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Archiv "Psychoanalytiker im Nationalsozialismus: „Durchschnittliche Deutsche“" (14.06.2002)

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istorisch betrachtet ist die dies- jährige Jahrestagung der Deut- schen Psychoanalytischen Gesell- schaft e.V. (DPG) in Berlin von beson- derer Bedeutung. Die Tagung ist die er- ste nach der Wiederaufnahme der Fach- gesellschaft in die Internationale Psy- choanalytische Vereinigung (IPA: Inter- national Psychoanalytical Association), London, der mit mehr als 10 000 Mit- gliedern weltweit größten Organisation der Psychoanalytiker. Nach mehr als 50-jähriger Trennung wurde die DPG im Juli 2001 zunächst wieder als provi- sorisches Mitglied (Executive Council Provisional Society) in der IPA aufge- nommen. Dabei war die DPG, die 1910 von Karl Abraham als Berliner Psycho- analytische Vereinigung (1926 in DPG umbenannt) gegründet wurde, die erste Ortsgruppe der von Sigmund Freud in- itierten Internationalen Psychoanalyti- schen Vereinigung (IPV; nach dem Krieg in IPA umbenannt). „Berlin ist ein schwieriger, aber bedeutungsvoller Boden . . .“ hatte Freud damals (24. Au- gust 1908) zu seinem Protegé Abraham gesagt, noch nicht ahnend, was auf die überwiegend jüdische psychoanalyti- sche Gemeinschaft zukommen würde.

94 Jahre später führt Dr. phil. Regine Lockot, die seit den 70er-Jahren zum Thema Psychoanalyse und Nationalso- zialismus forscht, einen Teil der Ta- gungsteilnehmer auf den Spuren der Psychoanalyse durch Berlin, dem da- maligen Zentrum der Psychoanalyse in Deutschland. Die Tagung vom 8. bis 12.

Mai, mit dem bezeichnenden Motto

„Fort – Da, Trennen und Verbinden im psychoanalytischen Prozess“, war mit rund 500 Teilnehmern außergewöhn- lich gut besucht. Offensichtlich hono- rierten die Besucher die Entscheidung der DPG, mit internationalen Referen-

ten zu unterstreichen, wieder offen für international anerkannte Ansätze zu sein.

Irritierend wirkte allerdings, dass die Frühjahrstagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) in Leipzig und die Jahrestagung der DPG in Berlin zur gleichen Zeit statt- fanden. Denn eigentlich befinden sich die beiden Fachgesellschaften nach jahrzehntelanger Trennung wieder auf dem Weg der Annäherung. Dies sei ein Koordinierungsproblem gewesen, kei- ne Absicht, erklärt der Vorsitzende der DPG, Prof. Dr. phil. Franz Wellendorf.

Wie es zur Trennung der Fachgesell- schaften kam und warum die DPG erst jetzt wieder in die

internationale psycho- analytische Gemein- schaft aufgenommen wurde, hängt unmit- telbar mit der deut- schen Geschichte zu- sammen.

Berlin entwickel- te sich – neben Wien und Budapest – bis zur Machtergrei- fung der National- sozialisten 1933 zu einer „Hochburg“

der Psychoanalyse.

Unter dem NS-Regime mussten die Psychoanalytiker immer restriktivere Einschränkungen hinnehmen, denn die Psychoanalyse galt als „jüdische“ Wis- senschaft; ihre Lehre wurde als zerset- zend und staatsbedrohend angesehen.

Freuds Werke wurden verbrannt. Die antisemitische Gesetzgebung forderte die Auflösung der DPG oder deren

