontext (piko): sieben Berliner Schulen (Sekundarstufe I), 15 Bran-
■
denburger Schulen (Klassenstufe 5 – 7),66 Biologie im Kontext (bik): neun Berliner Schulen.
■ 67
Weitere Initiativen zur Verbesserung des naturwissenschaftlich-technischen Unterricht sind die des Vereins MINT-EC (Förderung von sieben Berliner und 60
Vgl. European Commission 2004, S. 150.
61
Vgl. European Commission 2004, S. 118.
62
Vgl. KMK 2009, S. 5.
63
Situiertes Lernen ist anwendungs- bezogen, lebensweltlich orientiert, selbstgesteuert. Es impliziert die aktive Beteiligung der Lernenden.
64
Vgl. URL: http://sinus-transfer.uni- bayreuth.de/laender/ueberblick.html [Stand 30.09.2009].
65
Vgl. URL: http://www.chik.de/index2.htm [Stand 30.09.2009].
66
Vgl. URL: http://www.uni-kiel.de/
piko/?topic=24 [Stand 30.09.2009].
67
Vgl. URL: http://bik.ipn.uni-kiel.
de/typo3/index.php?id=39 [Stand 30.09.2009].