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20. Februar 2015D
as Thema Seltene Erkran- kungen ist auf der gesund- heitspolitischen Tagesordnung. So hat das Bundesministerium für Ge- sundheit (BMG) im Jahr 2010 ge- meinsam mit dem Bundesministeri- um für Bildung und Forschung und der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) das Natio- nale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAM- SE) initiiert (1). Der Nationale Ak- tionsplan wurde am 28. August 2013 veröffentlicht. Er enthält 52 Maßnahmenvorschläge zur Verbes- serung der gesundheitlichen Situati- on von Menschen mit seltenen Er- krankungen. Der Maßnahmenkata- log beinhaltet auch den Aspekt der Entwicklung von Kriterien zur Be- wertung und Auswertung von Stu- dien mit geringer Teilnehmerzahl.Hierzu wurde das Institut für Quali- tät und Wirtschaftlichkeit im Ge- sundheitswesen (IQWiG) mit einem
entsprechenden Rapid Re- port beauftragt (2).
Die Kriterien zur Definition sel- tener Erkrankungen sind uneinheit- lich (3). Die in Europa gebräuch- lichste Definition spricht von einer seltenen Erkrankung bei fünf oder weniger Betroffenen pro 10 000 Einwohnern (4). Eine Erkrankung mit einer Prävalenz von weniger als zwei Betroffenen auf 100 000 Ein- wohnern wird als sehr selten ein - gestuft (5, 6). Bei circa 7 000 bis 8 000 der rund 30 000 bekannten Krankheiten wird angenommen, dass sie im Sinne der obigen Defi- nition als selten anzusehen sind.
Die Durchführung aussagekräfti- ger Studien zur Bewertung von In- terventionen bei seltenen Erkran- kungen stellt aufgrund der geringen Anzahl Betroffener und somit po- tenzieller Studienteilnehmer eine besondere Herausforderung dar.
Das Ziel einer unverzerrten Schät- zung des Behandlungseffekts gilt aber in kleinen wie in großen Studi- en gleichermaßen. Grundsätzlich gelten methodische Grundprinzi- pien und statistische Verfahren zur Planung und Auswertung klinischer Studien bei seltenen Erkrankungen in gleicher Weise wie bei Studien mit gro-
ßen Fallzahlen (7). Im Wesentli- chen bestimmen vier Komponenten die Aussagesicherheit einer Studie:
die interne Validität (Verzerrungs- potenzial), die externe Validität (Anwendbarkeit), die Effektstärke und die Präzision der Ergebnisse.
Randomisierte Studien
Grundsätzlich ist die randomisierte kontrollierte Studie (RCT) auch bei seltenen Erkrankungen der Gold- standard für die Bewertung von In- terventionen (8, 9). Das Verzer- rungspotenzial kann durch die Ran- domisierung in Verbindung mit Doppelblindheit und dem soge- nannten Intention-to-Treat-Prinzip minimiert und somit die interne Va- lidität maximiert werden. Alternati- ven zur Randomisierung, um mit gleicher Sicherheit eine Struktur- gleichheit der betrachteten Behand- lungsgruppen zu erreichen, sind derzeit nicht bekannt.
Dennoch werden mitunter Argu- mente gegen randomisierte kontrol- lierte Studien vorgebracht, die die praktische Durchführbarkeit, häufig wegen nicht näher spezifizierter ethischer Bedenken oder logisti- scher Probleme, betreffen. In der Tat kann es bei sehr seltenen Erkrankungen problematisch sein,
bei erwarteten geringen bis mä- ßigen Effektstärken aus- SELTENE ERKRANKUNGEN
Randomisierte kontrollierte Studien auch hier der Goldstandard
Empirische Daten zu Zulassungen von Orphan Drugs belegen, dass RCT auch bei seltenen Erkrankungen grundsätzlich durchführbar sind.