„Arisierung“. Das führte in der DPG zu einem „zerstörerischen Prozess der Ausgrenzung der jüdischen Analyti-

ker“, berichtet die Psychoanalytikerin Lockot. Die jüdischen Mitglieder wur- den dazu gedrängt, die Gesellschaft zu verlassen, und mussten fliehen. Das ge- lang nicht allen – einige wurden von den Nazis ermordet. 1936 schlossen sich die verbliebenen Psychotherapeuten in Berlin zum Deutschen Institut für psy- chologische Forschung und Psychothe- rapie zusammen und baten Matthias Heinrich Göring, einen Nervenarzt und Vetter Hermann Görings, die Leitung zu übernehmen. Protegiert durch diese Leitung, mit dem Auftrag, die „Deut- sche Seelenheilkunde“ zu entwickeln, war das „Göring-Institut“ (mit den Zweigstellen in Düsseldorf, Wuppertal, Stuttgart, München und später Wien) die einzige Einrichtung in Deutschland, in der Psychotherapeuten ausgebildet wurden und organisiert sein mussten, wenn sie ihren Beruf ausüben wollten.

Von den 148 Institutsmitgliedern waren 42 Psychoanalytiker; in der NSDAP wa- ren davon 63 (zwei Psychoanalytiker).

Da selbst der Begriff „Psychoanaly- se“ verboten war, bezeichneten sich die verbliebenen Mitglieder der DPG (dar- unter Felix Boehm, Carl Müller-Braun- schweig und Harald Schultz-Hencke)

als „Arbeitsgruppe A“ innerhalb des Instituts. Mit den Kompromissen und Konzessionen hatte sich die DPG bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlt, „aber sie profitierte durchaus von der Ni- schenexistenz, die ihr durch das Göring- Institut und die damit verbundenen Pri- vilegien zukam“, urteilt Lockot.

Bis zur Vereinnahmung der psycho- analytischen Einrichtungen in Wien vollzogen die deutschen Psychoanalyti- ker diesen Spagat, dann misstrauten die Aus dem

Brief des Reichsärzteführers

Gerhard Wagner an Matthias Heinrich Göring,

den Leiter des „Deutschen Instituts für Psychologische Forschung und Psychotherapie“, vom 28. Oktober 1933 Quelle: Bundesarchiv, Berlin

T H E M E N D E R Z E I T

A

A1646 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 24½½½½14. Juni 2002

Psychoanalytiker im Nationalsozialismus

„Durchschnittliche Deutsche“

Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft wurde erst vor

kurzem wieder von der Internationalen Psychoanalytischen

Vereinigung aufgenommen. Der Grund für die Trennung war

das Verhalten der Fachgesellschaft während der NS-Diktatur.

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Nazis ihren Vertretern. Die beiden Vor- sitzenden Boehm und Müller-Braun- schweig wurden mit Berufsverbot be- legt. 1938 musste sich die DPG offiziell auflösen, womit auch die Mitgliedschaft in der Internationalen Psychoanalyti- schen Vereinigung erlosch. Bereits 1936 war die DPG jedoch aus der IPV ausge- treten, in Abhängigkeit von den wider- sprüchlichen Forderungen der Behör- den – was sie kurz darauf wieder rück- gängig machte. Die Hoffnung, sich mit den Nationalsozialisten arrangieren zu können, wurde endgültig nach der Hinrichtung des Institutsmitglieds John Rittmeister, der der psychoanalytischen Gruppe nahe stand, aufgegeben – er gehörte der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ an.

Hoffnungsvolle Anpassung

Der heutige Vorsitzende, Wellendorf, spricht von einer „Anpassung der da- maligen Psychoanalytiker an das NS- Regime in der Hoffnung, auf diese Wei- se die Psychoanalyse und die DPG ret- ten zu können“. Regine Lockot will nicht über deren Motive urteilen– letzt- lich waren die in Deutschland geblie- benen Psychoanalytiker „durchschnitt- liche Deutsche“.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Zerstörung des „Göring-Instituts“

gründete sich die DPG unter dem Na- men „Berliner Psychoanalytische Ge- sellschaft“ wieder. Carl Müller-Braun- schweig wurde erster Vorsitzender.

Grundlegende Unterschiede im Ver- ständnis von Psychoanalyse, die in der NS-Zeit latent geblieben waren, traten jetzt in den Vordergrund. Harald Schultz-Hencke hatte ungehindert sei- ne neo-analytische Position entwickeln können, da seine theoretischen Wider- sacher Deutschland hatten verlassen müssen. Er hatte eine Terminologie ge- schaffen – im Wesentlichen Freuds Theorie bereinigt um das Konzept der Übertragung und das der Sexualität – , die den Nazis nicht als anstößig galt.

