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ORDNUNGEN DER

VIELFALT

INTEGRATION

Albrecht Koseborke * KasteLlatm im Hunsriick 1958

Seit 2001 Professor für deutsche Literatur und ALLgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. 2003 wurde er mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet. Er ist GründungsmitgLied des Konstanzer ExzeLLenzcLusters »KuLtureLLe GrundLagen von Integration«. !rn Herbst 2012 erschien sein Buch Wahrheit und Erfindung.

Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie.

lntegratio~von lat. integrare, •erneuern, ergänzen, wiederherstellen', bezeichnet soziologisch zum einen die Eingliederung eines Individuums in eine Gruppe bzw. die Einfügung einer Minorität in die Mehrheitsgesellschaft zum anderen auf allgemeinerem Niveau die (Wieder-)Herstellung sozialer Einheit im Ganzen. Von der Sozialintegration wird die Systemintegration unterschieden, die das Zusammenspiel gesellschaftlicher Teilsysteme betrifft.

Betül Durmazist Lehrerin an einer Förderschule im Ruhrgebiet mit hohem Migrantenan- teil. Ihr Engagement hat sie bundesweit bekannt gemacht. Ein Dokumentarfilm, der ihren Schulalltag begleitet, hält eine Szene aus dem Unterricht fest. >>Habt ihr denn schon mal was von dem Wort >Integration< gehört?« fragt die Lehrerin, Lind eine Schülerin antwortet: »Ja.

Das ist, wenn man andere ausschließt.« 1

f

In der Antwort der türkischen Schülerin schlägt sich ein Wissen darüber nieder, dass die Integrationsdebatte in Deutschland in einem zumeist fordernden, mitunter offen feindseli- gen Ton geführt wird. Das hängt nur zum Teil mit einer ainueilen Krisenstimmung und der Art, wie sie politisch zum Thema gemacht wird, zusammen. Auf den öffentlichen Diskurs wirken sich auch die vielfältigen Konnotationen aus, die der Integrationsbegriff in seiner über 100-jährigen Karriere aufgenommen und in sich gespeichert hat. So unscharf dieser Begriff ist- sowohl in der politischen Auseinandersetzung als auch in der sozialwissenschaft- liehen Theoriebildung seit den Tagen von Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies und Georg Simmel -, er antwortet praktisch in allen Verwendungen auf ein dahinter liegendes, oft unartikuliert bleibendes Bedrohungsszenario. Es ist eine allgegenwärtige, diffuse Angst vor Desintegration, die der Forderung nach Integration ihre emotionale Wirkung verleiht. In ihr sammelt sich die Erinnerung an viele, zum Teil wohl noch immer nicht bewältigte, Er- fahrungen der Moderne. Die Liste ist lang. Sie umfasst den Übergang von der agrikulrurel- len zur Industriegesellschafr, damit verbunden das Wachsrum der Srädre; den Siegeszug der kapitalistischen Wirtschaftsform und ihres Prinzips der rücksichtslosen Konkurrenz eines jeden gegen jeden; die Demokratie als eine auf Dissens und Parteiwesen beruhende Staats- form; andererseits die Schwächung der Demokratie; die Verstaatlichung von Sozialfunktio- nen, für die zuvor verwandtschaftliche oder lokale Solidarverbände zuständig waren; dann aber auch wieder den Rückzug des Staates aus derartigen FürsorgepAichten; den Machtzu- wachs suprastaatlicher Institutionen, Nerzwerke und Kartelle; wachsenden Medienkonsum und die dadurch hervorgerufene Sorge um den Bedeutungsschwund von Nahkommunika-

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Erschienen in: Das neue Deutschland : von Migration und Vielfalt; [ein Lesebuch]; das Buch erscheint anlässlich der Ausstellung "Das neue Deutschland. Von Migration und Vielfalt" im Deutschen Hygiene-Museum, 8. März bis 12. Oktober

2014 / hrsg. von Özkan Ezli ... - Konstanz : Konstanz Univ. Press, 2014. - S. 220-222. - ISBN 978-3-86253-032-8

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-277955

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rion, Intimität und Familiensinn. Nicht zu vergessen sind in diesem Katalog die kulturpes- simistischen Diagnosen, die in noch allgemeinerer Form den Verlust aller Gewissbeiren in der Moderne betrauern. Selbst wo eingeräumt wird, dass Modernisierungsprozesse zuweilen die Entstehung neuartiger sozialer Bindungen nach sich ziehen, überwiegt gewöhnlich die Verlust-die Gewinnrechnung, so dass am Ende ein Negativsaldo steht.

Explizit oder unausgesprochen läuft in der Integrationsdebatte ein Unbehagen an der Moderne mit, wobei sich allerdings das Zeitfenster ständig verschiebt- etwa wenn einschlä- gige Buchpublikationen schon im Titel suggerieren, Deutschland befinde sich gegenwärtig