Ulrich Grouven, Ulrich Siering, Ralf Bender, Volker Vervölgyi, Stefan Lange
Foto: Fotolia/psdesign1
Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Köln: PD Dr.
rer. biol. hum. Grouven, Dr. rer. medic. Siering, Prof. Dr. rer. biol.
hum. Bender, Dr. med. vet. Vervölgyi, PD Dr. med. Stefan Lange
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20. Februar 2015 A 327 reichend viele Probanden für eineStudie zu patientenrelevanten End- punkten zu gewinnen, die mit hin- reichender Sicherheit gewährleistet, dass ein vorhandener Effekt auch wirklich aufgedeckt wird. Dies gilt aber grundsätzlich nicht nur für RCT, sondern auch für alle anderen Studien (3). Ethisch zweifelhaft ist eine kontrollierte Studie tatsächlich dann, wenn der Nutzen einer Inter- vention in einer bestimmten Indika- tion bereits als belegt gelten kann.
In diesem Fall erübrigen sich aber Studien mit dem Ziel des Erkennt- nisgewinns im Hinblick auf die Fra- ge nach dem Nutzen oder Zusatz- nutzen ohnehin – und zwar nicht nur bei seltenen Erkrankungen.
Bei der Bewertung medizini- scher Interventionen bei seltenen Erkrankungen ist es naheliegend, nach Möglichkeiten zu suchen, die genannten Beschränkungen im Hinblick auf die Präzision der Stu- dienergebnisse durch optimierte statistische Verfahren so weit wie möglich auszugleichen. In den Leit- linien der Zulassungsbehörden und in der Literatur werden diverse me- thodische Ansätze speziell für ran- domisierte kontrollierte Studien zur Untersuchung seltener Erkrankun- gen vorgeschlagen und diskutiert (7–20). Diese zielen darauf ab, die vorhandenen eingeschränkten In- formationen möglichst effizient zu nutzen, das heißt, die Präzision der Ergebnisse zu optimieren.
Nicht randomisierte Studien ber- gen inhärent erhebliche Einschrän- kungen bei der internen Validität.
Gegenwärtig ist keine Methode be- kannt, die in suffizienter Weise diese Einschränkungen aufheben könnte. Je nach Grund für einen eventuellen Verzicht auf eine Ran- domisierung ergeben sich unmittel- bare Konsequenzen für ersatzweise nicht randomisierte Studien. Wer- den ethische Bedenken geltend ge- macht, verbieten sich jegliche pa- rallel vergleichenden Studien, und es verbleiben im Prinzip nur noch historische Kontrollen.
Historisch kontrollierte Studien stehen in den gängigen Evidenzhie- rarchien weit unten. Neben den üb- lichen Verzerrungsmöglichkeiten (z. B. Selektionsbias) kommt hier
als weitere Störgröße der Faktor Zeit dazu. Ergebnisse aus historisch kontrollierten Studien lassen Aus- sagen im Sinne eines Interventions- effektes nur zu, wenn ein „dramati- scher Effekt“, das heißt eine (nahe- zu) Umkehr eines quasi determinis- tischen Verlaufs beobachtet wurde.
Von prospektiv geplanten Inter- ventionsstudien lassen sich Beob- achtungsstudien abgrenzen, deren Aussagekraft in den gängigen Evi- denzhierarchien den randomisierten und nicht randomisierten Interven- tionsstudien nachgeordnet ist.
Optimierung der Aussagekraft Sind wegen besonders geringer Teilnehmerzahlen bei sehr seltenen Erkrankungen Kompromisse bei der Aussagesicherheit unvermeid- lich, so ist dies auf verschiedenen Ebenen denkbar. Dabei ist eine An- hebung des statistischen Irrtumsni- veaus für regulative Entscheidun- gen, zum Beispiel von den üblichen fünf Prozent auf zehn Prozent, einer Einschränkung der externen oder gar der internen Validität der Studi- en vorzuziehen. Der Vorteil einer solchen Vorgehensweise ist es, den in Kauf genommenen Anstieg der Irrtumswahrscheinlichkeit zumin- dest quantifizieren zu können.
In absteigender Priorität ist auch die Hinnahme von Einschränkun- gen der externen Validität, das heißt der Übertragbarkeit der Studiener- gebnisse, denkbar, zum Beispiel
durch den Einbezug von Daten aus ähnlichen Indikationsgebieten.
Ein Verzicht auf eine Randomi- sierung stünde in einem solchen hierarchischen Vorgehen an letzter Stelle. Wesentliche Voraussetzung, um entsprechende Daten für (regu- latorische) Entscheidungen nutzen zu können, wäre, dass der natürli- che Verlauf der Erkrankung ausrei- chend klar und verstanden ist (18) und die Daten aus qualitativ hoch- wertigen Krankheitsregistern stam- men oder ein derartig ausgeprägter beobachteter Unterschied (d. h. eine sehr große Effektstärke) vorliegt, der nicht mehr allein durch Bias er- klärbar ist („dramatischer Effekt“).