Auf dem ersten internationalen psy- choanalytischen Kongress 1949 in Zürich diente die Kontroverse zwischen den „Neo-Analytikern“ um Schulz- Hencke und den freudianisch Ausge- richteten um Müller-Braunschweig als

Begründung, die DPG nicht wieder in die IPV aufzunehmen. Es gab aber auch

„Zweifel an der moralischen Integrität und der psychoanalytischen Identität“

derjenigen, die sich angepasst hatten, sagt Lockot. „Dabei spielten „Wut, tiefe Verletzungen und Enttäuschung“ eine Rolle. Auch seien die jüdischen Psycho- analytiker nicht sicher gewesen, keine Antisemiten vor sich zu haben, glaubt Wellendorf. Doch nichts von dem wur- de ausgesprochen, vordergründig ging es um die theoretische Kontroverse.

Da sich Müller-Braunschweig gegen Schultz-Hencke nicht durchsetzen konnte, gründete er mit einer kleinen Anhängerschaft 1950 die Deutsche Psy- choanalytische Vereinigung. Diese wur- de 1951 von der IPA aufgenommen – die DPG um Schultz-Hencke, mit dem Vorsitzenden Felix Boehm, stellte hin- gegen keinen Aufnahmeantrag mehr.

Das war der Beginn der jetzt über 50 Jahre währenden Spaltung der Psycho- analyse in Deutschland. DPG und DPV entwickelten sich schnell auseinander.

Lange spielte die Neo-Analyse eine zentrale Rolle in der DPG, wodurch sich die Gesellschaft zunehmend von der internationalen Entwicklung iso- lierte.

„Man drohte im Provinzialismus zu versinken und war auf dem Weg, die psychoanalytische Identität zu verlie- ren.“ So beschreibt Lockot, selbst DPG-Mitglied, den Prozess, der die Ge- sellschaft veranlasste, sich wieder um Aufnahme in die internationale Ge-

meinschaft zu bemühen. Eine Rolle ge- spielt habe auch der Generationen- wechsel innerhalb der Fachgesellschaft, sagt Wellendorf. Er räumt ein, dass sich die DPG, und auch die DPV, erst sehr spät mit ihrer NS-Vergangenheit aus- einander gesetzt haben. Ein Schritt in diese Richtung wurde Mitte der 90er- Jahre mithilfe der so genannten Naza- reth-Konferenzen unternommen: Im zweijährigen Rhythmus treffen sich dort Mitglieder der beiden Fachgesell- schaften mit israelischen Kollegen.

Erst in den letzten fünf Jahren näher- ten sich DPV und DPG, die beide je rund 700 Mitglieder haben, einander an. Die DPV habe die Aufnahme in die Internationale Psychoanalytische Ver- einigung maßgeblich unterstützt, be- tonte Wellendorf. Auf der berufspoli- tischen Ebene war von den Auseinan- dersetzungen der psychoanalytischen Fachgesellschaften wenig zu spüren ge- wesen. Seit 1949 sind DPV und DPG unter dem Dach der Deutschen Gesell- schaft für Psychoanalyse, Psychothera- pie, Psychosomatik und Tiefenpsycho- logie e.V. (DGPT), Hamburg, zusam- mengeschlossen. Hier habe sich der Zwist „wenig niedergeschlagen“, sagt Alf Gerlach, Vorsitzender der DGPT.

Er ist sich jedoch nicht sicher, ob dies vielleicht nur ein historischer Mythos ist – dies werde bald wissenschaftlich un-

tersucht. Petra Bühring

Gruppenfoto mit den wichtigsten Mitgliedern des Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie, Berlin; aufgenommen wahrscheinlich im April 1941 in der

Keithstraße 41 Foto: Regine Lockot

T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 24½½½½14. Juni 2002 AA1647

Das Literaturverzeichnis ist im Internet (www.aerzeblatt.

de) erhältlich.

Referenzen

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