>>auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft<<. 2 Der Begriff der Integration trägt das Versprechen eines Holismus in sich, das diejenigen, die ihn im Munde führen, fast automatisch zu Nostalgilcern macht- sowohl von der ursprünglichen Bedeutung des Wor- tes (Wiederherstellung eines integren Ganzen) als auch von seiner Verwendungsgeschichte her (Sehnsucht nach Überwindung der generellen Desintegrationstendenz der Moderne, angeblich im Gegensatz zu früheren Zeiten). Fast durchweg ist dabei der Diskurs der Integ- ration in letzter Instanz auf das jeweilige Staatswesen bezogen. Die Ausbildung einer hoch- gradig interdependenten Weltgesellschaft wird dagegen in der Öffentlichkeit hauptsächlich als Schwächung des innerstaatlichen Zusammenhalts thematisiert. Mit anderen Wortenf Gegenstand der Nostalgie ist der souveräne Territorialstaat, oder genauer: das Phantom- bild eines Staates, der von einer national geprägten, ethnisch und sprachlich homogenen Bürgerschaft mit gleichen religiös-kulturellen Voraussetzungen und einem hohen Grad an Konsens, zumal an wertbezogener Übereinstimmung, gebildet wird. Tatsächlich wurde erst im Nationalstaat des 19. und 20. Jahrhunderts kulturelle Homogenität als ein politisches Erfordernis wahrgenommen, während Gemeinwesen vormoderner, agrarischer Prägung die kulturellen Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen eher über-als unterbetonten. 3 Darin, die nationale Einheitsphantasie durch die Anwesenheit von Migranten im ei- genen Land beeinträchtigt zu sehen, besteht die populistische Versuchung, die der Integ- rationsdiskurs in sich birgt. Doch auch wo er, in seinen fremdenfeindlichen Reaktionen, aggressive Züge annimmt, ist er der Struktur des verwendeten Begriffs nach defensiv-Aus- druck einer vagen, als unüberschaubar empfundenen Gefahrenlage. Deshalb hat auch der Migranr, zumindest in der deutschen Integrationsdebatte, nur eine Gestalt: als Ankömmling, dem unzählige weitere folgen und der womöglich vorhat, auf Dauer zu bleiben. Dass auch eine andere Figuration denkbar ist, hat Dieter Thomä in einem instruktiven AufSatz darge- legt, der sich mit den Herrenlosen, den masterfess men, und damit einem weiter gefassten Verständnis von Migration beschäftigt.' Im Unterschied zum Gastarbeiter oder Asylbewer- ber ist der Herrenlose nicht nur jemand, der ankommt, oder genauer: dem die Ankunft verweigert wird. 5 Seine Gestalt ist vielmehr auch mit einem Szenario der »Abfahrt<< verbun- den, 6 weil er nämlich aus einer sich auflösenden Sozialordnung freigesetzt wurde: sei es im England des 16. und 17. Jahrhunderts, in dem eine Massenmigration einsetzte, die zu ersten Slums an den Rändern der Städte führte, 7 sei es in der dörflichen Gesellschaft des kolonialen Afrika oder heute in vielen Ländern der Dritten Welt. Der Sorge um Integration, die durch die Ankunft von Migranten in den Zielländern ausgelöst wird, sind im Begriff des her-

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renlosen Menschen also Desintegrationstendenzen in den Herkunftsregionen vorgeordnet.

Dies verändert nicht nur die diskursive Rahmung von Migrationsschicksalen, sondern hebt auch die Erörterung von Problemen der Integration/Desintegration von vornherein auf eine andere, nämlich auf die Ebene transnationaler Abhängigkeiten in Gestalt von Geld-, Waren- und Menschenströmen.

Über globale Interdependenzen, transnationale Netzwerke, diaspora communities und ihre spezifiseben Solidarformen hat sich inzwischen viel Wissen gesammelt. Man weiß, wel- che elementare Rolle dabei einerseits Familienloyalitäten und Herkunftsbindungen, ande- rerseits neue Arten von religiösen, massenmedialen, subkulturellen Fernvergemeinschaftun- gen spielen. All dies hat nur noch wenig mit Vorstellungen von territorialer Geschlossenheit und organischer Einheit eines politischen Körpers zu tun, wie sie noch lange durch die Ausläufer körperschaftlicher Denktraditionen in Europa bestimmt wurden. 8 Andererseits ist die Summe solcher Phänomene kaum unter dem Schlagwort >Desintegration< zusam- menzufassen. Viele dieser Vergemeinschaftungen sind - oft in Reaktion auf Armut und Marginalisierung- auf ihre Weise hochintegrativ. Genau das fällt ja in den Einwanderungs- regionen (Stichwort: Parallelgesellschaften) störend auf und führt potentiell zu Konflikten.

Das Problem ist also nicht ein von vielen Moderne-Kritikern beschworener, angeblich all- gegenwärtiger GesellschaftszerfalL Es ist viel genauer-und weniger apokalyptisch - zu be- schreiben als Strukturwandel und Verlagerung von Interdependenzen, die auf mittlere Sicht aus der Sphäre nationalstaatlicher Regulierungen und der zugehörigen kulturellen Reflexe hinausführen werden.

ANMERKUNGEN

http :1 /www. betuldurmaz. de/fernsehen/integration-in-gelsenkirchen (letzter Aufruf 1 .1 0. 2013).

2 Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Was hält die Gesellschaft zusammen? Auf dem Weg von der Konsens- zur Konf/iktgesellschaft, Frankfurt am Main 1997.

3 Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991.

4 Dieter Thomä, "Der Herrenlose. Gegenfigur zu Agambens homo sacer• - Leitfigur einer anderen Theorie der Moderne", in: OZPhil 52 (2004), S. 965-984.

5 ln Anlehnung an Thomä, ebd., S. 969.

6 Ebd.

7 So Thomä, ebd., S. 972 ff., unter Berufung auf Toynbee, Polanyi und andere Historiker der Industrialisierung.

8 Zur Geschichte solcher organizistischer Ganzheitsmodelle vgl. Albrecht Koseharke et al., Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt am Main 2007.

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