Um zu untersuchen, welche Stu- diendesigns und Studiencharakteris- tika bei seltenen Erkrankungen zum Einsatz kommen, wurde eine empi- rische Untersuchung der Studien- grundlage für die Zulassung von Orphan Drugs durch die europäische Arzneimittelagentur (EMA) durch- geführt. Es wurden 85 Arzneimittel mit europäischer Orphan Drug Designation und europäischer Markt- zulassung von 2001 bis 2013 identi- fiziert. 58 der 85 Arzneimittel (68 Pro- zent) dienen der Behandlung selte- ner, 27 Arzneimittel (32 Prozent) der Behandlung sehr seltener Erkran- kungen (Tabelle).
Bei sechs Orphan Drugs (7 Pro- zent) basierte die Zulassung auf Er- gebnissen von Studien, die nicht explizit für die Zulassung konzi- TABELLE
Charakteristika der zugelassenen 85 Orphan Drugs
a zeitlich begrenzte Zulassung vorbehaltlich der Vorlage weiterer klinisch relevanter Daten
b umfassende Daten sind nicht verfügbar und können auch in Zukunft nicht bereitgestellt werden Zulassung
ohne Einschränkung bedingta
außergewöhnliche Umständeb Status
Rücknahme der Orphan Drug Designation Marktrücknahme
keine Änderung
Studiengrundlage der Zulassung mit RCT
ohne RCT Literaturreview
Erkrankung [n (%)]
selten (N=58)
37 (63,8) 6 (10,3) 15 (25,9)
8 (13,8) 3 (5,2) 47 (81,0)
42 (72,4) 14 (24,1) 2 (3,4)
sehr selten (N=27)
17 (63,0) 1 (3,7) 9 (33,3)
6 (22,2) 1 (3,7) 20 (74,1)
17 (63,0) 6 (22,2) 4 (14,8)
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20. Februar 2015 piert und durchgeführt wurden,sondern im Rahmen eines Literatur- reviews identifiziert wurden. Bei zwei der sechs Literaturreviews wa- ren RCT enthalten. Die Zulassung beruhte auf jeweils einer bis fünf Hauptstudien. Bei sehr seltenen Er- krankungen waren maximal drei Studien Basis für die Zulassung.
Der Anteil von Zulassungen basie- rend auf Daten aus RCT betrug etwa 75 Prozent. Die Patientenanzahl der Zulassungsstudien pro Arzneimittel betrug zwischen 27 und 2 961 Pa- tienten (Median 165). Etwa 70 Pro- zent aller Patienten wurden in RCT behandelt. Bei 66 Arzneimitteln (84 Prozent) wurden patientenrele- vante Endpunkte in den Studien be- rücksichtigt (bei 31 Orphan Drugs als primärer, bei 57 als sekundärer Endpunkt – bei 22 somit sowohl als primärer als auch als sekundärer Endpunkt). Der Großteil der Studi- en wurde multizentrisch, -national und -kontinental durchgeführt. In
der Mehrzahl der Fälle zeigten sich keine auffälligen Unterschiede zwi- schen seltenen und sehr seltenen Er- krankungen in den dargestellten Studiencharakteristika. Sieht man von varianzreduzierenden Designs ab, die ohnehin einen gefestigten Stellenwert im Rahmen von klini- schen Studien haben, wurden darü- ber hinausgehende spezifische De- signs, die häufig in der Literatur bei der Diskussion um klinische Studien bei seltenen Erkrankungen angeführt werden (z. B. adaptive Designs), kaum eingesetzt. Weitere Ergebnisse finden sich im Rapid Report des IQWiG (2).
Aus wissenschaftlicher Sicht ist eine unterschiedliche Herangehens- weise bei der Bewertung von medi- zinischen Interventionen für seltene und nicht seltene Erkrankungen nicht begründbar. Dies gilt in glei- cher Weise für medikamentöse wie für nichtmedikamentöse Interven- tionen. Zulassungen und Zulas- sungsstudien für Orphan Drugs ba- sieren zu einem großen Teil, auch bei sehr seltenen Erkrankungen, auf
konventionellen randomisierten Designs, sodass die grundsätzliche Machbarkeit nicht infrage steht.
Dabei ist es notwendig, ein mög- lichst effizientes methodisches Vor- gehen zu wählen und dabei auch ef- fiziente Strukturen zu schaffen. In- teressant ist, dass bei den im vorlie- genden Report untersuchten Or - phan Drugs spezielle Designs von RCT – sieht man von üblichen vari- anzreduzierenden Designs ab – kaum eingesetzt wurden. Hier sind insbesondere adaptive Designs zu nennen, die gegenwärtig unter an- derem im Fokus von Zulassungsbe- hörden stehen (11, 12). Dies könnte sich in Zukunft ändern: Kürzlich wurde ein Überblick über wissen- schaftliche Beratungen der EMA veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass in den vergangenen Jahren Be- ratungsanfragen zum Einsatz von adaptiven Designs deutlich zuge- nommen haben. Der Anteil von Arzneimitteln mit einer Orphan
Drug Designation betrug dabei ein gutes Drittel (21), was umgekehrt bedeutet, dass solche Designs eben nicht allein für seltene Erkrankun- gen eingesetzt werden (können), sondern zu dem „normalen“ Portfo- lio an möglichen Studiendesigns gehören. Über diese methodischen Überlegungen hinaus kann es erfor- derlich sein, neben dem Eingehen von Kompromissen bei der Aussa- gesicherheit, wie zum Beispiel das Heraufsetzen des Signifikanzni- veaus, auch Aspekte zu berücksich- tigen, die auf externen (politischen) Vorgaben beruhen.
Im Rahmen des Arzneimittel- marktneuordnungsgesetzes (AM- NOG) hat der Gesetzgeber in Deutschland politische Vorgaben gemacht, indem der Zusatznutzen von Arzneimitteln für die Behand- lung seltener Erkrankungen (Or - phan Drugs) qua Zulassung als be- legt gilt. Dies gilt allerdings nur so lange, wie der Umsatz eines sol- chen Arzneimittels mit der gesetzli- chen Krankenversicherung inner- halb eines Zeitraums von zwölf Ka-
lendermonaten einen Betrag von 50 Millionen Euro nicht übersteigt.
Hier findet sich in der Begründung einerseits das inhaltliche Argument, dass regelhaft davon auszugehen ist, dass es keine therapeutisch gleichwertige Behandlungsalterna- tive gibt. Andererseits ist in der Be- gründung auch die politische Vor- gabe erkennbar, indem der Zusatz- nutzen am Umsatz des Arzneimit- tels festgemacht wird. Wissen- schaftlich ist es jedoch nicht zu be- gründen, warum inhaltliche Krite- rien bei der Nutzenbewertung ab einem gewissen Umsatzvolumen nicht mehr zutreffen sollten.
Mit abnehmender Häufigkeit der Erkrankung wird es zunehmend schwieriger, ergebnissichere Daten zu generieren. Für die klinische, pa- tientenorientierte Erforschung sel- tener Erkrankungen ist es daher be- sonders notwendig, vernetzte, über- regionale und supranationale Struk- turen zu schaffen. Dabei nehmen Krankheitsregister eine zentrale Rolle ein. Solche Krankheitsregis- ter müssen klaren Qualitätskriterien bezüglich Vollständigkeit und Voll- zähligkeit genügen, um als Basis für hochwertige, klinische, vor al- lem nicht randomisierte Studien dienen zu können (9, 19, 22, 23).
Auch bei Studien zu seltenen Er- krankungen besteht keine grund- sätzliche Notwendigkeit, auf hoch- wertige Studiendesigns zu verzich- ten. Bei einem Großteil der Zulas- sungen von Medikamenten zur Be- handlung seltener Erkrankungen kommen RCT zum Einsatz. Durch den gezielten Einsatz effizienter Verfahren bei Planung und Auswer- tung lassen sich Qualität und Aus- sagekraft von Studien bei seltenen Erkrankungen weiter verbessern.
█Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2015; 112(8): A 326–8
Anschrift für die Verfasser PD Dr. Ulrich Grouven Ressort Medizinische Biometrie Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) Im Mediapark 8
D-50670 Köln
E-Mail: ulrich.grouven@iqwig.de